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Ein Anruf verändert ein Leben: Henry Kaplans Mutter liegt im Krankenhaus. Schlimmer noch. Sie liegt im Koma auf der Intensivstation. Eben noch war für Henry die Welt in Ordnung. Doch jetzt gerät alles in Unordnung und ins Wanken: Der geplante Kroatien-Urlaub, die aufgebaute Identität, die gedachte Vergangenheit.

Seit zehn Jahren hat Henry nichts mehr von seiner Mutter gehört. Er hatte „geglaubt (und, ja, gehofft), die Verbindung zwischen uns sei für immer abgerissen. Holte mich nun alles wieder ein? Die eigenen Wurzeln, das begriff ich plötzlich, lassen sich nicht kappen, so sehr man es auch versucht“. Henry bleibt nichts anderes übrig, als sich der Situation und somit auch der Vergangenheit zu stellen. Dies, um in Zukunft (gut) weiterleben zu können. Vielleicht mit einer neuen Identität, vielleicht mit einer neuen Vergangenheit.

 

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Am Anfang des neuen Romans von Peter Henning mit dem Titel „Bis du wieder gehst“ wird all das plötzlich in Frage gestellt, was sich Protagonist Henry Kaplan mühselig im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut hat. Was ist wahr? Was ist Lüge? Wie echt ist die Erinnerung? Wie täuschen wir uns selbst und andere? „Der Name „Kaplan“ ist jüdischer Herkunft und hat die Bedeutung „Tiger“. Was nicht heißen soll, ich sei ähnlich mutig wie die Raubkatze. Im Gegenteil!“ Soviel erfahren wir gleich zu Beginn des Buches über Henry. Unter seinen Mitschülern galt er als Schwächling. Und wenn seine Freundin Martha auf der Kirmes mit ihm eine rasante Fahrt im „Wagon Wheel“ machen möchte, kneift er regelmäßig. „Meine Stärken liegen woanders.“

 

Peter Henning Bis du wieder gehst COVERHenry ist Antiquar aus Liebe zu Büchern. Bücher sind eine seiner Stärken. Hier kennt er sich aus. Kann mit Zitaten glänzen. In seinem Lieblingsbuch „Der Fremde“ von Albert Camus steht der Satz „Man hat nur eine Mutter“. Ein Satz, der Henry allerdings nicht den geringsten Trost spendet und ihm keinerlei Stärke vermittelt. „Im Gegenteil. Er macht mir Angst.“ Eine andere Leidenschaft und Stärke sind seine Kenntnisse im Bereich der Natur, insbesondere der Schmetterlinge und Falter. Immer dann, wenn Henry sich ihnen widmet, im Buch davon erzählt wird, entfalten sich besonders schöne, lyrische Stellen.

 

Henry hat es nicht einfach gehabt. Nicht in der Kindheit, nicht in der Jugend, auch später als Erwachsener nicht. Trost spendeten ihm Begegnungen mit und Anblicke von Vögeln, Faltern und Schmetterlingen. Selten hingegen taten dies Menschen. Das hat seinen tiefen Grund: Wie soll ein Kind, ein Mensch, je vergessen, dass seine Mutter mit den Worten „Ich muss kurz weg“ verschwand und das Kind, „gerade mal vier Jahre alt, am Fenster auf der Couch stehend, mit ansah, wie sie unten in ein bereits wartendes Taxi stieg und davonfuhr.“ Für Henry bedeutete dies eine Kindheit im Heim. Erst viel später fand Henry heraus, seine Mutter nahm den Zug nach Ostende. „Den Zug in ein neues Leben[…]. Ein Leben ohne mich.“ Immer wieder versuchte Henry, auch, als er älter war, die Chronologie ihres Verschwindens zu rekonstruieren, den Grund für ihr Weggehen, für das Verlassen, zu finden. Es gelingt ihm nicht. Bis jetzt nicht. Und nun liegt seine Mutter im Koma, im Sterben.

 

Henry fährt mit dem Zug zum Wohnort der Mutter, zieht in ihre Wohnung ein, für sieben Tage, nicht länger, versichert er seiner Lebensgefährtin Martha. Die Reise nach Kroatien ist nicht gefährdet. So glaubt er wenigstens, so will er glauben. In der Wohnung der Mutter ist es heiß. Es ist Sommer. Es stinkt nach kaltem Zigarettenrauch. Beim Besuch der Mutter in der Klinik ist das Erste, was Henry registriert, „der Geruch, der von ihr ausging. Sie roch nach Kölnisch Wasser.“ Dabei hatte sie billiges Eau de Cologne gehasst. Sie liebte hingegen teure Parfums, „um ihre ohnehin vorhandene Wirkung auf Männer […] noch zu steigern.“

 

Allmählich findet – wenn auch durch einen Notfall, durch den nahenden Tod der Mutter geboren – eine Annäherung an die wahre Geschichte dieser beiden Menschen hinter der aufgebauten Fassade statt, reichen sich Leben und Tod, Mutter und Sohn, die versöhnende Hand. Wenn auch nicht in Wirklichkeit - wie es im richtigen Leben möglich sein sollte – so doch und immerhin in Gedanken. Jedenfalls ist das so auf der einen Seite, auf der Seite des Sohnes. Auf der anderen Seite ist nichts mehr möglich. Dort liegt einzig und allein eine sterbende Frau, die mehr als nur ohnmächtig ist und die nie mehr erwachen wird. Es ist also höchste Zeit für eine Versöhnung, es ist höchste Zeit zu verstehen und höchste Zeit zu verzeihen. Ob dies alles so oder so ähnlich oder ganz anders stattfindet, welche Schwierigkeiten es außer diesen noch zu überwinden gibt und welche Krankheiten noch zu heilen sind oder auch nicht, all dies ist Thema dieses Buches. Es ist sicher nicht falsch zu wissen, dass der Autor selbst Teile seiner Kindheit im Heim verbrachte.


Peter Henning: Bis du wieder gehst

Luchterhand Verlag 2022

192 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-630-87692-4

- Leseprobe

- Weitere Informationen (Homepage Verlag)

 

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