Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, ist zweifelsohne ein herausragender Schriftsteller.
Geradezu beglückend sind die lyrischen Elemente in seinen Werken. Zudem beschreibt er die elendig karge Gegend seiner Romane so großartig, dass sie uns Lesern dennoch ans Herz wächst und alsbald ebenso wichtig wird wie die dort lebenden, meist wortkargen Menschen. Seite um Seite entblättert sich die eigentliche Einöde mehr und mehr zur lebens- und liebenswerten Welt im Kleinen.
So geschieht das auch in den beiden zuletzt auf Deutsch erschienenen Romanen „Fische haben keine Beine“ und „Etwas von der Größe des Universums“. Auch hier geht es wie immer bei diesem Autor um Alles oder Nichts, um Leben, Liebe und Tod.
Bevor Stefánsson mit dem fiktiven Schreiben begann, arbeitete er in der Fischindustrie, im Schlachthof, als Maurer und Polizist. Später studierte er Literaturwissenschaft, unterrichtete Literatur, war für Zeitung und Radio tätig. Der internationale Durchbruch gelang ihm 2007 mit seinem Roman „Himmel und Hölle“, dem ersten Teil einer Trilogie. Als 2018 feststand, es würde skandalbedingt diesmal keinen Literaturnobelpreis geben, war der Autor, für den extra ins Leben gerufenen alternativen Nobelpreis nominiert, den letztlich doch jemand anders erhielt.
Stefánssons Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Es scheint so, als schreibe der Autor immer über dieselben Menschen, dieselben Orte. Es scheint auch so, als ob seine Geschichte längst noch nicht auserzählt ist. Und das ist gut so.
„Fische haben keine Beine“ ist in zwei Orten angesiedelt, in Keflavík und in Norðfjörður. Das Buch beginnt mit einem kurzen Prolog, gefolgt von groß angelegten Parts wie Keflavík damals – 1976 und 1980 – und Keflavík heute sowie Norðfjörður damals. Unterbrochen wird dies von Exkursen in die jüngste Vergangenheit. Die einzelnen Teile wiederum sind aufgeteilt in Kapitel mit so klingenden Titeln wie „Und jetzt kann das Leben anfangen, es darf loslegen, mit allem, was es im Gepäck hat“. Dieses besagte Kapitel startet mit nur zwei Zeilen, mit der „Frage: Was ist schneller als das Licht? Antwort: Die Zeit.“ Es folgt ein typographischer Absatz, und dann legt Stefánsson erst richtig los. Er schreibt über die Zeit: „Sie fährt wie ein Pfeil durch uns hindurch.“ Pfeile fahren immer wieder auch durch uns hindurch beim Lesen dieses Buches. Wir sind tief betroffen, tief beglückt, tief traurig.
Der Autor gibt an, er könne nicht sagen, wie seine Geschichten entstehen. „Zu schreiben ist für mich wie eine Reise. Ich weiß nicht, ob ich nach Osten oder Westen soll, aber ich kenne die Stimmung und die Musik auf der Reise.“ Ja, die Musik, auch sie ist wichtig in diesem Roman. An einer Stelle heißt es: „Gute Musik hören, das ist, wie geradewegs ins Glück zu laufen.“ Wenige Seiten später lesen wir: „in ihr heben wir die Träume auf, die Sehnsucht nach einem besseren Leben, nach einer schöneren Welt und den Traum, uns über unsere Fehler und Mängel, über Neid, Haltlosigkeit und Eitelkeit erheben zu können […] Musik kann die Dunkelheit erhellen.“
Das gilt selbst für Keflavík, diese Hafenstadt in Südwestisland, 40 Kilometer südlich von Reykjavík, geprägt von Fischfang und Fischverarbeitung, wo es jetzt nur noch drei Himmelsrichtungen gibt: den Wind, das Meer und die Ewigkeit. Wo es nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 80er Jahre einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt gab und somit vier Himmelsrichtungen, „denn damals donnern noch die Kampfjets der Amis über unsere Köpfe und Hausdächer“. Die einzige Attraktion im Ort also, abgesehen von Mädchen, die aussehen wie Musik. Hier herrschte und herrscht das Gefühl, „hinter das Ende der Welt gezogen zu sein, hinter Lava und kahles Land“. Dort, wo das Meer „hier und da zwischen den Häusern zu sehen ist wie ein schwarzes Weltreich“. Wo die Fische zum Alltag gehören. Denn Fisch ist „der Anfang und das Ende, ohne den Fisch bricht die Wirtschaft eines autonomen Island in sich zusammen.“ Das Leben – so scheint es – besteht nur aus Fisch und Fischsein, aus Fischfang und Geschrei am Hafen.
Hier also lebt Ari, der als 18jähriger in einer isländischen Fischfabrik anheuert und dessen Vater Jakob und Großvater Oddur Fischer waren. Aris Mutter lebt nicht mehr. Sie starb im Alter von knapp dreißig Jahren. Damals, da war Ari fünf Jahre alt. Auch die Mutter des Autors Jón Kalman Stefánssons starb, als ihr Sohn fünf Jahre war. So ist es kein Wunder, dass die Mutter im Roman namenlos bleibt. Sie ist und bleibt diejenige, die verschwunden ist, „obwohl sie doch der Himmel über ihm war, die Kraft, die Planeten kreisen und den Sommer anbrechen ließ … Der einzige Himmel, der einen nicht im Stich ließ / nur starb“. Nach ihrem Tod ziehen der Junge, der Vater und die Stiefmutter (letztgenannte bleibt ebenfalls namenlos) von einem Block in Reykjavík in ein Einfamilienhaus in Keflavík. Ein Haus mit drei Zimmern, eines für die Eltern, eines für Ari, eines für „ein Kind, das nie zur Welt kommen wird“, das im Laufe der Zeit zu einem Mahnmal wird für das vergebliche Verlangen nach Glück.
Ende der 80er verlässt Ari den Ort Keflavík. Aus gutem Grund. Denn wenn der Fisch ausblieb, gab es hier nur weniges, womit man sein Leben fristen konnte, „der salzige Sturm drosch auf die Bewohner ein, das Leben spendende Süßwasser versickerte zusammen mit der Hoffnung in der Lava.“ Keflavík, der Ort, der 1944 beim Besuch des isländischen Präsidenten von selbigem als schlimmster Ort des Landes bezeichnet wurde. Eine der Kapitelüberschriften sagt das Gegenteil mit der einnehmenden Frage: „Ist Keflavík ein schöner Ort oder eine helle Umarmung?“ Dank Jón Kalman Stefánsson ist Keflavík beides.
Das weiß hoffentlich irgendwann auch Ari, der – so scheint es - immer zusammen mit dem Ich-Erzähler unterwegs ist; denkbar ist, die beiden sind identisch. Ari ist Lektor, wird bald fünfzig, kennt Religionen, Musik, Bücher und vieles andere mehr, „weiß aber im Grunde genommen nichts, ist nirgends zu Hause, weiß nicht ein noch aus.“ Was war geschehen? „Ein Arm über dem Küchentisch wie ein Donnerschlag, und nichts war mehr wie vorher.“ Das passierte vor zwei Jahren, nach mehr als 20jährigem Zusammenleben mit Ehefrau Pora und den drei gemeinsamen Kindern im soliden Reihenhaus – und dann war alles vorbei. Ari ging nach Dänemark und kehrt zwei Jahre später mit „seinem abgedrückten Herzen“ zurück, weil der Vater im Sterben liegt.
Erzählt wird die verästelte Geschichte einer Familie über drei Generationen, ausgehend von Ari. Aris Vorfahren, Großvater Oddur und dessen Frau Margret, lebten im Osten Islands, am Norðfjörður Fjord. Auch deren Leben war von Fischfang bestimmt – von kurzen Sommern und langen Wintern – glücklicherweise aber auch von Liebe. So ist eines der schönsten Kapitel in „Fische haben keine Beine“ der Liebe gewidmet. Es trägt den Titel: „Es ist Mitternacht, da ist der Niedergang ins Logis, und jemand steigt dort hinab.“ Da lesen wir Sätze wie „Die geballten Fäuste waren Oddurs Liebeslied“ oder „Wenn ich mein Haar löse, dann weißt du, dass ich unter dem Kleid nackt bin, und dann weißt du, dass ich dich liebe.“
Fokussiert werden in dieser Geschichte in besonderer Weise Aris Großeltern Margret und Oddur – nämlich gegen das Vergessen – und der Leser erfährt in direkter Ansprache warum: „weil wir möchten, das du erfährst, dass Margret einmal unter ihrem amerikanischen Kleid nackt war, mit kleinen, gewölbten Brüsten, und dass sich ihre langen, schlanken und doch kräftigen Beine wenig später um Oddur schlossen, damit du weißt und möglichst nie vergisst, das alle irgendwann einmal jung waren, und damit du dir klarmachst, dass wir alle irgendwann einmal brennen müssen, brennen vor Leidenschaft, Glück, Freude, Gerechtigkeitsempfinden, Verlangen, denn das ist das Feuer das die Dunkelheit erhellt.“ Auf Wasser allerdings kann auch dann niemand gehen, „und darum haben die Fische keine Beine“. Daher der Titel dieses Buches.
„Wer mit dem Schreiben anfängt, darf nichts verschweigen, das ist das erste Gebot, die Grundvoraussetzung für alles“, sagt der Autor in „Fische haben keine Beine“. Und an anderer Stelle im Buch: „Man kann nie alles sagen, dafür fehlt der Welt die Geduld [...] Leben entsteht aus Worten, aber im Schweigen lauert der Tod. Darum müssen wir weiterschreiben, erzählen, Verse und Flüche murmeln und so für eine Weile den Tod auf Abstand halten.“ Möge er Wort halten.
Ein großartiger Roman mit lyrischen Elementen.
Jón Kalman Stefánsson: „Fische haben keine Beine“
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig
Piper Verlag
Roman. Taschenbuch, 416 Seiten
ISBN: 9783492310611
Weitere Informationen, Vita und Leseprobe
Abbildungsnachweise:
- Portraitfoto: © Einar Falur Ingólfsson 2017
- Buchumschlag, Piper Verlag 2015
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