Gibt es ein größeres Thema als die Wahrheit? Diesem Problem widmet sich das Buch des Marburger Philosophen Thomas Rolf „Über die Wahrheit“.
Die Frage nach der Wahrheit beschäftigt seit biblischen Zeiten die Menschen – „Spricht Pilatus zu jm / Was ist warheit“, heißt es im Johannes-Evangelium in Übersetzung und Rechtschreibung Martin Luthers –, aber es ist nicht unbedingt ein vorwiegend theologisches oder religiöses Problem, sondern eine, wenn nicht gar die zentrale Frage von Metaphysik und Erkenntnistheorie. Seiner Antwort nähert sich der Autor in insgesamt fünf Kapiteln auf eben diesem Boden, wobei er sich eng an die Überlegungen Nicolai Hartmanns anlehnt.
Weil Hartmann in diversen Einführungen in die Erkenntnistheorie gänzlich überschlagen, um nicht zu sagen totgeschwiegen wird, müssen wir einiges über die Philosophie dieses großen Mannes sagen. Neben Ernst Cassirer war er der zweite Meisterschüler von Paul Natorp, einer der beiden großen Gestalten des Marburger Neukantianismus – seinerzeit die führende Schule der Philosophie mindestens in Deutschland. 1921 stellte er sich mit seinen „Grundzügen einer Metaphysik der Erkenntnis“ gegen die idealistischen Positionen seiner Lehrer und vertrat anders als diese eine realistische Metaphysik, die sich schon in den Jahren zuvor in Aufsätzen angedeutet hatte und die er in den folgenden Jahrzehnten in umfangreichen Werken entfaltete.
Am Ende seines Lebens veröffentlichte er eine großartige Zusammenfassung seiner Philosophie, „Die Erkenntnis im Lichte der Philosophie“, die Thomas Rolf noch zusätzlich zu seiner eigenen Arbeit neu herausgegeben hat. Hartmann starb 1950, so dass seine Werke seit einigen Jahren gemeinfrei sind. Der de Gruyter-Verlag, dessen Hartmann-Ausgaben für lange, lange Jahre absurd teuer waren – sicherlich ein Grund der Vergessenheit dieses Philosophen –, hat seitdem einige wohlfeile Paperback-Ausgaben aufgelegt – endlich! –, so dass heute auch für mittellose Philosophiestudenten keine Entschuldigung mehr gibt, falls sie sich immer noch nicht mit diesem Werk und anderen Büchern Hartmanns beschäftigt haben.
Nicht allein darin, dass der Autor sich der Philosophie Hartmanns verpflichtet fühlt – „Mein Essay atmet den Geist von Hartmanns Ontologie“ –, zeigt er sich dessen Werk verbunden, sondern zusätzlich darin, dass er „seine Bindung an das Alltägliche“ betont, eine „Brücke zur Alltagssprache“ schlägt oder verspricht, dass er auch „weiterhin der Weisheit des Alltagsverstandes“ folgen möchte. Der Ton ist also zurückhaltend, also weder aggressiv noch Metaphern-wütig, und setzt sich damit wohltuend ab von gewissen Modephilosophen (nein, ich meine jetzt nicht den „Jahrhundertphilosophen“ aus dem Fernsehen…). Das Buch wendet sich offensichtlich an ein breiteres Publikum, indem es jeden Jargon vermeidet, ruhig und schrittweise voranschreitet und seine Argumentation in einem angenehm nüchternen Stil vorträgt – auch darin scheint Hartmann Rolfs Vorbild. An keiner Stelle, falls ich nichts übersehen habe, ist dieses Buch polemisch.
Seine Kernthese lautet: „Das wesentliche Merkmal der Wahrheit besteht in der Beziehung des Zutreffens geistiger Gebilde – Aussagen, Vorstellungen oder Gedanken – auf die Wirklichkeit.“ Ist dieser Satz als eine Variante der Abbildtheorie zu verstehen? Diese ist weniger selbstverständlich oder harmlos, als man zunächst denkt, denn sonst hätten sich Philosophen nicht so lange und so erfolglos über die Definition der Wahrheit gestritten, nach der Wahrheit gegeben ist, wenn unsere Vorstellungen mit dem Ding übereinstimmen: „adaequatio rei et intellectus“. Das schien für lange Zeit das letzte Wort zu diesem Thema, aber heute bekennt sich kaum noch ein bekannter Philosoph zu dieser Definition. Denn wie könnte etwas Geistiges mit etwas Wirklichem übereinstimmen?
Paul Natorp (1854–1924), deutscher Philosoph und Pädagoge, Fotografie, um 1910. Unbekannter Fotograf. Gemeinfrei. Buchumschläge.
Natürlich weiß Thomas Rolf das alles, und so stellt er klar, dass er mit seiner Definition keine Übereinstimmung behauptet, sondern eine Relation meint – eine Relation zwischen einem geistigen Gebilde (dem Urteil) und der Wirklichkeit. Diese Relation ist das Problem. Worin besteht „die Bezogenheit des Geistes auf das Wirkliche“? Rolf arbeitet sich ein ganzes Buch lang daran ab, dieses „Zutreffen“ zu beschreiben, und kommt dabei immer wieder auf die Philosophie Hartmanns zu sprechen, gibt aber noch zusätzlich in Fußnoten Hinweise auf weiterführende Literatur anderer Autoren. Ganz offensichtlich ist es ihm vor allem darum zu tun, den Leser zu eigener Beschäftigung mit seinem Thema anzuregen. Und genau dafür eignet sich das Buch in ausgezeichneter Weise.
Gibt es Wahrheit auch im Plural? Das ist eine wichtige Frage, die Rolf behandelt, eine andere betrifft die Evidenz, deren Bedeutung für die Philosophie er eher skeptisch beurteilt. In einem eigenen Abschnitt schreibt er über die „Unverborgenheit“ – das ist die Übersetzung Heideggers der griechischen „Aletheia“. „Zumindest in ihrer elementaren Bedeutung ist Unverborgenheit an Wahrnehmungen gebunden. Und da die Wahrheit nichts Wahrnehmbares ist, wird man bei ihr, wenn überhaupt, an eine andere Art von Unverborgenheit denken müssen.“ Endlich geht es um das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit oder das von Subjektivität und Objektivität.
Wer wird widersprechen, wenn der Autor schreibt, dass das Wesen der Wahrheit in der „Trefflichkeit“ liege? Es geht um „Aussagen, Vorstellungen oder Gedanken“, aber eigentlich ist eigentlich immer nur von Aussagen die Rede, nicht von umfassenden Konzepten. Wie der Autor zeigt, scheint von dieser Position aus der Satz „Der Weg ist das Ziel“ absurd – aber ist er das immer noch, wenn wir die Einschränkung auf eine Aussage zurücknehmen und über ganze Erkenntnisgebilde und vielschrittige Prozesse nachdenken? Er wird von einer Position aus gesagt, der es vor allem auf abgeschlossene Erkenntnisvorgänge ankommt, wie sie in Urteilen vorliegen. Aber niemand hat entschiedener auf die prinzipielle Unlösbarkeit der metaphysischen Probleme bestanden als Nicolai Hartmann. Ihm selbst, so schreibt er wörtlich, „sind die Probleme vor allem heilig“. Seine aporetische Denkweise – von Aporie, der Sackgasse – kenne „keine Zwecke der Forschung neben der Verfolgung der Probleme selbst.“ Gegen diese Bedeutung der Probleme hat sich besonders die Philosophiegeschichtsschreibung von Kurt Flasch und Hans Blumenberg gewandt, denen es mehr auf das Historische ankam.
Hartmann wusste sich in diesem Punkt einig mit seinem Lehrer Paul Natorp, in dessen „Allgemeiner Psychologie“ von 1912 sich bereits ein Satz findet, den Hartmann als Motto über seine Philosophie hätte setzen können: es geht um „das Ziel, das die Richtung des unendlich fernen Weges“ bestimmt. Hier mag man einwenden, dass es eben das besondere Pathos der Zeit war – Husserl pflegte von der „Unendlichkeit der Aufgabe“ zu sprechen –, das das Selbstverständnis dieser Autoren bestimmt, aber es war trotzdem sehr ernstgemeint, als diese Philosophen sich so aussprachen. Schließlich bestimmte diese Einstellung auch ihre Sicht auf die Geschichte der Philosophie, deren Weg sie als eine Annäherung an die Wahrheit verstanden, die schlechterdings niemals erreicht werden könne. Natorp macht uns die Bedeutung seines Satzes für seine Philosophie deutlich, wenn er sich selbst aus einem früheren Buch zitiert. Er schreibt: „der Weg [ist] alles, das Ziel nichts“. Mit großer Beredsamkeit stellt der Lehrer Hartmanns, Ernst Cassirers und Hans-Georg Gadamers die Unendlichkeit des Erkenntnisprozesses heraus: „Ein erreichtes oder auch nur erreichbar gedachtes – das hieße: endliches – Ziel des Strebens, in dem das Bewusstsein überhaupt nur lebendig ist, würde diesem Streben selbst und damit eben dem Leben, der Seele, dem Bewusstsein ein Ende setzen, es vernichten.“
Das war auch die Position Nicolai Hartmanns. Der „ewige Marsch der Erkenntnis, den wir Erfahrung nennen“, heißt es in den „Grundzügen einer Metaphysik“, und wenn man sagt, daß der Weg das Ziel ist, dann heißt es nur, dass wir keinesfalls den Weg, der zur Wahrheit führt, abkürzen oder gar beenden wollen. Es kann nicht richtig sein, diesen Satz beim Wort zu nehmen.
Das ist aber nur ein peripherer Einwand. Insgesamt ist das Buch dank seines ruhigen Vortrages und seiner soliden und nicht-polemischen Argumentation sehr zu empfehlen.
Thomas Rolf: Über die Wahrheit. Philosophieren mit Nicolai Hartmann.
Verlag: BoD – Books on Demand 2024
268 Seiten
ISBN 978-3759777393
Weitere Informationen (Autor)
Leseprobe (Amazon)
Nicolai Hartmann: Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie.
Verlag: BoD – Books on Demand 2024.
130 Seiten
ISBN 978-3759778666
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