Kein deutscher Philosoph ist ähnlich umstritten wie Martin Heidegger, und kaum einer ist seinen Verehrern wie Gegnern als Person ähnlich präsent.
Oliver Precht zeigt in seiner Dissertation die Phasen von Heideggers Selbstdarstellung. Gerade dank seiner Sachlichkeit und der Nähe zum Text gerät das Buch zu einem ebenso überzeugenden wie scharfen Angriff auf den Autor selbst wie auf seine Herausgeber, Anhänger und Apologeten.
Seit dem Sensationserfolg von „Sein und Zeit“ (1927/28) wurde Heidegger immer wieder attackiert, manchmal sachlich, sehr oft aber auch persönlich, und es waren die verschiedensten Motive, die dabei ineinander spielten: Sein pathetisches Vokabular sprach zwar Tausende an, funktionierte aber auch als eine schöne Vorlage für Satiriker und Parodisten, seine „Übersetzungen“ („Der Spruch des Anaximander“) ließ Studenten verzweifeln und Philologen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, und seine schäbige Rolle im 3. Reich mit ihrer bis zum bitteren Ende durchgehaltenen Weigerung, sich zu seinem Mitläufertum zu bekennen und kritisch zu verhalten, hat die Kritiker niemals verstummen lassen. Einer der schärfsten Angriffe stammt von Adorno („Jargon der Eigentlichkeit“, 1964), nicht selten gingen aber auch seine Schüler auf Distanz – einer von ihnen war Karl Löwith mit „Denker in dürftiger Zeit“ (1960), einem bis heute lesenswerten Buch.
Eigentlich war Heideggers spießiger und entgegen seinem elitären Selbstverständnis sehr gewöhnlicher Antisemitismus immer bekannt, aber als 2014 unter dem Titel „Schwarze Hefte“ der erste Band seiner Aufzeichnungen mit vielen kruden Bemerkungen auch zu diesem Thema veröffentlicht wurde, ist die Front der Ablehnung doch noch einmal deutlich breiter, die Zahl seiner Verteidiger aber viel, viel kleiner geworden. Mit soviel Judenhass scheint man nun doch nicht gerechnet zu haben. Dabei hätte man es doch eigentlich wissen können oder besser: Man hat es immer gewusst. Nur hat man darüber hinweggesehen.
Oliver Precht greift Heidegger nur selten an und wenn, dann eher ironisch-sarkastisch – das ist einer von mehreren Vorzügen seiner Studie, die ihren Honig aus fast dem gesamten, doch immerhin außerordentlich umfangreichen Werk zieht. Dem Frühwerk (bis Anfang der Dreißigerjahre) folgt eine kurze „Zwischenphase“, dann stellt sich die „Frage nach der Geschichte“, bis endlich die verstiegene und verblasene Spätphilosophie erscheint, in der Heidegger sich der Auslegung Hölderlins widmet und im Stile einer Schwarzwälder Pythia schreibt, dichtet oder raunt. In dieser Zeit versteht er sich auch nicht mehr als Philosoph, sondern stellt sich selbst als einen dar, der nur noch „denkt“.
Karl Jaspers, für kurze Zeit sein Weggefährte, schreibt rückblickend, Heideggers Philosophie habe „den Anspruch und Stil einer Verkündigung“. Das ist wirklich wahr, denn weder wird im Stil seines Lehrers Edmund Husserl gearbeitet, noch wird traditionell argumentiert oder in nachvollziehbarer Weise auf die großen Philosophen der Vergangenheit zurückgegriffen. Für sehr viele, auch durchaus gutwillige Leser Heideggers sind diese Texte mit ihren bizarren Wortschöpfungen und subjektiven, niemals begründeten Einfällen und unmotivierten Wendungen kaum noch lesbar. Oder wirklich unlesbar.
Oben heißt es, dass Prechts Studie ihre Belege aus fast dem gesamten Werk heranzieht, aber nicht, dass er das gesamte Werk darstellt. Denn genau das hat er nicht getan – er hat sich allenfalls gelegentlich um einen Nachvollzug von Heideggers Gedanken und um eine Übersetzung in eine etwas einfachere Sprache bemüht. Aber er wollte ja auch gar nicht die Philosophie Heideggers zusammenfassen oder in sie einführen. Vielmehr geht es in diesem Buch um die Selbstdarstellung des Meisters und deren Wandel in den verschiedenen Phasen seines Lebens. Prechts ganze Argumentation steht unter der Prämisse, „dass die präsentierte Sache (die ‚Wahrheit des Seins‘ als ‚Ereignis‘) mit der systematisch notwendigen Sache (dem eigenen Sein) von Heideggers Philosophie identisch ist – eine Identität, die zu verbergen die zentrale Aufgabe für Heideggers philosophische Politik darstellt.“ Und Precht seinerseits empfand es als seine Aufgabe, eben diese Darstellung zu durchbrechen oder vielleicht besser: das Selbstbild des Herrn Heidegger zu zerstören. Weil es noch nichts zu der Selbstdarstellung Heideggers beiträgt, wird „Sein und Zeit“ nur am Rande erörtert und das nur wenig später erschienene Kant-Buch „Kant und das Problem der Metaphysik“ sogar mit keinem Wort erwähnt.
Ebenso wenig geht Precht auf die konkurrierenden Philosophen der Zeit ein – in meinen Augen die weitaus bedeutenderen Köpfe –, auf Max Scheler, Nicolai Hartmann oder Ernst Cassirer. Das intellektuelle Umfeld spielt ebenso wenig eine Rolle wie der sachliche Gehalt seiner Vorlesungen aus den Marburger und Freiburger Jahren.
Dazu gehört es, dass die seriöse wissenschaftliche Literatur zu Heidegger kaum zitiert wird, jedenfalls nicht die deutsche der letzten Jahrzehnte. Die einzigen Ausnahmen sind Franzosen, nämlich Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. Und der deutsch-amerikanische Philosoph Leo Strauss (1899-1973) – man kann sogar sagen, dass Precht dessen Perspektive und Vokabular übernommen hat, zum Beispiel, wenn er die von Heidegger angenommenen zwei Ursprünge der philosophischen Lehre nach Athen und Jerusalem benennt.
Aber die deutschsprachigen Forschungen, die Heideggers noch ernstzunehmende Arbeiten der späten Zwanzigerjahre ins Gespräch mit gleichzeitigen Werken bringen, werden von Precht wortlos übergangen, selbst in den Abschnitten, die der damals eben aufblühenden Philosophischen Anthropologie gewidmet sind. Er hätte hier gut die Studie von Matthias Wunsch zitieren können („Fragen nach dem Menschen“, Vittorio Klostermann 2014), geht aber ganz konsequent nur auf biographische Werke und Bemerkungen ein.
In Prechts Buch geht es also einzig allein um die Selbstdarstellung eines Philosophieprofessors, dessen anfänglich über Gebühr betonte und entsprechend wenig glaubwürdige Bescheidenheit sich immer mehr in den Gestus des einsamen Genies verwandelt, um sich schließlich in den eines Propheten aufzublasen, den sich eine gottähnliche Instanz namens „Seyn“ ausgesucht hat, um mit seiner Hilfe die allermerkwürdigsten Botschaften unter die Leute zu bringen.
So un-philosophisch wie überhaupt nur möglich ist die (von Heidegger besonders in seiner Interpretation des Platonischen Höhlengleichnisses vorgetragene) Ablehnung des Gespräches als „Schwatzen“. Schließlich ist seit den Tagen eines Sokrates das Gespräch das Medium der Philosophie, und so ist Philosophie die „Laberwissenschaft“ par excellence. Und auch Politik spielt sich ebenso ab, dass man miteinander redet und sich bespricht, gelegentlich sogar in einer Schwatzbude. Aber nicht Heidegger! Einer wie er musste es ablehnen, in einer Großstadt zu leben, wo man ihn hätte zur Rede stellen können, und so blieb er lieber in Freiburg oder gleich in seiner Schwarzwaldhütte. Auch finden sich seine Beiträge nicht in den großen Diskussionen seiner Zeit, zum Beispiel auf philosophischen Kongressen. Allem, was ihn hätte irritieren oder korrigieren können, ging er lieber aus dem Weg. Deshalb blieb er im Schwarzwald. „Heideggers Philosophie verreist nicht,“ schreibt Precht dazu, „weder ‚praktisch‘ noch ‚theoretisch‘. Sie bleibt in der Provinz, wo sie die Begegnung mit anderen ‚Kulturen‘ gar nicht erst verweigern muss.“
Der große Spanier Ortega y Gasset, den Heidegger noch in seiner Marburger Zeit hätte kennenlernen können, schrieb dagegen in seinem nachgelassenen Buch über Leibniz, dass der Wortteil „Fahren“ in „Erfahrung“ wörtlich zu verstehen sei und nicht zuletzt auch mit Reisen zu tun habe. Die Natur sei ein Buch, „das man lesen muß, indem man ‚es durchwandert und durchzieht‘ […] Fahren bedeutet ‚reisen‘ […]. Auf Reisen sieht man viele Dinge. Darum nennen die Araber ihre Reisebücher ‚Bücher des Gehens und Sehens‘. Der Empirismus oder die Erfahrung ist demnach ein wirkliches ‚Gehen und Sehen‘ als Methode, ein Denken mit den Füßen“.
Nun, Heidegger dachte hier gründlich anders. Wer fehlte also, als 1931 in Halle die Kant-Gesellschaft mit den bekanntesten Philosophen Deutschlands tagte und einen Vortrag Nicolai Hartmanns kontrovers diskutierte? Richtig, Heidegger. Wer verweigerte sich, als 1931 und 1942 in den Sammelbänden „Systematische Philosophie“ die prominentesten Autoren dieser Jahre ihre Überlegungen zusammenfassten? Man kann das fortsetzen – Heideggers Überheblichkeit war wirklich einzigartig. Auch andere zeigten ein solides Selbstbewusstsein, aber seine Hybris nahm schon fast manische Züge an, und er akzeptierte nicht einmal die Größen seiner eigenen Zeit als Gesprächspartner.
Warum – das ist die zentrale Frage dieses Buches – wurde Heidegger 1933 zum Nationalsozialisten? Wurde ein der weltabgewandten Forschung beflissener Geist missbraucht, als ihm das Rektorat der Freiburger Universität übertragen wurde? Trug sich Heidegger mit den besten Absichten, als er seine Vorlesungen mit dem „Deutschen Gruß“ begann oder mit seinen Studenten Wehrsport trieb? War es also ein Unfall, ein vorübergehender Irrtum, der nichts mit seiner Philosophie zu tun hatte, oder lag die Nähe zum Nationalsozialismus in der Konsequenz seines Denkens und seiner fragwürdigen Persönlichkeit? Oliver Precht gibt darauf eine sehr entschiedene Antwort, die weder ein gutes Licht auf den Charakter Heideggers wirft noch seine mit diesem Charakter verwobene Philosophie so ganz unberührt lässt. Denn es geht Precht um den Nachweis, dass Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus in der Konsequenz seiner Philosophie lag; kein Betriebsunfall, sondern eine folgerichtige Entwicklung. In Prechts Analyse bestand für Heidegger die Aufgabe der Philosophie darin, „dem Nationalsozialismus einen geistlichen und nachträglichen Überbau zu liefern.“
Mit seinem Buch zeigt Precht, dass es Heidegger niemals um irgendeine Sache ging, sondern immer und wirklich einzig und allein um ihn selbst. Das gilt nicht zuletzt auch für seine Interpretationen der Denker der Vergangenheit, die Precht so charakterisiert: Heideggers Verfahren „entspringt allerdings keiner romantischen Vorliebe für das Fragmentarische, sondern dem radikalen Desinteresse an der Lehre und der Philosophie der jeweils untersuchten Philosophen.“ Heidegger sucht sich eben die passenden Zitate für seine Erzählungen – sie dienen ihm als Illustrationen, nicht mehr.
Wer das Buch Prechts in die Hand nimmt, um eine Einführung in die Philosophie Heideggers zu bekommen, wird enttäuscht werden, aber eine Einführung war ja auch gar nicht das Ziel des Autors. Vielmehr ging es ihm um das fragwürdige Selbstverständnis eines Philosophen, den es von Anfang an in die falsche Richtung getrieben hat. Heidegger spricht in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von der „Irrnis“, in die seine eigene Zeit und so auch er geraten sei; und weil er groß dachte, musste er „groß irren“. Wenigstens das dürfte ihm geglückt sein. „Das Irren“, resümiert seinerseits Precht im letzten Satz seiner Untersuchung, „ist nicht das Schicksal oder das Wesen des Menschen oder der Philosophie, sondern das Ergebnis einer Entscheidung.“ Und diese war ganz offensichtlich falsch.
Prechts Buch verrät eine enorme Textkenntnis, und seine Einsichten werden auf eine übersichtliche Weise in genau hundert Abschnitten (oder Kurz-Kapiteln) präsentiert, so dass die Lektüre immer angenehm bleibt – auch dank des unpolemischen Tons. Allerdings ist sein Resümee, das er im „Epilog“ gibt, für Heidegger vernichtend. Precht nimmt das Platonische Höhlengleichnis auf, aber in seinem Gleichnis geht der Philosoph Heidegger nicht ins Helle, sondern tritt „eine katastrophale Irrfahrt ins Dunkel der Höhle“ an.
Oliver Precht: Heidegger. Zur Selbst- und Fremdbestimmung seiner Philosophie
Felix Meiner 2020
312 Seiten, auch als eBook erhältlich
ISBN: 978-3787338108
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