Was ist es, das den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet? Ist es das Denken?
René Weiland geht in seinem Buch „Die Unruhe des Denkens“ in neun von ihm selbst „Meditationen“ genannten Essays dieser Frage nach und entfaltet in ihnen, so sein eigener Anspruch, „eine Theorie der Subjektivität im Widerspiel von Selbst und Welt“. Diese Theorie will er auch als Antwort auf die Frage nach den Voraussetzungen für ein gelingendes Gespräch verstanden wissen.
Über Meditationen schreibt Hannah Arendt im ersten Band von „Das Leben des Geistes“, in ihnen finde sich eine „Art abwägende Reflexion“, die nicht auf Definitionen abziele. Im 20. Jahrhundert war besonders Ortega y Gasset ein Meister dieses freien, undogmatischen Reflektierens. Weiland kommt es aber offenbar weniger auf die Freiheit der Reflexion an als vielmehr auf ein geradezu existentialistisches Motiv. Er schildert im Anschluss an den Psychiater Aron Ronald Bodenheimer eine besonders bedrängende Form des Fragens, wenn etwas aus einem Menschen förmlich hervorplatzt – offenbar, weil ihn ein Problem intensiv beschäftigt –, insinuiert aber dabei, dass die Frage eigentlich die Antwort bereits enthält, also eigentlich gar keine Frage ist: „Allenthalben hört und liest man, denken hätte etwas mit dem Stellen von Fragen zu tun. Was, wenn es genau andersherum wäre, wenn denken antworten hieße – wenn die Fragen, die wir stellen, bereits Antworten wären, die wir in Form von Fragen auszusprechen bloß aufschöben?“ So ganz verstehe ich diese Bemerkung nicht, denn im Folgenden wirft er ja Sokrates vor, Scheinfragen zu stellen, deren Antworten er bereits kenne. Wie also soll ich Weiland verstehen: Sind es die wesentlichen Fragen, deren Antwort wir bereits kennen, oder sind wir verächtliche Sophisten, wenn wir bloß rhetorische Fragen stellen?
Jeder Leser, der eine Art Lehrbuch erwartet, das frei von Widersprüchen ist, wird von Weilands Buch enttäuscht sein, denn seine Stärken liegen weniger in den Resultaten als vielmehr in einem tastenden Denken, in Versuchen mal in die eine, mal in die andere Richtung. Deshalb beschreibt Arendts kurze Bemerkung über Meditationen das gelegentlich verwirrende Verfahren René Weilands sehr genau, denn er verzichtet auf Festlegungen und insbesondere auf Definitionen. Vielmehr hebt er nacheinander verschiedene Aspekte des Erkennens, des Bewusstseins und des Denkens hervor – immer versuchsweise und undogmatisch, aber immer im Rückgriff auf die wissenschaftliche Literatur seit Platon.
So zentrale Begriffe wie die genannten spielen in seinen Texten ineinander und werden zumindest anfangs (und vielleicht nicht nur anfangs) synonym gebraucht. Der Autor interessiert sich für den „Spalt zwischen Innen und Außen“ und damit für die „Lücke, die uns zum Denken bringt“. Die Kluft zwischen dem Inneren und dem Außen ist der Grund dafür, dass wir überhaupt denken. „Statt je der Wahrheit selbst teilhaftig zu werden, müssen wir weiter damit vorliebnehmen, in allem, was wir tun, die Differenz von Innen und Außen, die uns gerade bestimmt, nachzuverfolgen.“
„Nichts anderes“, beschreibt Weiland den in Frage stehenden Vorgang, sei „Denken: sich selbst Fragen zu stellen, deren Beantwortung eine Distanz erzeugt, die der Denkende zu sich selbst herstellt.“ Eine Distanz zu sich selbst kennt allein der Mensch – es ist das, was ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet, und im Grunde behandelt Weiland deshalb in seinem Buch Grundfragen der philosophischen Anthropologie. Und nicht allein dann, wenn er die Eigenart des Denkens bestimmt, sondern eigentlich noch mehr, wenn er die Voraussetzungen eines gelungenen Gespräches beschreibt, auf die er immer wieder zu sprechen kommt.
Im ersten Kapitel geht es Weiland um Fragen und Antworten; und weil seine Überlegungen, wie der Untertitel verrät, auf das Selbstverständnis der Philosophie zielen, diese aber nach wie vor von den sokratischen Dialogen bestimmt werde, unterzieht er das dort geübte Verfahren der Gesprächsführung einer scharfen Kritik. Sokrates scheint ihm kein fairer, offener Gesprächspartner, sondern Weiland wirft ihm vor, seine Dialogpartner „mit Vorsatz in die Irre“ zu führen. Das dürfte wohl der schwerwiegendste Vorwurf sein, den man einem Philosophen überhaupt machen kann. Und nun gar Sokrates… Wie dieser trickst und täuscht, versucht Weiland am Beispiel des Dialoges „Menon“ zu zeigen. Lieber als mit Platon hält er es – hier wie auch sonst im Buch – mit Aristoteles, der über die Unredlichkeit von Streitgesprächen allein um des Streites willen schreibt. Im Grunde unterstellt Weiland Sokrates mit Aristoteles ein sophistisches Tun.
Weiterführend ist es vielleicht, dass das dynamische Gleichgewicht eines Organismus in diesem Buch als Modell für das Bewusstsein oder das Denken dient. Weilands Argumentation zielt auf §komplementäre Prozesse der Selbstorganisation“, insbesondere auf den Metabolismus. Zuvor, in den ersten Kapiteln des Buches, ist es das Atmen, mit dem das Denken in etwas assoziativer Weise in Beziehung gesetzt wird. Bei manchen Formulierungen kann man auch an die Verdauung denken, denn „wir assimilieren uns einer Störung“, in derselben Weise, in der wir uns Nahrung assimilieren. Ein weiteres Beispiel stellt das Lernen dar: „Das zu Lernende ist in uns als Lernende eingegangen – so wie, im umgekehrten Fall, wenn wir etwas wieder vergessen, mit diesem Etwas auch etwas von uns selbst wieder weggeht“.
Ebenfalls weiterführend scheinen die Hinweise auf das Problem des Mittleren, das zunächst in der Mesotes-Lehre des Aristoteles auftaucht (in der „Nikomachischen Ethik“). Weiland geht es in seinem Buch zunächst um die Vermittlung von Innerem und Äußerem, und in der Argumentation des Aristoteles wird diese, wie Nicolai Hartmann in seinen klassischen Interpretationen gezeigt hat, als ein Widerspiel zweier einander entgegengesetzter Tendenzen oder Kräfte vorgestellt; und das ist etwas ganz anderes als der Stoffwechsel, bei der es um die Aufnahme von Nahrung oder Sauerstoff geht. Weiland, der ja tastend und versuchsweise philosophiert, testet einander ergänzende Modelle, die beide von der Duplizität ausgehen.
Interessant ist, wen Weiland zitiert, wen nicht. Dass er Sokrates respektive Platon nicht schätzt und lieber auf Aristoteles hört, haben wir schon gehört. Die Autoren der analytischen Philosophie fehlen komplett. Noch viel auffallender ist es, dass Fichte an keiner Stelle erwähnt wird, denn nicht wenige werden gerade auf seine Überlegungen zurückgreifen, wenn es um Selbstverhältnis geht. Und: Von der Mitte des Buches an wird die Bedeutung der Sprache diskutiert. Das ist auffallend spät, denn schließlich möchte der Autor gern die Kriterien eines gelingenden Gespräches beschreiben; oder es geht ihm um das Fragen, das sich doch anders als sprachlich gar nicht vorstellen lässt. Eigentlich erwartet man an dieser Stelle Hans-Georg Gadamer oder zumindest Hinweise auf die hermeneutische Philosophie, aber man wartet vergeblich.
Jeder wird enttäuscht sein, der ein systematisch eine einzige These entfaltendes Buch erwartet. Vielmehr handelt es sich um ein zwar gelegentlich Widerspruch provozierendes, aber dank seiner oft überraschenden Kehrtwendungen sehr anregendes Buch.
René Weiland: Die Unruhe des Denkens und das Versprechen der Philosophie
Verlag der blaue Reiter 2021
168 Seiten
ISBN 978-3933722751
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