82 Jahre nach dem Freitod Egon Friedells liegt – endlich! – das letzte Kapitel seiner „Kulturgeschichte des Altertums“ vor, und jeder, dem die Gedanken dieses großartigen Schriftstellers über die römische Kultur bis Augustus wichtig sind, kann sie jetzt in einer separaten Publikation kennenlernen.
Zwischen 1927 und 1931 erschienen die drei Bände der „Kulturgeschichte der Neuzeit“, eines Buches, das sich seit Jahrzehnten in diversen Ausgaben verkauft und damit einen der Pfeiler des Sortiments des Beck-Verlages bildet. Bis heute kann man es uneingeschränkt empfehlen, seiner großartigen Sprache und seiner lebendigen Darstellung wegen.
So umfangreich das Buch auch ist – ich habe diesen Folianten mehrfach gelesen und stehe damit nicht allein da. Die ungemein lebhaften Schilderungen sind immer fesselnd und anschaulich, und das Besondere an ihnen besteht nicht zuletzt darin, dass dieser ebenso gebildete wie meinungsfreudige Autor wirklich alles bespricht, nicht etwa nur die hohe Kultur. Militärtaktik wird in einen Zusammenhang mit Philosophie, Mathematik und Mode gestellt, und auch die Esskultur wird nicht vergessen, sowenig wie die Benimmregeln, die große Politik oder die Religion. Ihm geht es um den wirklichen Menschen, und der „wirkliche Mensch ist der Mensch des Tages und des täglichen Lebens, der Mensch der kleinen Wünsche und der großen Lasten“. Und alles würzt dieser Autor mit seiner persönlichen und gelegentlich sehr eigenwilligen Stellungnahme, denn aus Ablehnung oder Zustimmung, aus Bewunderung oder Verachtung macht er niemals ein Hehl. Das Ergebnis ist die funkelnde und bunte Physiognomie verschiedener Kulturen – sie bekommen ein Gesicht, das dem Leser wirklich vor Augen steht.
Angesichts des großen Erfolges der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ verabredeten Verlag und Autor eine Fortsetzung. Das Mittelalter sollte es nicht sein – leider, denn zu Beginn der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ zeigt Friedell, wie farbig er auch diese Epoche, die er eigentlich nicht mochte, darzustellen versteht und wie interessant eine solche Darstellung hätte werden können. Merkwürdig ist es auch deshalb, weil Friedell ein ganz entschiedener Christ gewesen ist, er aber nur den nichtchristlichen Teil der Antike darstellten wollte, nicht das frühe Christentum und nicht das christliche Mittelalter.
Es kommt nicht oft vor, dass ein Autor den paradox benannten Unterschied zwischen den beiden theologischen Hauptrichtungen des Mittelalters, zwischen Realismus und Nominalismus, so geschickt darstellen kann, dass ein jeder ihn versteht (so geschickt, im Vertrauen gesprochen, dass sogar ich ihn verstehe). Aber Friedell wandte sich lieber dem Altertum zu, von dem er selbst leider nur noch den ersten Band über Ägypten, Kreta und das alte Israel herausbringen konnte. Denn gleich nach dem Einmarsch der Deutschen in Wien – dem „Anschluss“ Österreichs – wählte er den Freitod und stürzte sich aus seiner im dritten Stock gelegenen Wohnung auf die Straße. So musste der zweite Band, die „Kulturgeschichte Griechenlands“, bis 1949 warten. Einer seiner Mitarbeiter hatte das Manuskript gerettet. Es war dann ein vergleichsweise schmales Buch von 353 Seiten mit nur zwei Kapiteln, „Ionischer Frühling“ und „Der Welttag Athens“ überschrieben.
Manche Leser dachten, dass noch ein dritter Band geplant gewesen war, der das antike Rom bis zu dessen Untergang hätte darstellen sollen, aber tatsächlich fehlte allein das dritte und letzte Kapitel des zweiten Bandes. Wer aufmerksam den Untertitel gelesen hat, musste das eigentlich wissen, denn als Thema des Buches erscheint ausdrücklich „Leben und Legende der vorchristlichen Seele“, und so spricht Friedell im allerletzten Absatz von „Der Schatten der Antike“ (oder wollte sprechen…) über Jesus Christus, auch wenn er dessen Namen nicht nennt: „In diesen Tagen des Lasters und der Leere, da der Welt nur die Wahl gegeben schien zwischen dem Grab und dem Grauen, wurde in einer fernen, verachteten Provinz ein sonderbarer Mensch geboren. Der verstand von der Philosophie mehr als Plato und vom Erobern mehr als Alexander und erlöste die Menschheit.“
So geht es also um das Rom bis zu Cäsar und Augustus. Der vorliegende Text ist noch nicht wirklich druckreif ausgearbeitet, aber es handelt sich um weit fortgeschrittene Vorarbeiten, welche die Struktur des fehlenden Kapitels deutlich machen. An einigen Stellen hat der Herausgeber Passagen aus anderen Schriften Friedells eingesetzt, von denen er wahrscheinlich machen kann, dass Friedell auf sie zurückgegriffen, sie also übernommen hätte. Manches andere ist bloß stichwortartig.
Fehlenden Interesses wegen ist dieses dritte Kapitel nicht im Beck-Verlag erschienen, sondern im kleinen Mantis-Verlag. Herausgeber ist Heribert Illig, der bereits vor Jahrzehnten seine germanistische Dissertation über Friedell geschrieben und in den achtziger Jahren mehrere Bücher über Friedell herausgegeben hat, darunter die Essaysammlung „Abschaffung des Genies“.
Illig hat den Text erfasst, fremdsprachige Zitate übersetzt, griechische Wörter transkribiert und dem Ganzen eine Liste von Erläuterungen und Anmerkungen (als Endnoten) sowie eine Liste der von Friedell benutzten Literatur hinzugefügt. Es finden sich auch einige Abbildungen und sogar ein Index. Schließlich erzählt er in einem Nachwort die Geschichte der Edition. Ein Mitarbeiter Friedells hatte das Manuskript des zweiten Bandes gerettet, so dass es 1949 erscheinen konnte – aber eben ohne das abschließende Kapitel, das Illig von Dorothea Zeemann zeitweise überlassen wurde, die mit Friedells Mitarbeiter liiert gewesen war und diesen Schatz in einem Koffer verwahrt hatte. Als letzter Beitrag findet sich noch eine Beschreibung der Arbeitsweise Friedells.
Man kann nicht mitten in der Corona-Krise über Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ schreiben, ohne auf eine merkwürdige, heute vielleicht sogar anstößige Formulierung zu sprechen zu kommen: Was bedeutet es, dass er von der „Erfindung der Pest“ spricht? Sie bedeute das Ende der Welt, wie wir sie kennen, sagt man von der Corona-Pandemie; eben das hätten auch (und haben vielleicht wirklich) einige sehr kluge und vorausschauende Köpfe über die Pest sagen können, als sie in Europa wütete und binnen weniger Jahre ganze Landstriche entvölkerte.
Meint Friedell mit „Erfindung“, dass es die Schwarze Pest gar nicht gegeben hat, dass es sich bei ihr um ein trumpsches Fake handelte? Nein, das meint er keineswegs, sondern er zielt darauf ab, diese furchtbare, die europäische Mentalität verändernde Seuche als ein Symptom zu deuten, denn für ihn ist es „der Geist, der sich den Körper baut: immer ist der Geist das Primäre, beim Einzelnen wie bei der Gesamtheit.“
Deshalb kann Friedell über den Beginn der Neuzeit sagen, dass ihr Geist „in der europäischen Menschheit eine Art Entwicklungskrankheit, eine allgemeine Psychose [erzeugte], und eine der Formen dieser Erkrankung, und zwar die hervorstechendste, war die schwarze Pest.“ Und im Anschluss daran zeigt er mit der ihm eigenen Sprachgewalt das von der Pest erregte entsetzliche Leid, um von dort aus auf die „Parallelepidemie“ zu sprechen zu kommen, „ein weiteres Symptom der allgemeinen Psychose“. Konkret ist damit die Geißelung gemeint, überhaupt die religiöse Überhitzung der Zeit – dem Ausgang des Mittelalters – mit dem Veitstanz, den Judenpogromen, der „ungesund aufgedunsenen Lebensfreude“. Friedell denkt, dass dies alles „wirkliche Zeichen“ waren, „deutliche Äußerungen eines wunderbaren Zusammenhanges des gesamten kosmischen Geschehens.“
Egon Friedell: Der Schatten der Antike. Das bislang fehlende Schlusskapitel der „Kulturgeschichte des Altertums“.
Herausgegeben von Heribert IlligMantis Verlag 2020
157 Seiten
ISBN 978-3928852555
Egon Friedell: Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients: Leben und Legende der vorchristlichen Seele
489 Seiten, 978-3406440540
Egon Friedell: Kulturgeschichte Griechenlands: Leben und Legende der vorchristlichen Seele
361 Seiten, 978-3406380617
Diverse Ausgaben der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ im Beck-Verlag und bei DTV.
Homepage des Mantis Verlages mit dem Buch Friedells
Abbildungsnachweis:
Header: Antiker Tempel in Selinunt, Sizilien. Foto: Pxhere
Portrait von Egon Friedell (1878-1938), Fotografie aus dem Jahr 1930. Österreichischer Schriftsteller, Kulturphilosoph, Religionswissenschaftler, Historiker, Dramatiker, Theaterkritiker, Journalist, Schauspieler, Kabarettist und Conférencier. Foto: Barakovich. Gemeinfrei. Quelle: ANNO Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften.
Buchumschlag
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