Heinrich Steinfest hat bisher mehr als 20 Romane veröffentlicht. Zweimal schon wurde der Autor für den Deutschen Buchpreises nominiert – davon einmal für die Shortlist – und mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.
Dass er Kriminalromane schreiben kann, hat Romanautor Steinfest also hinlänglich bewiesen. Nun spielt er erstmals in einer Novelle, in der „Amsterdamer Novelle“, mit kriminalistischen Motiven. In Lübeck stellte der Autor dieses vergnügliche und zugleich spannende, kurze und kurzweilige Buch in der Buchhandlung Hugendubel vor. So geschehen im Rahmen der diesjährigen LiteraTour Nord in Kooperation mit dem Buddenbrookhaus.
Birte Lipinski, Leiterin des Lübecker Buddenbrookhauses, warnte: „Was in der Amsterdamer Novelle passiert, ist alles andere als kuschelig.“ Steinfest entspreche mit diesem Buch durchaus Goethes Definition von einer Novelle: Erzählung einer unerhörten Begebenheit. Steinfests Novelle sei außerdem „eine unerhört gewagte Mischung“, so Birte Lipinski und geriet beinahe ins Schwärmen: „Ein Phänomen, wie wir es hier beschrieben sehen, habe ich in der deutschen Literatur noch nicht gelesen.“ Seit 1999 schreibe der Autor mindestens ein Buch pro Jahr. Bekannt sei er unter anderem für unerhörte Wendungen in seinen Büchern. Solche unerhörten Wendungen befinden sich auch in der Amsterdamer Novelle, die – wie der Autor verriet - eher zufällig entstanden ist: Eigentlich wollte Heinrich Steinfest, nachdem er die Arbeit an seinem Roman „Die Möbel des Teufels“ beendet hatte, eine Schreibpause einlegen. „In dieser Schreibpause entstand die Novelle“, erzählte der Autor dem Publikum. Mit dem Titel habe er zwar den Novellencharakter ausdrücken wollen, habe aber ganz bewusst auf die Gattungsbezeichnung Novelle verzichtet.
Zu einer Novelle gehört - wie Lesende wissen - ein durchgehendes Motiv. In diesem Fall ist es ein Foto, ein Foto mit einem real existierenden, typischen Amsterdamer Gebäude, das nun das Cover ziert. Und das kam so: Gleich zu Beginn der Schreibpause des Vaters kam Heinrich Steinfests Sohn nach einem Aufenthalt in Amsterdam direkt zu ihm. In Amsterdam hatte der Sohn „eine Unmenge an Fotos geschossen“. Diese mit dem Handy geschossenen Fotos zeigte er seinem Vater.
„Ein Foto hat mich dabei besonders beschäftigt“, erzählte Heinrich Steinfest den Zuhörern in Lübeck. „Da radelt ein Mann, der sieht genauso aus wie ich.“ Das war der Auslöser für seine Amsterdamer Novelle. „Es ist oft so, dass reale Dinge meine Fantasie anfachen“, erklärte der Autor und definierte sogleich seinen Kunstbegriff: „Auf gewohnte Dinge einen neuen Blick werfen, das ist Kunst.“ So ist das auch in diesem Fall. Mithilfe eines zufällig entstandenen Fotos entstand ein kunstvolles Buch. Denn die Amsterdamer Novelle bietet nicht nur spannende Unterhaltung, sondern auch Kunstreflexion: es geht um Künste wie Malerei, Fotografie, aber auch um das Erfinden von Computerspielen. „Ein großes Panorama an Kunstformen zieht sich als ein Leitthema durch dieses Buch“, so Birte Lipinski. Ein anderes Leitmotiv ist das Thema Zeit.
Die „Amsterdamer Novelle“ endet, wie sie beginnt, mit einem Foto. Im Hintergrund sind mehrere Gebäude zu sehen. Das mittlere Gebäude zieht die besondere Aufmerksamkeit des Protagonisten Roy Paulsen auf sich: Auf der oberen Bildhälfte ist hinter einem Fenster „eine kleine Gestalt auszumachen“. Außerdem sieht Paulsen dort ein Gitterbett. Im Vordergrund des Fotos radelt ein Mann mit kurzen schwarzen Hosen und kurzärmeligem schwarzem Hemd an einer Gracht in Amsterdam entlang. Dieser Mann scheint Roy Paulsen selbst zu sein. Roy Paulsen, der Visagist, der in Köln lebt, fürs Fernsehen arbeitet, dreimal verheiratet war und ebenso oft geschieden. Er selbst soll dieser radelnde, schwarzgekleidete Mann in Amsterdam sein? Das erscheint Roy Paulsen mehr als merkwürdig, denn er hat (zumindest als Erwachsener) noch nie auf einem Rad gesessen und ist auch noch nie in Amsterdam gewesen. Er war zwar „einige Male in Belgien, in Brüssel, ja, mit einem Fernsehteam auch in Luxemburg, aber eben nie in Holland und nie in Hollands Hauptstadt.“ Handelt es sich also um eine kuriose Verwechslung? Sieht der Mann auf dem Foto Paulsen bloß unglaublich ähnlich? Paulsen lässt die Sache keine Ruhe, das Foto geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, er fährt nach Amsterdam.
Dort wohnte seit einigen Wochen sein Sohn Tom, dem Paulsen es zu verdanken hatte, dieses Foto überhaupt gesehen zu haben. Sohn Tom stammte aus der zweiten Ehe. Er war es, der dem Vater das besagte Handyfoto vors Gesicht gehalten hatte und dadurch alles Folgende auslöste. Tom arbeitete für eine Computerspielfirma und war gerade damit beschäftigt, „ein Spiel zu entwickeln, in dem Rembrandt van Rijn als Zeitreisender auftritt, der - durch eines seiner eigenen Bilder fallend – ins 21. Jahrhundert gerät und verschiedene künstlerische wie anderweitige Versuche unternimmt, um zurück in seine Epoche zu gelangen, immerhin das sogenannte Goldene Zeitalter der Niederlande.“ Eine skurrile Idee, witzig in der Beschreibung. Diese für Steinfest typische Art von Humor taucht immer wieder auf in der Geschichte.
Roy Paulsen begibt sich in Amsterdam auf die Suche nach dem Gebäude. „Eine Woche hatte er veranschlagt, drei Tage sollten reichen.“ Diese Art, Spannung zu erzeugen ist ein gekonnter Kniff, den Steinfest beherrscht. Umso erstaunlicher, weil er seine Geschichten nicht konstruiert. Bei der Lesung in Lübeck gestand er, auch er selbst könne erst im Nachhinein überlegen, warum ist diese Geschichte so wie sie ist? Zurück zum Buch, zurück zum Inhalt, hin zu einem entscheidenden Moment: „Am Nachmittag des dritten Tages kam das große Gewitter.“ Schnell, böse und wuchtig war es, das Gewitter. „Es verwandelte den gleißend hellen Tag praktisch mit dem Fingerschnippen einer Unwetterfee in die rußig dunkle Unterdrückung des Lichts.“ Plötzlich regnet es in Strömen. Am Ende des Spuks ist Roy Paulsen völlig durchnässt – und entdeckt das gesuchte Haus. In dessen Mauerwerk befindet sich eine schmale Nische, in die Bücher eingestellt sind. Alle Bücher haben ein gemeinsames Thema; es ist das Thema Zeit. Das erkennt Paulsen, obwohl er des Niederländischen nicht mächtig ist. Eines dieser Bücher wird im weiteren Verlauf der Novelle noch eine wichtige Rolle spielen…
Paulsen steigt die „vier Stufen hoch zur Eingangstür. Neben dem Eingang war ein Messingschild montiert, das eine Rechtsanwaltskanzlei auswies.“ Darunter befindet sich eine Gegensprechanlage, auch eine Überwachungskamera ist zu sehen. Paulsen bemerkt, die Eingangstür ist nicht verschlossen, nur angelehnt. Er tritt ein. Und jetzt beginnt die kriminalistische Handlung, die hier nicht verraten werden soll. Nur so viel noch: in einem dieser Zimmer, die er betritt und wieder verlässt, steht ein Klavier, „aber kein Mensch hinter dem Klavier oder sonst wo im Raum. Dafür an den Wänden mehrere zwei Meter hohe Gemälde mit verschütteter roter Farbe, freilich auf eine Weise verschüttet, die gewiss einen fünf- oder sechsstelligen Betrag rechtfertigte.“
Da ist er wieder, Heinrich Steinfests Humor. Aber auch seine leise Gesellschaftskritik, die immer wieder durchscheint, in diesem Krimi, der nicht als solcher gekennzeichnet ist. In dieser Novelle, die ebenfalls nicht als solche gekennzeichnet ist, die mitunter auch philosophische Betrachtungen anstellt, beispielsweise über die Wahrheit, die Lüge, die Täuschung. Und wie ein Foto eine solche Täuschung, einen solchen Betrug offenbaren kann. „Das Foto erzählt letztlich immer von dem, was wirklich geschah. Dies gilt es zu erkennen“, heißt es im Buch. So soll es sein, so wird es dem einen oder anderen Leser möglicherweise ergehen beim Lesen dieses offenen und doch so geheimnisvollen Buches. Oder aber das Buch behält sein Geheimnis für sich. Alles ist möglich, auch das Unmögliche.
Heinrich Steinfest: Amsterdamer Novelle
Piper 2021
Hardcover, 112 Seiten
ISBN 978-3-492-07117
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