Eine kraftvolle Mischung aus neu interpretierten ukrainischen Volksliedern und Modern Jazz– das ist das neue Album der ukrainischen Sängerin und gleichnamigen Band Ganna.
Als Stimme des Widerstands aus der Ukraine ist Gannas künstlerisches Schaffen gleichermaßen wunderschön wie herzergreifend.
So klingt „Home“ – das neue Album der Band GANNA um Sängerin und Bandleaderin Ganna Gryniva. Die gebürtige Ukrainerin kam 2002 im Alter von 13 Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland. Mit ihrer markanten, ausdrucksstarken Stimme nimmt sie uns mit auf sehr persönlich und politisch gefärbte Reise. „Ich bin in die Ukraine gereist, um landeskundliche Archive zu besuchen und um alte, traditionelle Lieder zu sammeln“, erklärt Gryniva und ergänzt: „Die Reise führte mich durch wunderschöne Berglandschaften in den Karpaten, in alte Kirchen, auf kleine, stimmungsvolle Musik-Festivals und zu besonderen Menschen.“
In Fasova, in der Nähe von Kiew, traf sie auf die Mitglieder des Barvinok-Chors – allesamt Frauen im Alter zwischen 70 und 80 Jahren. Dort nahm sie den Gesang zum Stück Halochka auf. „Es ist der Name eines Mädchens – der Kosename von Halyna. Ihre Geschichte hat mich tief berührt. Weil sie allein mit ihrer Mutter lebt und hart arbeiten muss. Das Stück strahlt viel Liebe, aber auch Traurigkeit aus. Starke Frauen sind ein fundamentaler Bestandteil der ukrainischen Kultur. Ich selbst bin auch mit starken Frauen aufgewachsen. So wie meine Mutter, die klassische Pianistin ist.“
Gryniva hat Philosophie an der Universität Leipzig und Jazzgesang an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar studiert. Sie ist die treibende Kraft in ihrem Quintett. Zum GANNA Ensemble gehören Musina Ebobissé (Saxofon), Povel Widestrand (Klavier), Tom Berkmann (Kontrabass) und Mathias Ruppnig (Schlagzeug). „Ich bin für Input offen und sorge dafür, dass jeder Raum zur Entfaltung hat – aber am Ende bin ich es, bei der die musikalischen Fäden zusammenlaufen und die die Kompositionen und Arrangements schreibt“, unterstreicht Gryniva, zollt ihren Bandkollegen aber gleichzeitig großen Respekt.
„Tom Berkmann kommt aus Deutschland, Mathias Ruppnig aus Österreich. Beide sind gute Freunde und es ist eine große Freude, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Mathias war von Anfang an Mitglied der Band und Tom ist einfach der großartigste und zuverlässigste Bassist der Welt. Povel ist Schwede. Ich liebe seinen Sound und sein Spiel.“ Eine Saxofonstimme in ihrem Quintett konnte sie sich lange Zeit nicht vorstellen. „Aber als ich Musina, der aus Frankreich kommt, hörte, war ich derartig überwältigt, dass ich ihn einfach einladen musste“, erinnert sich die Bandleaderin.
Obwohl die Bandmitglieder aus verschiedenen musikalischen Kulturen kommen, klingen die Stücke des Albums wie aus einem Guss. Zu hören etwa in Plyve Kacha – einem Lied, das 2013/14 während des Euromaidans international bekannt wurde. „Der damalige pro-russische Präsident hatte versprochen, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Letztlich verweigerte er aber seine Unterschrift und ließ stattdessen Scharfschützen auf die protestierende Menge schießen. Mehr als 120 Demonstranten verloren damals auf dem Maidan – dem zentralen Platz in Kiew – ihr Leben.“ So wurde Plyve Kacha zum Requiem für die Menschen, die ihr Leben für die Demokratie opferten. „In dem Stück geht es um einen jungen Mann, der in den Krieg ziehen soll und sich von seiner Mutter verabschiedet. Gleichzeitig entschuldigt er sich bei ihr für den Fall, dass er nicht zurückkehrt. Übersetzt bedeutet der Titel `Ein Entchen schwimmt auf der Theiß`.
Viele Volkslieder der Ukraine beginnen mit Szenen aus der Natur“, erklärt Gryniva.
Während ihrer Reise durch die Karpaten lud ein Mann sie in sein Haus ein, in dem er ihr Spivanka vorsang. „Es besteht aus einer sehr einfachen Melodie, zu der unzählige verschiedene Texte kursieren. In seinem ging es darum, wie Gott die Frauen aus verschiedenen Zutaten erschuf – unter anderem aus Morgentau, Krokodilen und Stürmen. Letztlich aus allen Elementen des Universums und einem kleinen Teil von ihm selbst. Es hat mich viel Zeit gekostet, alles originalgetreu in meine harmonische und klangliche Welt zu transferieren“, so Gryvina.
In einem Dorf in der Region Poltova traf die Komponistin zwei Sängerinnen des Folklore-Chors Drevo, die ihr Strokova vorsangen. Ein Stück, in dem viel Trauer und Schmerz mitschwingt und von zwei jungen Menschen erzählt, die von ihren Eltern zum Arbeiten in die Ferne geschickt werden, weil sie ihre Kinder nicht mehr finanzieren können. „Die jungen Leute waren darüber verärgert und sie vermissten ihre Heimat. Das Stück ist sehr traurig, aber es hilft auch, über die Trauer hinwegzukommen – fast wie eine Therapie. Und hochaktuell in Zeiten, in denen immer mehr Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, weil sie sich in der Fremde bessere Überlebenschancen erhoffen.“
Ähnlich ergreifend ist das Stück Kalyna. Bekannt wurde es, als es ein bewaffneter ukrainischer Soldat vor einer Kirche sang, nachdem Russland die Ukraine im Februar 2022 angegriffen hatte. Ursprünglich war es geschrieben worden, um mittelalterliche Bogenschützen motiviert zu halten. „Es geht um einen schiefen Baum in einem Tal, worüber die ganze Nation betrübt ist. Aber der Baum schafft es, gerade zu wachsen und die Menschen wieder glücklich zu machen. Dieses Lied hat einen starken Bezug zur Gegenwart. Denn in den ersten Wochen nach der Invasion dachte jeder, dass Russland die Ukraine überrennen würde. Doch unser Wille und unser Glauben waren stärker.“
Kolyskova ist ein berührendes Wiegenlied, bei dem sich Gryvina an die Geschichte eines Babys erinnert fühlt, das in Odessa bei einem russischen Raketenangriff getötet wurde. „Es lässt mich an die Kinder denken, die nie ein Schlaflied hören werden. Ich singe das Stück mit einer großen Portion Traurigkeit, aber auch mit Energie und Wut. Ich wurde schon gefragt, ob derartiges Singen die empfundenen Schmerzen lindern kann. Meine Antwort: nein, nur Waffen könnten das!“
In ihrer Wahlheimat Berlin hilft Gryvina Musikern und Künstlern aus der Ukraine, ihren Weg zu finden. Sie setzt sich sehr für die Unabhängigkeit der Ukraine und ihr kulturelles Erbe ein. Als Sängerin sucht sie ihre eigene Stimme nicht ausschließlich mit dem Werkzeugkasten der Musik, sondern verbindet auf raffinierte Weise verschiedene Sinneswelten vom Jazz über ukrainischen Folk bis hin zu klassischer und experimenteller Musik und Tanz.
Als Stimme des ukrainischen Widerstands ist ihr künstlerisches Schaffen gleichermaßen wunderschön wie herzergreifend. Oder – wie es Matthias Wegner auf Deutschlandfunk Kultur formulierte: „starke Stimme, starker Song“ – der sicherlich Spuren in der europäischen Jazzlandschaft hinterlassen wird.
Ganna: „Home”
Ganna Gryniva: Voice, Loops, Effekte, Komposition | Musina Ebobissé: Tenorsaxophon, Sopransaxophon | Povel Widestrand: Klavier | Tom Berkmann: Kontrabass | Mathias Ruppnig: Schlagzeug
Label: Berthold / Vertrieb: Cargo
EAN: 4250647322140
VÖ: 2.12.2022
Weitere Informationen (Homepage Ganna Gryniva)
YouTube-Video:
GANNA - Spivanka - Live at Theater in Delphi Berlin - Recorded for «Ethnonym» with NGO ALEM (6:54)
Tourdaten:
10. November 2022 GANNA Ensemble @ Ingolstadt Festival (DE)
11. November 2022 GANNA Solo @ PANDAwomen Festival Berlin (DE)
16. November 2022 GANNA Ensemble @ Literaturfest München (DE)
03. Februar 2023 GANNA Solo @ Kulturrat Bochum (DE)
04. Februar 2023 GANNA Solo @ Werkstatt / Gelsenkirchen (DE)
09. Februar 2023 GANNA Ensemble @ Konzerthaus Berlin (DE)
24. Februar 2023 GANNA Solo @ Literaturhaus Mannheim (DE)
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