Transkulturelle Marmorausstellung „Metamorphic Resonance“ in der Toskana
- Geschrieben von Dagmar Reichardt -
Der Besuch der Ausstellung über die metamorphischen, d.h. in Wandlung begriffenen Bezüge zwischen dem handwerklich Menschlich-Allzu Menschlichen und der Welt der Maschinen, Roboter und Digitalisierung, rundum gehauen und gemeißelt in den edelsten aller Bausteine – den weißen Marmor aus Carrara – ist einen Abstecher während des Urlaubs im Süden allemal wert.
Nachdem sich am 1. Juli auf der „Digital Stone“-Konferenz ein kleiner, bunter Kreis von Eingeweihten – darunter Künstler, Architekten, Bildhauer, Dozenten, Forscher, Lehrer, Techniker, Hobby-Steinmetze und Studierende – in Pietrasanta, nahe Lucca eingefunden hatte und über die neuesten Methoden digitaler Objektherstellung informieren konnte, ist die Skulpturengalerie jetzt noch bis zum 31. Juli für das an den Formvarianten, Bearbeitungsweisen und kunstvollen „Sprachen“, die der Stein „spricht“, interessierte Publikum im „Ex-Marmi“-Saal in der Via Nazario Sauro 52 der Kleinstadt Pietrasanta – nur einen „Steinwurf“ von der toskanischen Meeresküste entfernt – täglich geöffnet: Eintritt frei.
Diesjährige Gäste im Rahmen des DSP 2017 sind die kosmopolitische Künstlerin Mia Castro, die die Kontraste zwischen Fragilität und Kraft, Leben und Tod oder Ying und Yang etwa durch die Kombination von Stein und Eisen oder, wie in ihrem Beitrag in Pietrasanta, die „Abwesenheit und Anwesenheit“ („Absence and presence – 現存と不在“) der transkulturellen Vermischung von Zeiten, Materialien, Kulturen, Sprachen und Religionen in Form des marmornen Schädels eines Weißen Tigers ausdrücken will, und der anerkannte italienische Bildhauer und ehemalige Stoffdesigner sowie Dozent an der renommierten Mailänder Brera-Akademie Bruno Luzzani, der ebenfalls mit unterschiedlichem Material – von Textilien über Holz bis hin zu Tuff- und Marmorstein – wie hier in seiner fließend-harten weißen Marmorarbeit „Come seta“ („Wie Seide“) arbeitet.
Die meisten der ausgestellten Skulpturen kombinieren neueste Techniken der 3D Visualisierung und von siebenarmigen Robotern ausgeführten Steinschneideprozesse mit traditionellen 2D Darstellungen – wie Bildern oder Videos – bzw. handwerklichem Einsatz menschlicher Muskelkraft im Umgang mit dem weltberühmten weißen Marmor aus Carrara und weiterem typischem Steinmaterial aus der Garfagnana-Gegend in der Toskana. Die künstlerischen Anliegen des „Digital Stone Project 2017“ widmen sich so unterschiedlichen Themen wie der Gefährdung der Arktis, der Märchenwelt von Hans Christian Andersen, dem Lachen bzw. clownesken und pikaresken Gegenstrategien zu einer als allzu hart empfundenen Realität, bis hin zu psychedelisch-orgiastischen Erfahrungswelten oder der synästhetischen Balance zwischen mit Hand modelliertem Steinmaterial und akustischen Reizen, ganz konkret dem dreifachen Fukushima-Kettenunfall von 2011 (Erdbeben – Tsunami – Nuklearkatastrophe) oder generell unbewussten Ängsten – etwa vor dem Kollaps der Natur – sowie immer wieder dem architektonischen Potenzial des Marmors.
Die meisten der beteiligten Künstler sind erfahrene Kosmopoliten, Weltreisende in Gedanken und im Leben, die aus den Vereinigten Staaten stammen und heute an Universitäten und Hochschulen lehren. Sie stellen ihre Werke international aus, sind u.a. in bedeutenden Sammlungen vertreten und produzieren auch digitale Skulpturen, deren Herstellungsverfahren sie im Rahmen des „Digital Stone“-Projekts perfektionieren, welches sie z.T. selbst mit verwalten, als gemeinnützige Organisation initiiert und 2005 in den USA gegründet haben. Zwei der insgesamt 14 Kernexponate zum Thema „Metamorphische Resonanzen“ haben dieses Jahr zwei Nicht-USA-Bürger beigesteuert und das Projekt durch folgende erwähnenswerte, völlig unterschiedliche Lebens- und Karrierestadien bezeichnende Arbeiten bereichert: Der 1960 in Montreal geborene James Carl, dessen künstlerische Tätigkeit ihn von Kanada in die USA bis hin nach China, Frankreich, Deutschland und Italien führte, ist heute Universitätsprofessor in Toronto. Carls Skulpturenbeitrag „Black Holes“ (dt. „Schwarze Löcher“) für die Ausstellung besteht aus einem Arbeitsmodell von einem größer konzipierten architektonischen Werk. Aus schwarzem, sog. “Nero Marquinia“-Marmor hat er eine gewöhnliche innere Rohroptik mit dem ungewöhnlichen, alternierenden Spiel vom Verstecken und Exponieren des Materials kombiniert, wie es in der chinesischen Gartenarchitektur üblich ist. „Black Holes“ vereint diese Erfahrungen im Blick des Betrachters zu einer stimmigen, z.T. an schwarze Gummireifen, z.T. an edle symmetrische Formkombinationen erinnernden Skulptur.
Die zweite nicht US-amerikanische Teilnehmerin an der Ausstellung – zählt man den Italiener Luzzani als Gast nicht hinzu – ist die asiatische Nachwuchskünstlerin Shayani Fernando, die derzeit als Doktorandin unter der Ägide der aus Deutschland stammenden Architektin Dagmar Reinhardt an der Universität von Sydney Themen rund um den Schwerpunkt „Maschine und Bogenfiguren im Kontext moderner Schürftechniken im Roboterbetrieb“ und dessen kreative Auswirkungen auf die Bereiche Design, Konstruktionstechnik und Architektur erforscht. Nachdem Fernando als bereits zugelassene Architektin und fortgeschrittene Architekturstudierende verschiedene Erfahrungen in Bari/Italien, Zürich, China, Lissabon, Chicago und Brasilien sammeln konnte, erhielt sie den „Young Caadria Award“ 2017 (CAADRIA = Computer-Aided Architectural Design Research in Asia) sowie ein Doktorandenstipendium des australischen Italianistenverbandes ACIS, welches ihr den Weg nach Italien und schließlich nach Pietrasanta ebnete. Getreu dem Forschungsschwerpunkt der in Hannover und Frankfurt a.M. ausgebildeten und jetzt von Sydney aus diverse innovative Design- und Architekturprojekte über ihre hessische Agentur koordinierende Expertin für Digitale Architektur in Theorie und Praxis, Dagmar Reinhardt, hat die aus Sri Lanka stammende junge Bildhauerin Shayani Fernando als „Metamorphische Resonanz“ einen „Gedrehten Bogen“ kreiert. Ihre Arbeit „Archi-Twist“ erkundet Strukturen autonomer Tragfähigkeit des Steins und überträgt Drehbewegungen von Kettenlinien und Seilkurven in eine aus drei verschiedenen Marmorqualitäten bestehende Bogenschwingung, die auf leichte Wellenbewegungen zurückgreift.
Mit Hilfe von High-Tech-Geräten, die allen Künstlern in Pietrasanta seitens des weltweit operierenden sowie in der Aus- und Weiterbildung vernetzten Industrieunternehmens „Autodesk“ im Rahmen des „Digital Stone Project“ (DSP) zur Verfügung gestellt werden, hat Fernando mit „Archi-Twist“ ein Werk geschaffen, das sowohl eine persönliche Zwischenetappe in ihrer jungen Künstlerinnen- und Wissenschaftskarriere als auch ein Sinnbild des DSP in zweifacher Hinsicht darstellen mag. Zum einen verfolgt das unter Mitwirkung von Pionieren, die den Einsatz digitaler Medien bei der kreativen Herstellung von Skulpturen seit über 25 Jahren erproben, gegründete DSP-Projekt das Ziel, hochtechnologische Steinschneidetechnik mit dem antiken toskanischen Steinmaterial, d.h. neueste Technologie mit innovativer Kunst aus Stein zu verbinden. Die erklärte Absicht ist es dabei, nachhaltige „Artist-in-Residence“-Programme, inklusive eines jährlichen Workshops, Symposiums und Ausstellungsformats zu veranstalten. Hiervon hat die junge Tamilin ganz offensichtlich profitiert.
Doch das DSP möchte nicht nur Künstlern neue Möglichkeiten des Arbeitens mit Stein, insbesondere in Kooperation mit dem vor Ort ansässigen und auf Steinschneiderei spezialisierten Technologie-Center und Industrieunternehmen „Garfagnana Innovazione“ mit seinen manuellen und mechanischen Geräten, roboter-gesteuerten Apparaturen für Fertigung und Scan-Arbeit sowie direkten Bezugsquellen weltweit bester Marmorqualität, und unter freier Verwendung besagter „Autodesk“ -Software anbieten.
Vielmehr möchten die Veranstalter ein Netzwerk von und für Künstler herstellen, die sowohl auf digitale als auch traditionelle Weise mit Stein arbeiten. Zum anderen also spannt Fernandos Ergebnis ihres einmonatigen Künstleraufenthalts in Pietrasanta, d.h. der „Archi Twist“ – wenngleich im symbolischen Sinn, visuell jedoch durchaus wortwörtlich sichtbar – einen „Bogen“ zwischen Kontinenten und Koordinaten, Kulturen und Künstlern: von den USA über Europa (Italien) bis hin nach Asien (Sri Lanka) und Australien (Sydney). Letztlich zielt das DSP mit seiner Ausstellungstätigkeit, Förderung der Kunst und deren interdisziplinären Implementierung in die Wirtschaftsindustrie und digitale Fertigungstechnologie darauf ab, Menschen – und gemeint sind hier sowohl professionelle Vertreter aus den Bereichen Design und Ingenieurwesen sowie Architekten oder Digitalkünstler, als auch das Publikum bzw. zu inspirierende Interessenten wie Studierende, besondere Liebhaber oder Bastler – dabei zu helfen, eine bessere Welt zu imaginieren, zu designen und zu erschaffen.
Das nunmehr vor zwölf Jahren in den USA begonnene „non-profit“-Technologieprojekt sprengt somit die einst vom DSP selbst formulierten Grenzen der Kollaboration, Innovation und Forschung. Längst produziert es weit mehr als nur dreidimensionale Kunstwerke mit Hilfe digitaler Technologie. Es unterstützt auch nicht nur Künstler oder im Bildungsbereich Tätige, sondern deutet darüber hinaus eine kommunikative Brücke an, die über die Kluft zwischen Industrie und Kultur führen kann. Oder, um mit Fernando zu sprechen, einen Bogen, der die Erfindungen von ursprünglich für die Raumfahrt- und Kraftfahrzeugindustrie entworfener Software und ebensolcher Maschinen mit deren Neuanwendung seitens Künstler, Designer und Architekten, die diese in den Dienst schöngeistiger und intellektueller Aufgaben der Kunst, Architektur und des Designs gestellt und somit quasi programmatisch, gleichzeitig aber völlig „frei“ zweckentfremdet haben, verknüpft.
Transkulturalität bedeutet nicht nur, jenseits der traditionellen Grenzen von Kulturen theoretisch zu denken, sondern immer auch transdisziplinär in der Praxis zu wirken. So verwundert es nicht, dass der nächste Meilenstein des DSP denn auch die Universität von Harvard ist: An der Graduate School of Design GSD in Boston werden demnächst am 4. November 2017 der Präsident des DSP Jon Isherwood, dessen Direktor Michael Rees sowie der Roboteringenieur Gabriel Ferri von der Firma „Garfagnana Innovazione“ mit einem Gruppenvortrag und Bildern über die Betriebsbereiche und Möglichkeiten der Oberflächenbehandlung von Marmor mit Hilfe von Robotern berichten. Der steinerne Finger Adams auf dem meisterlichen Fresko von Michelangelo (um 1508 bis 1512) in der Sixtinischen Kapelle neben dem römischen Petersdom trifft dann zwei Jahrtausende nach der Geburt von Jesus Christus im übertragenen Sinn auf den posthumanen Finger eines Roboters an einer Eliteuniversität in den USA.
Die Ausstellung „Metamorphic Resonance“ zeigt bis zum 31.7.2017
im „Ex-Marmi“-Saal, Via Nazario Sauro 52, Pietrasanta/Italien (bei Lucca in der Toskana) die künstlerischen Ergebnisse des Workshops „Digital Stone Project“ 2017 mit Themenschwerpunkt „Stone Carving in the Age of Digital Production“ (dt. „Die Steinschneiderei im Zeitalter digitaler Produktion“) und ist täglich geöffnet.
Eintritt frei.
Weitere Fotos und Informationen zur Ausstellung
- Workshop und Konferenzeinbettung der Ausstellung
- Übersicht aller an der Ausstellung beteiligten Künstler
- Technologische Neuerungen und kostenlose Tools von Autodesk
- Infos zum Projektrahmen der Ausstellung – „Digital Stone Project“ 2017
- Nächster Projekt-Event an der Harvard-Universität, Boston/USA (GSD – Graduate School of Design) am 4.11.2017
- Infos zur Design- und Architekturagentur mit Sitz in Frankfurt a.M. von Dr. Dagmar Reinhardt (Universität Sydney/ Australien)
- Tourismus-Infos zu Pietrasanta, Italien
Abbildungsnachweis:
Header: „Metamorphic Resonance“, Titelmotiv
Galerie:
01. Digital Stone Project. Quelle: www.garfagnanainnovazione.it https://www.garfagnanainnovazione.it/en/digital-stone-project-2017/gli-artisti
02. Mia Castro, „Absence and Presence (現存と不在)“ (59x33x23 cm, aus „Bianco Focolaccia“-Marmor)
03. Bruno Luzzani, „Come seta“ (70x70x22 cm, aus „Bianco Carrara“-Marmor)
04. James Carl, „Black Holes“ (55x43x23 cm, aus “Nero Marquinia”-Marmor, 2017)
05. Shayani Fernando, „Archi-Twist“ (56x66x14 cm, aus den 3 Marmor-Arten „Bianco Acquamarina“, „Venato Orto di Donna“ und „Bardiglio Imperiale“, 2017)
06. Digital Stone Project. Quelle: www.garfagnanainnovazione.it
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