In sechszehn Porträts beschreibt der Journalist und Chefredakteur der „Welt-Gruppe“, Ulf Poschardt, was er sich unter Mündigkeit vorstellt.
Nicht wenige Begriffe scheinen in den letzten Jahrzehnten ihren Sinn verloren zu haben. Wer wollte die „Welt“ heute noch ein konservatives Blatt nennen?
„Conservativ“ wird in den Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts als „die Erhaltung befördernd“ definiert, aber sowohl die Redakteure der angesprochenen Zeitung als auch Politiker der großen Parteien würden eine solche Qualifizierung als Unverschämtheit zurückweisen. Ausnahmslos alle haben sich den großen Wandel auf die Fahne geschrieben und stehen vorbehaltlos für Mobilität, Modernisierung und in den Worten ihres Chefredakteurs dafür, „fundamental wirklich alles zu ändern“. Das Schlimmste, was die Nachfahren der Konservativen kennen, ist in den Worten dieses Autors „Bremsendes und Entschleunigendes“.
Früher war die „Welt“ wirklich ein konservatives Blatt, und es wäre absolut undenkbar gewesen, dass eine Prostituierte unter dem Titel „Das Kanarienvögelchen“ eine (mittlerweile abgesetzte) Kolumne schreiben darf. Und auch die Kolumnen von Politclowns wie Don Alphonso oder Henryk M. Broder wird wohl niemand als konservativ oder seriös ansehen.
Man braucht die „Welt“ gar nicht zu lesen, um zu wissen, dass für all dies der Journalist Ulf Poschardt steht. Seine Kommentare und gelegentlichen Fernsehauftritte sind nicht selten gezielte Provokationen, auch wenn wir unterstellen wollen, dass er seine wirklichen Überzeugungen vertritt und es ihm nicht um Selbstdarstellung geht. Eigentlich kämpft er immer für das Auto, dem er eine großartige Zukunft prophezeit und welches er als „das dynamische Etui des Einzelnen“ ansieht. Weil ich das oben angesprochene Wörterbuch noch immer neben mir liegen habe, riskiere ich einen Blick und finde, dass ein Etui „ein Futteral für allerlei Kleinigkeiten“ ist. Aber ob der Autor sich selbst für eine Kleinigkeit hält?
„Guten Tag, f**** euch alle“, so beginnt Poschardt sein Buch und fährt fort: „So müsste man erst mal durch die Tür hineinstürmen, wenn in einer Zeit, in der alles möglich ist, das Unmögliche kommt und alle auf eine magische Art mit allem überfordert sind.“ In den folgenden Zeilen deutet er dann an, dass er für die Überforderung einerseits „Technologien“, andererseits die Moral verantwortlich macht. Aber was bedeutet es, „dass die Autonomie des Einzelnen ihre Schwere verliert“? Ist die Autonomie jetzt federleicht? Ich verstehe das ebenso wenig wie die Behauptung, wir seien „auf magische Art mit allem überfordert“. Wohl wahr, überfordert fühle ich mich oft – aber was soll daran magisch sein? Und ist es nicht ein klein wenig allgemein, von „Technologien“ und „Moral“ zu sprechen? Könnte man das etwas genauer haben?
Poschardt versteht sich selbst als Hedonisten, als einen Menschen, der das Leben zu genießen weiß. „Mit der Nachhaltigkeit“, so verrät er, „kommt der Verzicht“, und Verzicht schmeckt keinem Hedonisten; die „protestantische Verzichtsethik“, die ein konservatives Blatt vielleicht hochhalten würde, ist seine Sache nicht. Ebenso wenig Bescheidenheit. „Die Enge als Geste der Bescheidenheit führt zu eingezogenen Bäuchen und geduckter Kopfhaltung“. Und schon kommt der zwanghafte Autovergleich, der das ganze Buch durchzieht: „Es ist wie das Platznehmen in einem engen Sportwagen – ohne den Rausch der Beschleunigung.“
Deshalb demonstriert dieser Genießer, dass auch „Champagner trinken praktizierter Naturschutz sein“ kann, denn nur auf diese Weise – durch den Konsum des Schaumweins – können die Korkeichenwälder der mediterranen Welt bewahrt werden. Hier kann man Poschardts Hedonismus sogar nachvollziehen, aber warum Autofahren nicht nur Vergnügen machen, sondern einen Autor derart in Beschlag nehmen kann, dass sein Buch mit dem Loblied auf das Autofahren und noch dazu auf Autorennen kreuz und quer durchzogen ist – das kann man oder das kann ich nicht verstehen.
Was bedeuten folgende Zeilen, in denen er „die Heroik“ des verunglückten Rennfahrers Senna zu einer Heiligenlegende umformt? „Sie“, nämlich die Heroik, „folgte den Spuren christlicher Mündigkeit in eine fast schwärmerische Mystik. Er verdreht die Logik der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und wollte das Göttliche in sich spüren.“ Sennas „gefühlte Gottesnähe gipfelt in einer Epiphanie nach dem Gewinn der ersten Weltmeisterschaft.“ Man braucht diesen Autor nur zu zitieren, und schon wird aus einer Besprechung eine Satire. Kann man denn dergleichen überhaupt ernst meinen?
Nein, konservativ ist Poschardt nicht, aber noch viel weniger ist er ein Linker. Ohhh, sehr viel weniger! Denn wenn er jemanden nicht leiden kann, dann sind es „mit Sozialhilfen gepolsterte Gentrifizierungsgegner“, denen der Hedonist eine „unansehnlich lustlose, linksradikale Existenz“ attestiert. Wie Poschardt sind sie jedenfalls nicht, also keine freien Menschen.
Sein Buch kennt keine Fußnoten und auch kein Literaturverzeichnis, aber offensichtlich versteht sich Poschardt als Pop-Intellektueller, der sich gern auf die verschiedensten Philosophen beruft. Mal auf diesen, mal auf jenen, und immer wieder gern auf Kant, von dem er denkt, dass seine berühmte Preisschrift „Was ist Aufklärung?“ eine Reaktion auf die Globalisierung war. In Königsberg erfuhr Kant eine Wirtschaft, „die anfing, den ganzen Globus zu umfassen.“ So verstehen wir: „Die Wirtschaft machte die Welt vernünftiger“.
Nicht allein diese Kant-Interpretation ist neu (nennen wir sie „neu“), sondern ebenso neu ist die Kombination zweier Geisteshelden, die in dieser Weise wohl noch niemand nebeneinander gestellt hat, Theodor W. Adorno (zu seinen Lebzeiten und noch lange darüber hinaus eines der großen Feindbilder der Springerpresse) und Ayn Rand, die russisch-amerikanische Autorin, die hierzulande so ziemlich unbekannt ist, aber in den USA mit ihrem Loblied auf den Unternehmer „Atlas wirft die Welt ab“ einen gigantischen Einfluss auf die extreme Rechte ausübt. Wer eine Krankenversicherung oder Arbeitsschutzmaßnahmen für Teufelszeug hält, der holt sich eben dort seine Argumente.
In sechzehn Kolumnen behandelt Poschardt alle möglichen Typen: „Der mündige Intellektuelle“, „Der mündige User“ oder „Die mündige Frau“, wo er gegen Greta Thunberg und Luisa Neubauer polemisiert. Sie agieren „radikal marktmoralwirtschaftlich“, und das kann er ihnen nicht durchgehen lassen. „Die moralische Erpressung (Zorn, Tränen, Apokalypse) hat die Tendenz, das Ideal des kühlen, vernunftzentrierten Dialogs unter mündigen Bürgern“ – also die Domäne des strengen Autors – „zu untergraben.“
Und immer bleibt er seiner schmissig-journalistischen Art treu. In dem Kapitel über den Künstler schreibt er über Punk- und Pop-Bands, außerdem noch über Josef Beuys. Hauptsache, es sind bekannte Namen – anderes als Mainstream scheint er nicht zu kennen. In jedem Fall handelt es sich um einen völlig charakterlosen Eklektizismus, dargeboten in einem atemlosen, mit merkwürdigen Fremdwörtern gewürzten Stil.
In seinem Nachwort schreibt der Verleger im Stil seines Autors, Poschardts Buch sei „eine Gesellschaftstheorie auf der Höhe des 21. Jahrhunderts. Man muss sie volle Pulle auf sich wirken lassen und alle Register aufdrehen.“ Aber, fügt er hinzu: „Ganz normale Feiglinge sollten die Finger davon lassen.“ Nun, vielleicht nicht nur die.
Ulf Poschardt: Mündig
Klett-Cotta 2020
271 Seiten, gebunden, E-Book
ISBN: 978-3-608-98244-2
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