In ihrem Debütroman „Streulicht“ erzählt Deniz Ohde vom Erwachsenwerden zwischen den Existenzentwürfen: vom falschen Versprechen der Bildungsgerechtigkeit, vom verzögerten Aufstieg als Arbeiterkind und der konstanten Angst des Scheiterns, vom Erwartungsdruck und der Enge des Heimatorts, aus dem sie ausbrechen will, auch wenn alle anderen bleiben. Ohde entwirft ein einfühlsames und ehrliches Portrait einer Existenz, die geprägt ist von alltäglichen Erfahrungen der Ungleichheit und dem verinnerlichten Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, bei dem der Aufschrei jedoch ausbleibt – und das Aufbegehren erst spät gelingt.
Ein kleiner Ort neben einem Industriepark, irgendwo in Deutschland. Fabrikschlote ragen in den Himmel, eine feine Säure liegt in der Luft, in der Ferne das konstante Brummen der Werkhallen. Hier hat ihr Vater 40 Jahre lang Aluminiumbleche durch Laugen gezogen, hier ist die namenlose Ich-Erzählerin selbst aufgewachsen.
Eine unsichtbare Grenze scheint diesen Ort zu umschließen, an dem das Licht anders fällt, die Luft anders riecht; und unsere Protagonistin scheint gleichsam tief Luft holen zu müssen, bevor sie diese Grenze zum Ort ihrer Kindheit erneut überschreitet, bevor sie ihren Gesichtsausdruck teilnahmslos werden lässt, damit man sie übersieht, den Blick so justiert, dass er sich auf nichts Konkretes richtet.
Für die Hochzeit ihrer beiden besten Freunde aus Jugendtagen ist sie zurückgekommen, und mit der Rückkehr kommen auch die Erinnerungen wieder, an die Tage, die sie hier verbracht hat, zwischen dem Wunsch, dazuzugehören, aber auch wegzukommen, wegzukönnen aus dem Dasein, in dem man sich lieber klein macht, um nicht unangenehm aufzufallen, und lieber gar nichts erst versucht, aus Angst, scheitern zu können.
„Es kam mir so vor, als sei der Ort von einer Spannung erfüllt, die sich irgendwo im Hintergrund auflud“, bemerkt die Erzählerin schon früh. Der unterschwellige Druck, der sich aufbaut, bis man es nicht mehr aushält, den spürt auch sie, immer wieder. Vor Jahren hatte sich im Ort schon mal eine Frau umgebracht, mit Sprengsätzen am Weihnachtsabend in der Kirche. Für die Erzählerin wird dies zum Sinnbild eines Ausbruchsversuchs, der in seinem Gelingen gleichsam scheitert.
Deniz Ohde erzählt in „Streulicht“ von einem biografischen Weg, der sich schon früh in viele unterschwellige Ungleichheiten aufspaltet: Sophie, die beste Freundin der Protagonistin, nimmt Reit- und Ballettstunden, wohnt in einem hübschen Reihenhaus, und natürlich kommt der pinke Scout-Rucksack, den sich beide Mädchen wünschen, für Sophia mit dem passenden Namensschild, während die Erzählerin weiß, dass ihr Name nirgendwo dabei sein wird: „Es war ein geheimer Name, dessen Klang mich in der Außenwelt in Schmutz verwandelt hätte“.
Das Gefühl, anders zu sein, manifestiert sich auch in der Sorglosigkeit, mit der Sophia der Welt begegnet, während es bei der Ich-Erzählerin oft eher eine tiefe Verunsicherung und Verlegenheit ist. Das zeigt sich besonders in der Schule, in der die türkische Herkunft ihrer Mutter zum bestimmenden Identitätsfaktor wird: Neben Mobbing-Erfahrungen durch Mitschüler sind es vor allem die Lehrer, die das schüchterne Mädchen entweder konsequent übersehen, vorverurteilen oder sogar öffentlich bloßstellen.
„Ich konnte die Sprache meiner Mutter nicht sprechen, aber das galt nicht. Jeden Mittwochnachmittag schickte sie mich zum Schreibunterricht“, berichtet die Erzählerin. Beim Mathespiel bleibt sie in einer Ecke stehen, weil ihre Antworten nicht laut genug sind, und der Französischlehrer spricht vom „Aussieben“, denn zum Abitur müsste man der richtige „Typ“ sein.
In der Schule steht die Erzählerin daher unter ständiger Anspannung, ist in Alarmbereitschaft, kriegt sogar Ausschlag davon. Sie hat keine schützende Mauer aus Erziehungsberechtigten, denn ihre Eltern sind schon mit dem Elternabend überfordert. Besuch bekommen sie so gut wie nie: „Unsere Wohnung war ein Geheimnis, das wir zu hüten hatten, dessen wir uns schämten“.
„Streulicht“ ist auch eine Geschichte über das Verhältnis zur eigenen Familie: Das Eingefahren-Sein in alten Strukturen, zwischen Unfähigkeit und Unwille zur Veränderung. Die Protagonistin wächst auf in der Wohnung, die schon den Großeltern gehörte. Ihr Vater schafft es nur kurz, das elterliche Haus zu verlassen, bevor er mit seiner Frau in die Wohnung zurückkehrt; und auch der Großvater zieht nur ein Stockwerk darunter, nachdem seine Frau gestorben ist.
Beide Männer, schwerfällige Gewohnheitstiere, die Veränderungen hassen und allem Unbekannten argwöhnisch gegenüberstehen, haben einen Hang zum Anhäufen und Sammeln: Bei jedem Einkauf darf es „etwas mehr sein“, und gegen die Mengen an Lebensmitteln, mit denen die Regale gefüllt werden, gegen die Dinge, die Schränke und Kellerabteil füllen, weil sie nicht weggeworfen werden dürfen, kommt auch die Tatkräftigkeit der Mutter kaum an. Diese Hilflosigkeit gegenüber der Anforderung, sich aufzuraffen und Sachen anzupacken, prägt auch die Ich-Erzählerin viele Jahre lang. „Man musste bleiben, wo man war, daran glaubte ich. Es war sicherer.“
Ihre Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge der Arbeiterwohnung langsam erstickt, gelingt der Ausbruch, wenn auch nur kurz. Eines Tages packt sie die Koffer und lässt ihre Tochter beim trinkenden Vater. Die Erkenntnis, zurückgelassen worden zu sein, verstärkt die Unsicherheit der Erzählerin, und als die Mutter schließlich zurückkehrt, scheint umgekehrt erwiesen, dass jede gewonnene Unabhängigkeit nur temporär sein kann.
Als die Erzählerin dann als einzige nicht versetzt und der Schule verwiesen wird, während ihre Freunde in die Verbundsschule weiterrücken, kann sie nichts, als dies resigniert zu akzeptieren. Eine Ohnmacht, sich nicht anders helfen zu wissen, als das Gegebene hinzunehmen, und sich selbst nicht mehr zuzutrauen, prägt sie zutiefst. Erst auf zweitem Wege gelingt dann der Bildungsaufstieg, erneut mühevoll: „In jeder Sekunde hatte ich das Gefühl, etwas verteidigen zu müssen, etwas unter Beweis stellen zu müssen, das weiter reichte als nur in den Notenspiegel hinein, um nicht wieder vom Boden der Bildung zu rutschen“. Dass der Referendar ihr aus Prinzip weniger Punkte gibt, weil sie für ihr Alter schon weiter sein müsste, zeigen, dass diese Ängste nicht unbegründet sind.
Der Aufschrei bleibt in dem Roman jedoch aus: Die Protagonistin wagt es nicht zu protestieren; viele Jahre nickt und schluckt die Entmutigungen und Erniedrigungen, will „durchhalten“ trotz der alltäglichen Rassismuserfahrungen und strukturellen Benachteiligungen. „Wie kann es sein“, fragt eine Lehrerin sie später, und fasst damit die Ratlosigkeit zusammen, wie so jemand durch das Raster des Systems fallen kann.
Deniz Ohde ist mit „Streulicht“ eine Anklage gelungen, die nicht anklagend ist, die die Dinge so schildert, wie sie sind, in spröder Sprache, aber ganz ohne Aufregung. Die Erzählung bleibt in leisen Tönen, und wird dadurch umso eindrucksvoller. Ein absolut lesenswertes Debüt.
Deniz Ohde: „Streulicht“
Roman
Berlin: Suhrkamp 2020
Gebunden, 284 Seiten und als eBook
ISBN: 978-3-518-42963-1
Verlagsinformationen, Leseprobe, Audio- und Videobeiträge
Die Autorin ist zurzeit auf (Online)-Lesereise. Alle Termine finden Sie auf der o.g. Verlagsseite.
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