„In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb“.
Mit diesem Satz, der das Schönste und Schlimmste enthält, was einem jungen Menschen passieren kann, beginnt Benedict Wells` neuer Roman „Hard Land“. Schon kurz nach Erscheinen eroberte der Coming of Age-Roman die Spiegel-Bestsellerliste. Klar, denn das Buch liest sich leicht und gefällig, obwohl der Tod hier eine entscheidende Rolle spielt.
Unterfüttert wird die Handlung mit dem Sound der 80er und Filmtiteln aus der Zeit. Sie schaffen die passende Stimmung und sind für den 15jährigen Ich-Erzähler Sam geradezu überlebenswichtig. Sam lebt mit seinen Eltern in der Kleinstadt Grady in Missouri. Seine Schwester Jean ist schon vor Jahren an die Westküste gezogen - sie ist dem Ort entflohen. Kein Wunder, denn Grady hat die besten Zeiten längst hinter sich gelassen. Seit die Textilfabrik geschlossen wurde, geht es hier nur noch bergab. Ein Laden nach dem anderen macht dicht. Sams Mutter ist (noch) Besitzerin eines Buchladens, doch sie ist todkrank und wird bald sterben. Sams Vater ist arbeitslos, liest außer der Zeitung kaum etwas und ist seinem Sohn eher fremd als nahe.
Die Sommerferien haben gerade begonnen. Doch die Vorstellung, diese Zeit mit dem Vater allein daheim zu verbringen, ist für Sam der Horror. „Elf Wochen Ferien mit ihm zu Hause würde ich nicht durchstehen“, befürchtet er. Nach Wichita in Kansas zu Tante Eileen und den Cousins Jimmy und Doug will er allerdings auch nicht. Zumal er sich noch gut erinnern kann an seinen letzten Besuch, als er sich vor seinen Cousins auf der Mülldeponie verstecken musste. Sams Familie wohnt direkt neben dem Friedhof. Einziger Lichtblick: Grady ist umgeben von einer idyllischen Landschaft, doch je länger Sam auf diese Landschaft schaut, desto unschärfer wird sie an den Rändern. So unscharf wie die Zeit, die unmittelbar vor ihm liegt. So unscharf wie das ganze zukünftige Leben. Kein schönes Gefühl.
Alles ist ätzend und trostlos für Sam, der ein Angsthase und Außenseiter ist, Angststörungen hat und keine Freunde. Wegen seiner Angststörungen musste er sogar schon mehrfach zur Schulpsychologin. Um vor der Langeweile des Sommers und den Problemen zu Hause zu fliehen, heuert Sam im Metropolis-Kino an, ein „uraltes Kabuff für Rentner, das Ende des Jahres dichtmachen sollte“. Dort riecht es nach Öl, Zucker und „zu Staub zerfallender Nostalgie“. Wer hätte das gedacht: hier und jetzt beginnt für Sam „der schönste und schrecklichste Sommer meines Lebens“. Er findet Freunde, verliebt sich und entdeckt, was es mit den 49 Geheimnissen seiner Heimatstadt auf sich hat. Doch dann schlägt das Schicksal zu: die Mutter stirbt. „[…] der Tod saß die ganze Zeit bei uns am Küchentisch, trank seinen Kaffee, blickte stumm auf die Uhr.“ Der Tod tritt zudem nicht an einem x-beliebigen Tag auf und ein, sondern exakt an Sams 16. Geburtstag. Ein tragisches Ereignis also, das mit aller Macht in Sams neugewonnene Idylle drängt und alles Weitere prägt, auch die erste Liebe.
Mit diesem Roman hat Benedict Wells seinen ersten Coming of Age-Roman geschrieben. In seinem vierten Roman „Vom Ende der Einsamkeit“, der in 37 Sprachen übersetzt und 2016 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde, hat Benedict Wells vom Leben der Geschwister Jules, Marty und Liz erzählt und die Geschwister über einen Zeitraum von 35 Jahren begleitet. In „Hard Land“ ist es das Schicksal eines Jugendlichen, dem der Autor ein Jahr lang folgt. In Hard Land passiert alles zum ersten Mal: die erste Liebe, die erste Freundschaft, der erste Tod.
Hard Land, das ist die Kleinstadt Grady, nahe des Missouri Rivers gelegen, umgeben von Wald, dem Lake Virgin und von Weizen- und Roggenfeldern. Hier also lebt Sams (Roman-)Familie. „Entdecke die 49 Geheimnisse von Grady“ steht dort auf einem Schild geschrieben. „Zum ersten Mal tauchte der Spruch in einem Gedicht von Morris auf […]. William J. Morris, das ist Gradys berühmtester Dichter, der sogar einmal einen Kulturpreis erhalten hat, der Einzige aus diesem Nest, der je irgendetwas gewonnen hat“, heißt es hierzu im Roman. Noch kennt Sam kein einziges dieser 49 Geheimnisse. Auch ansonsten besteht sein Leben eher aus Tiefpunkten und Nullahnung: „Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex, dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe.“ So trist also ist Sams Leben. Bis er den Ferienjob im alten Kino antritt.
Dort trifft er auf den spöttischen, schlagfertigen, schwulen Cameron, auf den in sich gekehrten schwarzen Sportler Hightower und auf die draufgängerische Kirstie mit der kecken Zahnlücke. „Sie waren alle so unterschiedlich in ihren Rollen. Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“ Die drei haben gerade ihren Abschluss gemacht und werden im Herbst wegziehen. Sam bleibt nur dieser eine Sommer mit seinen neuen Freunden. Nur wenige Wochen sind es, in denen er die Geheimnisse seines Heimatorts entdeckt, wer er selbst ist und was es heißt, sich dem Leben zu stellen. Dabei hilft ihm der Tipp seiner Schulpsychologin, die von ihm forderte, mehr aus sich herauszugehen. Sam erinnert sich zum Glück schon früh an diesen guten Rat. Es geschieht in Kapitel „Nummer 3“.
Etwas später erscheint ein neues Wort in diesem Roman. Das Wort „Euphancholie“, das den Zustand zwischen Euphorie und Melancholie beschreibt: „Einerseits zerreißt`s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird“, erklärt Kristie Sam das Wort, das sie in ihr Tagebuch geschrieben hat. Zu diesem Zeitpunkt ist Sam bereits in Kristie verliebt. Wie sehr das der Fall ist, spürt der Leser, wenn Sam nach einem Treffen mit ihr allein auf einer Bank sitzend zurückbleibt und flüstert: „Kristie. Es war nur ein Wort, aber ich hatte noch nie so viel gesagt.“ Viel Romantik, Nostalgie, Herz und Schmerz ist in diesem Roman über das Erwachsenwerden zu finden.
Nostalgisch romantisch ist beispielsweise dies: „Wenn ich heute an diesen Sommer zurückdenke, dann war das Schönste eigentlich immer der Weg von unserm Haus zum Kino oder zum Larry`s. Diese zwanzig Minuten, bis ich die anderen sah und in denen ich mir ausmalen konnte, was wir machen würden und ob ich Kristie ein bisschen näherkam.“ Benedict Wells erzählt diese Coming of Age-Geschichte in einer meist schnörkellosen Sprache, die inzwischen unverkennbar die seine ist. Hin und wieder erinnert ein mit philosophischen oder psychologischen Gedanken gefüllter Satz an Klassiker wie „Der Fänger im Roggen“. Der Titel wird übrigens auf den ersten Seiten des Buches erwähnt. Auch eine Erklärung des klassischen Coming of Age-Romans wird gegeben: Der Held befinde sich oft auf einer inneren oder äußeren Reise. „Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe […]“
Geschrieben hat Benedict Wells gut fünf Jahre an diesem Werk, das aus fünf Parts (Die Wellen, Ball in der Luft, Die Prüfung, Der Streich, Die Pointe) und insgesamt 49 durchnummerierten Kapiteln besteht. Welche Motivation hatte der Autor, dieses Buch zu schreiben? Hierzu Benedict Wells: „Mein Benzin für „Hard Land“ war nicht die eigene Erfahrung, sondern Sehnsucht. Als ich ein Kind war, liefen im Fernsehen die ganze Zeit amerikanische 80ʼs -Filme wie „Stand By Me“, „Zurück in die Zukunft“ und „The Breakfast Club“. Die habe ich aufgesogen, da wollte ich immer hin“, erzählt er im Interview (www.diogenes.ch/leser/blog). Nun ist Benedict Wells auch im Roman dort angekommen.
Im richtigen Leben bereiste Wells 2008 zum ersten Mal die USA. Dabei landete er zufällig in einem kleinen Kaff direkt am Missouri River: „Ich wusste, hier muss „Hard Land“ spielen. Natürlich ist der Ort im Roman anders und fiktiv, aber er basiert sehr auf dem damaligen Gefühl und dem besagten Kaff“, so der Autor. Und weiter: „Es gehört zu den größten Rätseln in meinem Leben, dass ich in jenem Sommer ausgerechnet in dem oben erwähnten Kaff in Missouri war, in dem „Hard Land“ quasi geboren wurde und spielt, als ich die Nachricht erhielt, dass wie im Buch einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben unerwartet sterben würde. Auf einmal wurde alles, was fiktiv war, real.“
Benedict Wells: Hard Land
Roman. Diogenes Verlag 2021
Hardcover Leinen, 352 Seiten
ISBN 978-3-257-07148-1
Weitere Beiträge zu Benedict Wells bei KulturPort.De: „Vom Ende der Einsamkeit“: Benedict Wells erzählt behutsam vom Nullsummenspiel des Lebens (2016)
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