Vierundzwanzig Jahre nach seinem Tod ist ein weiteres posthumes Werk des Philosophen Hans Blumenberg erschienen, zusammen mit seiner seinerzeit ungedruckten Dissertation.
Was bedeuten „wirklich“ oder „real“? Sind das zwei gleichbedeutende Begriffe? Hat sich ihre Bedeutung seit den Tagen der alten Griechen oder dem Mittelalter womöglich verschoben? Sollte jedes Zeitalter seinen eigenen Begriff von der Realität haben? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich das „Realität und Realismus“ überschriebene Buch Blumenbergs, dessen Ursprünge sehr weit zurückliegen, denn seine ältesten Teile lassen sich in den Beginn der siebziger Jahre datieren. Und druckfertig war das Manuskript noch lange nicht, als sein Autor 1996 starb.
Gleich zu Beginn – schon im zweiten Satz – legt Blumenberg Wert darauf, dass seine Interessen nicht „ontologisch im gegenwärtigen philosophischen Gebrauchssinn des Wortes“ seien, sondern seine Argumentation auf den „pragmatischen Sinn“ (9) ziele, wie dieser eine Epoche auszeichne, mit der er sich dann auch ändere. Das wäre zunächst das teils geistesgeschichtliche, teils geschichtsphilosophische Interesse eines Autors, dessen epochenübergreifende Belesenheit schon fast legendär ist. Und er enttäuscht uns nicht, denn er beginnt bei den alten Griechen, um, immer dicht an den Quellen, über das Mittelalter und die frühe Neuzeit zur Gegenwart vorzustoßen. Dabei zeigt er sich extrem sensibel für kleinste, von anderen überlesenen Bedeutungsnuancen, wie er es schon oft bewiesen hat.
Blumenberg argumentiert durchgehend als Phänomenologe, also gewissermaßen bewusstseinsintern. Bezeichnend ist es zum Beispiel, dass er Einsichten der Gestalttheorie anspricht oder auf „das menschliche Wirklichkeitsverhältnis“ zielt. Ganz im Sinne des Autors schreibt der Herausgeber in seinem Nachwort über den modernen Wirklichkeitsbegriff, dass dieser sich dadurch auszeichne, „daß ‚Erscheinung‘ das wird, was das Subjekt prozeßhaft, als Reihung von Ansichten, das heißt von Schaumomenten in der Zeit, konstituiert.“ Es verändern sich die Perspektiven, wogegen der Wandel des Objekts selbst auf diese Weise gar nicht in den Blick kommt. Dem Begriff der Realität nähert sich Blumenberg einzig und allein aus der Sicht des Subjekts und deshalb an keiner Stelle im Vokabular einer objektiven Ontologie. Das ergibt eine Mischung aus Psychologie, Phänomenologie und Geistesgeschichte, gewürzt mit allerlei aphoristisch zugespitzten, gelegentlich paradoxen und entsprechend ironischen Weisheiten. Der Text besitzt also seine Schwierigkeiten, liest sich aber trotzdem sehr gut, denn Blumenberg war ein Stilist von hohen Graden.
Wir müssen an dieser Stelle einen Blick in eine andere Neuerscheinung werfen, auf Blumenbergs 1947 an der Universität Kiel eingereichte Dissertation, die erst jetzt, anlässlich seines hundertsten Geburtstages, im Druck erscheint. Damals waren alle Bemühungen, einen Verlag zu finden, ergebnislos, und das kann man gut verstehen, denn die Zeit war schwierig, und die Thematik dieses Buches ist eine sehr spezielle. Und schon wegen der vielen, allerdings in dieser Ausgabe durch die Herausgeber übersetzten altsprachlichen Zitate ist es auch kein ganz einfaches Buch.
Bevor ich den Inhalt anspreche, muss ich auf die Probleme aufmerksam machen, mit denen der hochbegabte Blumenberg nach seinem glanzvoll bestandenen Abitur zu kämpfen hatte. Dank des Antisemitismus des Regimes – Blumenbergs Mutter zählte auch Juden zu ihren Vorfahren – musste er das Priesterseminar in St. Georgen nach nur einem Jahr wieder verlassen und sein Studium privat weiterführen. Unter anderem der Lübecker Industrielle Heinrich Dräger unterstützte ihn, dazu einige Hochschullehrer. Wie leidenschaftlich Blumenberg studiert und gearbeitet hat, zeigt seine nur zwei Jahre nach Kriegsende eingereichte Dissertation, die ihrem Verfasser auch unter ungleich günstigeren Umständen alle Ehre eingetragen hätte. Aber so? Man steht fassungslos vor dieser Schrift, die nicht allein eine unglaubliche Kenntnis der scholastischen Philosophie verrät. Denn eigentlich sind seine Fähigkeit, subtilste Unterscheidungen zu bemerken bzw. zu treffen, oder sein Mut zu epochenübergreifenden Charakteristiken noch bemerkenswerter. Und schließlich ist schon hier zu sehen, dass dieser Autor ausgezeichnet schreiben konnte.
In seiner Arbeit beschäftigt sich der junge Blumenberg mit mittelalterlicher Philosophie, aber auch in ihr geht es abseits aller philosophiehistorischen Überlegungen um „die Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit“: „Wie nun steht es mit dieser Wirklichkeit, um die es im philosophischen Verhalten geht?“ Eine ontologische Frage ist das also auch schon damals nicht, und wirklich heißt es nur eine Seite später, dass es darauf ankomme, den „immer schon außen verweilenden und sogar das eigene Selbst von außen gewahrenden Blick des Menschen nach innen zu wenden.“
Mit dieser Formulierung wird „unsere Weise des Wirklichkeitserlebnisses“ fokussiert – das ist eine Fragestellung, die Nicolai Hartmann 1934 in seiner „Grundlegung der Ontologie“ mit Blick auf Heideggers „Sein und Zeit“ ausdrücklich zurückweist, weil sie darauf hinauslaufe, „alles überindividuell Geistige, allen objektiven Geist, von Grund aus […] zu entkräften und zu entrechten“. Hartmann fand nicht die Fragestellung selbst fragwürdig, sondern ihre Kennzeichnung als Ontologie. Der junge Blumenberg kennt Hartmanns Werk und zitiert es auch in dem abschließenden Kapitel seiner Arbeit, um ihm explizit zu widersprechen – in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Bewusstsein, in der Hartmann es sehe, sei das Sein „eben nicht befragbar“. „Die Einheitsstruktur des In-der-Welt-Seins ist der einzig mögliche Horizont der Seins-Frage überhaupt.“
Ein anderer Ausgangspunkt als die Analyse des menschlichen Bewusstseins und seiner lebenspraktischen Vollzüge (dem „In-der-Welt-Sein“) ist für Blumenberg nicht denkbar, obwohl er diesen alltäglichen Vorgängen keinen Blick gönnt, weder hier noch in seinen späteren Schriften. So ist es Heidegger, der für ihn wichtig ist und an dem er sich orientiert. Immerhin scheint es, dass Blumenberg sich der von Hartmann beschworenen Gefahr bewusst ist, denn er schreibt, dass sich die Philosophie „nicht in der Faktizität der menschlichen Wirklichkeitserfahrung auflösen“ dürfe.
Blumenberg will in seiner Dissertation zeigen, wie sich der griechische Realitätsbegriff als ungenügend erwies. Das Einzelne wird immer als „‘Fall‘ oder ‚Exemplar‘ seiner Art“ verstanden, sprich: als etwas, das einem Idealen untergeordnet werden kann. Der noch ganz von Heidegger und seinem Pathos eingenommene Blumenberg dagegen zielt auf die „je einmalige und einzige Wirklichkeit, der es um sich selbst geht, die sich selbst zur Entscheidung aufgegeben ist“. Das ist genau die Position, gegen die sich Hartmann gewandt hatte. Es geht Heidegger und seinem Adepten um den Menschen, denn wer sonst, wenn nicht der Mensch, ist „sich selbst zur Entscheidung aufgegeben“?
Zurück zu dem posthum erschienenen Fragment über „Realität und Realismus“. Wie man sieht, ist seine Fragestellung eine ähnliche; oder besser: es hat die Fragestellung der Dissertation aufgenommen, differenziert und weitergeführt, aber es hat nicht die Blickrichtung auf das Bewusstsein korrigiert. Das vorletzte Kapitel „Zur Anthropologie des Realisten“ hätte Blumenberg trotz seiner geliebten Ausflüge in eine weitgehend phantasierte Vor- und Frühzeit des Menschentums auch „Psychologie des Realisten“ überschreiben können. Ist es nicht paradox, möchte man hier fragen, sich unter diesen Umständen mit Wirklichkeit zu beschäftigen? Denn der Phänomenologie untersucht doch das Bewusstsein und dessen Erscheinungen, blendet aber ganz systematisch deren Realität aus.
Der Titel – stammt er von Blumenberg selbst? – spricht von Realität, während im Text selbst fast immer von Wirklichkeit die Rede ist, also von einer der drei Kategorien der Modalität (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit). Aber in diesem Sinne von Wirklichkeit zu sprechen, wäre Ontologie. Schließlich besteht „Realität […] im Grad der Unabhängigkeit vom Subjekt“. (205) Nein, in diesem Sinne spricht Blumenberg nicht von dem »Wirklichen«, sondern für ihn ist es das, „worauf man sich beruft“ – schließlich geht er vom Subjekt aus. „Man“ will hier ganz im Sinne Heideggers als Mensch im alltäglichen Leben (im „Besorgen“) übersetzt werden. Dieser Sprachgebrauch und dieses Interesse setzen sich deutlich genug von der Ontologie ab und weisen auf die Lebenswelt als das „Universum der Selbstverständlichkeit“, also einer vortheoretischen Welt.
Alltagssprachlich kann man das, „worauf man sich beruft“, sehr gut als Realität durchgehen lassen, aber in der klassischen Philosophie wird Realität als Gegensatz zur Idealität verstanden, und es war oft genug Thema, die unterscheidenden Punkte zu benennen. Ein wesentlicher ist die schiere Menge der Eigenschaften, die etwas Reales auszeichnen; ein anderer der Wechsel dieser Eigenschaften, also ihre Ablösung in der Zeit, weil sich die Realität stets und ständig wandelt, während das Ideale sich selbst immer gleich bleibt; endlich der dichte Zusammenhang der Wahrnehmungen, der keinen Riss kennen darf.
Wenn Blumenberg den Realitätsbegriff der Neuzeit behandelt, wird allein diesem dritten Punkt Aufmerksamkeit geschenkt. Die beiden anderen spielen nicht einmal eine Nebenrolle. Oder vielleicht doch der eine, aber erst auf den letzten Seiten des Manuskripts, auf denen es um den Begriff der Realität in der Kunst geht und Blumenberg über eine kleine Narbe schreibt, die das ideale Porträt eines schönen Menschen in ein realistisches Bild verwandelt. „Realität ist, was das Konzept durchbricht, auch und gerade das einer Ideologie.“ Blumenberg nennt das „die Technik der Stigmata für Realismus“. Das aber ist eigentlich nur ein Beispiel für das Reale, nicht sein Begriff.
Das Ideale, sagt Ortega y Gasset, „badet nicht am Ufer der Zeit“, und drückt damit in der wohl kürzesten und elegantesten überhaupt denkbaren Form den Unterschied zwischen dem Idealen und dem Realen aus, den Blumenberg an keiner Stelle bedenkt.
Für die Antike spricht der Autor von der „momentanen Evidenz“, welche die Realität auszeichne (also ein kurzes Aufleuchten von großer Intensität), wogegen den Realitätsbegriff der Neuzeit das fugenlose Zusammengehen der verschiedensten Sinneseindrücke ausmacht. Blumenbergs Kronzeuge für diesen Begriff der Realität ist Leibniz, wenn er von „einer bruchlos-einstimmigen Sphäre von Bildern“ spricht (warum von Bildern?), und als Fachterminus bietet sich ihm als einem intimen Kenner der Scholastik die „Compatibilitas“ an, die Übereinstimmung. Ein besonders schönes Zitat weiß er von Newton, das er einmal auf Latein, später auf Englisch vorträgt; zunächst heißt es „natura est semper sobi consona, die Natur ist immer mit sich selbst in Übereinstimmung“, danach, „sie sei always consonant with itself.“ (102)
Könnte sich eine solche Übereinstimmung von Wahrnehmungen auch rein bewusstseinsintern vorfinden, etwa als eines von jeder Realität ungeküssten Systems aus mathematischen Zeichen oder als die Vorstellungswelt eines Menschen, der mit geschlossenen Augen träumt und dennoch, wie es nach Blumenberg Leibniz für möglich hielt, der Erkenntnis teilhaftig wird? Würde man dergleichen immer noch als Realität bezeichnen? Als einen Vertreter dieses Wirklichkeitsbegriffes, nach dem auch ein in sich geschlossener Traum Wirklichkeitscharakter besitzt, sieht Blumenberg tatsächlich Leibniz an, den er so, was man nun vielleicht doch ein wenig unhistorisch finden könnte, in Zusammenhang mit der Phänomenologie bringt. Mir scheint dieser Wirklichkeitsbegriff (oder diese Idee) eine Gemeinsamkeit von Mathematikern zu sein, zu denen bekanntlich auch Husserl zählte, der Vater der Phänomenologie.
Natürlich ist der Text von „Realität und Realismus“ als eine posthume Veröffentlichung keinesfalls perfekt, aber er ist doch in einem sehr guten, vor allem auch ziemlich fortgeschrittenen Zustand. Warum eigentlich hat Blumenberg dieses Projekt aufgegeben? Fühlte er sich dem Thema nicht gewachsen? Fand er selbst Mängel in seiner Argumentation? Hätte er nicht auch dann, wenn er sich von der traditionellen Ontologie abheben will, doch trotzdem das Gespräch mit ihr suchen müssen, so wie es seine Dissertation mit den wenigen Bemerkungen zu Hartmann wenigstens andeutet?
Ein anderes Desiderat ist eine Philosophie des Leibes. Das Kapitel zu diesem Thema ist nicht einmal fünf ganze Seiten stark, und das mag daran liegen, dass dem Autor die Orientierung an psychoanalytischen Denkmustern selbst fragwürdig wurde, mit denen es anhebt, so dass er seine Überlegungen nicht fortsetzen mochte. Vielleicht hätte er eine Philosophie des Leibes in einer Auseinandersetzung mit der „Neuen Phänomenologie“ von Hermann Schmitz vorantreiben können? Aber dessen Philosophie findet sich, wenn ich es richtig sehe, in keinem seiner Bücher dargestellt oder kritisiert. Überhaupt scheint es, dass seine philosophiehistorische Methode, die gelegentlich durch etwas fragwürdige „Gedankenexperimente“ ergänzt wird, nicht ausreicht. Wie wollte man sich auf diese Weise einem so elementaren Phänomen wie dem Schmerz nähern? Denn gibt es etwas Realeres als ihn? Hätte er nicht ganz unbedingt ein Thema sein müssen?
Blumenbergs Dissertation zeigt einen so ungewöhnlich begabten wie gelehrten jungen Denker im Aufbruch. Deutlich zeichnen sich die Themen ab, mit denen er sich noch als renommierter Philosophieprofessor herumschlagen wird, aber man erkennt auch seine Befangenheiten, vor allem die (über-) große Bedeutung, die Heidegger für ihn besitzt.
Bei beiden Arbeiten handelt es sich um außergewöhnliche, das Niveau anderer philosophischer Veröffentlichungen deutlich übersteigende Bücher, und auch wer Blumenbergs Ausführungen nicht in allen Punkten zu folgen vermag, wird in ihnen vielen Anregungen begegnen.
Hans Blumenberg: Realität und Realismus
Herausgegeben von Nicola Zambon, Suhrkamp 2020
232 Seiten
ISBN 978-3518587461
Hans Blumenberg, Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie
Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann, Berlin 2020
232 Seiten
ISBN 978-3518587454
YouTube-Video:
„Hans Blumenberg – Der unsichtbare Philosoph“ – Trailer (2:05)
Der Film „Hans Blumenberg – Der unsichtbare Philosoph“ ist als DVD im Handel erhältlich
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