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Der Digitalisierung können wir unmöglich entgehen, weder in unseren täglichen Besorgungen noch im Gespräch. Wenn man der Mehrheitsmeinung glaubt, dann ist Digitalisierung die Antwort auf alles, in der Wirtschaft wie im Schulleben und schließlich sogar in unserem Haushalt.

 

Marie-Luise Wolff, Vorstandsvorsitzende eines regionalen Energieversorgers, sieht das ein klein wenig anders. Vielleicht deshalb, weil ihr Bildungshintergrund – sie studierte Anglistik und Musikwissenschaft – sich deutlich von dem anderer Spitzenkräfte der Wirtschaft unterscheidet?

Einen zivilisationskritischen Autor wie Henry David Thoreau (1817-1862) würde wohl kaum jemand sonst aus diesen Kreisen zitieren. So weit wie dieser heute legendäre Autor, der für zwei Jahre in einer selbstgezimmerten Blockhütte ein einfaches Leben führte und darüber den Klassiker „Walden“ schrieb, würde sie wahrscheinlich nicht gehen, und man darf sicher sein, dass sie ein Smartphone besitzt und auch nutzt. Trotzdem äußert sie eine fundamentale Kritik. Für Wolff bedeutet das einseitige Loblied der Digitalisierung „Ja zur unablässigen Beschäftigung mit digitalen Medien, Ja zur Verödung der Innenstädte und Ja zur Flut von E-Rollern, die in ihnen herumliegen.“

 

Allerdings richtet sich diese Kritik gar nicht so sehr gegen eine „Superideologie namens Digitalisierung“, wie es der Untertitel verspricht, sondern vor allem gegen die digitale Wirtschaft, wie sie in Silicon Valley aufkam und heute weltweit praktiziert wird. Schon zu Beginn ihres Buches wird deutlich, dass es das Rasende, ja das geradezu Tollhäuslerische des digitalen Kapitalismus ist, das Wolff beschreiben und kritisieren will. Die Geschäftsmodelle von Tesla, Google und Facebook scheinen der Autorin bereits unter ökonomischen Gesichtspunkten ziemlich fragwürdig. Aber viel schlimmer: sie sind gefährlich für die Gesellschaft und ihren sozialen Zusammenhalt. Im letzten Kapitel ihres Buches schlägt sie daher eine Reihe von Maßnahmen vor, teils, um die Digitalwirtschaft zu zügeln, teils, um die traditionelle Wirtschaft zu stärken – in dem Zusammenhang plädiert sie zum Beispiel für eine Mietpreisbremse. Sie denkt dabei aber an die Geschäfte in den Innenstädten, weniger an Wohnungsmieten, und wer einmal mit seinem Frisör über dessen Miete gesprochen hat, wird diesem Vorhaben nur zustimmen können.

 

Ist es nicht überraschend, in dem Buch einer Managerin das Lob „eines langsamen Aufbaus“ eines Unternehmens zu lesen? Wirtschaftspolitiker werden kritisch die Stirn runzeln, und in Managerkreisen wird man so etwas schon einmal überhaupt nicht verstehen, so wenig, wie der durchschnittliche Börsenguru („Analyst“) Gefallen am Lob von angestrebten „flacheren Wachstumslinien der Realwirtschaft“ findet. Vielmehr geht es allerorten nur noch darum, sogenannte „Startups“ nicht etwa in die Gewinnzone zu führen, sondern einfach nur an die Börse, wo ihre Aktien dann Mondpreise erzielen, selbst dann, wenn die Firma in den vergangenen zehn oder mehr Jahren noch keinen Cent Gewinn abwarf. Denn an der Börse zählt allein die blanke Hoffnung – schließlich wird an ihr die Zukunft gehandelt, nicht etwa die schnöde Gegenwart.

 

Die Anbetung COVERIm ersten Kapitel („Die Erosion der Kommunikation“) beschreibt die Autorin die Auswirkungen der Digitalisierung – besonders der exzessiven Nutzung des Smartphones – auf die Psyche wie auf das Sozialverhalten der Nutzer, auf Konzentrationsfähigkeit von Erwachsenen wie Kindern und auf deren Be- oder besser Missachtung der Mitmenschen. Es geht also um Vorgänge, die wir alle aus eigenem Erleben kennen. An späterer Stelle greift sie ihre Argumentation noch einmal auf, wenn sie die Überlegungen des Psychologen Daniel Kahnemann vorstellt, der das Irrationale und sehr häufig auch Fehlerhafte der durch die Digitalisierung beschleunigten Entscheidungsprozesse sehr stark betont. Wolff denkt wie Kahnemann und zeigt, wie Ungeduld, Hektik und Oberflächlichkeit durch das ständige Klicken und Wegklicken verstärkt werden. Wirklich ist es das Fahrige und Unüberlegte, das unser Verhalten immer mehr dominiert. In dem erwähnten Schlusskapitel führt sie deshalb auch einige Maßnahmen auf, die das Verhalten im Zeichen des Smartphones zivilisieren sollen: „Beenden Sie die Macht Ihres Smartphones. Nehmen Sie es nicht überall mit hin.“ Im Grunde ist das nichts als die Aufforderung, sich ein wenig höflicher zu benehmen.

 

Im zweiten Kapitel geht es dann um „Hyperreichtum und Digitalisierung“, sprich um die weltweit operierenden Internetkonzerne. Das Buch wurde Ende August des vergangenen Jahres veröffentlicht, und es scheint, dass die Autorin von der bereits erfolgten Überwindung der Pandemie ausging – wie sehr Amazon und andere Lieferdienste vom Niedergang der Ladengeschäfte und der Verödung der Innenstädte profitieren, hat sie also noch gar nicht einarbeiten können. Aber sehr schön ist ihre subtile Widerlegung der Vorstellung, im Internet würden wir uns auf „Marktplätzen“ tummeln. Tatsächlich nämlich studieren wir nur Ranglisten und verschwenden dort unsere Zeit.

 

Im vorletzten Kapitel geht die Autorin unter dem Stichwort „Hypernudging“ auf die totale Kontrolle unser eigenen, mehr noch aber der chinesischen Gesellschaft ein, also auf heimtückische Techniken, durch unmerkliches „Anstupsen“ ein gewünschtes Verhalten zu provozieren. Noch konnte sie nicht die im Gefolge der Pandemie erfolgten Maßnahmen darstellen, die wir alle aus dem Fernsehen kennen und mit denen im Reich der Mitte zwar die Pandemie schnell eingedämmt wurde, die aber in eine Diktatur von weltgeschichtlich wohl einmaliger Totalität führen werden oder vielleicht sogar bereits geführt haben.

 

1983 gab es hierzulande eine heftige Protestbewegung gegen eine vom Staat zum Zweck der Korrektur der Statistiken geplante Volkszählung, die vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wurde. Seit seinem Urteil spricht man von dem Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ – das ist ein Grundrecht, das heute von einer Vielzahl von Menschen einfach preisgegeben wird. In unseren Tagen wird man weniger vom Staat als vielmehr von der Internetwirtschaft oder gleich von Kriminellen ausspioniert, aber das scheint kaum noch jemanden zu stören, und nicht wenige, wenn es nicht gar die Mehrheit ist, machen kein Geheimnis aus ihren persönlichen Daten. Damit arbeiten heute Firmen wie „Palantir“, die „vorausschauende Polizeiarbeit“ erst möglich machen – viel mehr, als es sich die Kritiker der Volkszählung in den Achtzigern träumen ließen. Nur regt sich heute fast niemand mehr darüber auf.

 

Die Kritik an Google & Co. ist oft von äußerster Schärfe, und nicht allein, wenn sie angesichts der Arbeitsbedingungen bei Amazon von einem „Angriff auf die Menschenwürde“ spricht. In diesem Kapitel wird es deutlich, dass sie mehr eine Gegnerin der digitalen Wirtschaft als eine der Digitalisierung ist, denn ihr geht es weniger um die Technik als vielmehr um deren schädlichen Einfluss auf unser alltägliches Leben. Das wird auch in dem abschließenden Kapitel deutlich, das sie selbstbewusst „Wegweiser“ genannt hat und in dem sie allerhand Ratschläge gibt, die nicht zuletzt auch politisch relevant sind. Die Kritik monierte einen gewissen Moralismus, aber nicht wenige ihrer Ratschläge sind nichts als eine Erinnerung an eine fundamentale Höflichkeit.

 

Das Buch besitzt eine merkwürdige Fehlstelle: Während seit gut einem Jahr in Presse, Funk und Fernsehen Homeoffice und dazu die Digitalisierung des Unterrichts als die wichtigste pädagogische Maßnahme nicht etwa diskutiert, sondern einhellig ausgerufen werden, spielt dieses Thema in Wolffs Buch nicht die geringste Rolle. Dabei wäre es ebenso geeignet für eine kritische Diskussion wie das Smartphone. Schließlich treten die sozialen und psychischen Probleme hier noch viel deutlicher hervor. Insbesondere der digitale Unterricht scheint sehr problematisch. Als Notnagel mag er durchgehen, aber doch auch nur als ein solcher, und alles das, was gegen eine Digitalisierung unseres täglichen Lebens eingewandt werden kann, sollte mit noch größerem Recht gegen den Unterricht am Bildschirm vorgetragen werden.

 

Im ersten Kapitel stellt Wolff eine große und umfassende amerikanische Studie vor, in welcher die Fragwürdigkeit von „sozialen“ Netzwerken deutlich wird: „In der Untersuchung gibt es keine Ausnahmen. Digitales Kontakten macht unglücklich, gemeinsame Gespräche und Unternehmungen nicht.“ Sollte man dergleichen nicht auch für digitalen Unterricht wie für das Homeoffice annehmen? Man weiß längst, dass das Gedächtnis schlechter arbeitet, wenn man sich nicht bewegen darf, man kennt auch die Bedeutung der Gemeinschaft (Schulhof! Kantine!) für das seelische Gleichgewicht oder die Gefahren für den Bewegungsapparat wie für die Augen, die stundenlang auf einen Bildschirm starren: soll das alles unwichtig sein?

Das Buch ist interessant, weil es aus der Sicht einer Managerin geschrieben wurde, die nicht den Kontakt zum Alltag verloren hat und dazu über eine erfreuliche Bildung verfügt, die ein wenig mehr umfasst als Betriebswirtschaftslehre oder den Jargon von Analysten. Auch ist es eine notwendige Warnung vor der Übermacht des Smartphones.


Marie-Luise Wolff: Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung

Westend Verlag 2020

272 Seiten

Buch, eBook

ISBN 978-3864893049

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