Unter der Frage nach der Sterblichkeit eines allmächtigen Gottes haben sich acht Reden und Artikel des Germanisten und Medientheoretikers Jochen Hörisch versammelt. Es sind im eigentlichen Wortsinn Essays, nämlich Versuche, in denen es nicht um Belehrung oder um die Zusammenfassung einer Lehre geht, sondern darum, auf Punkte aufmerksam zu machen, über die nachzudenken sich lohnt.
In der Hauptsache kommt es dem Autor auf die Paradoxien an, die sich um den Kern des christlichen Glaubens gebildet haben. Wie kann ein unsterblicher Gott sterben? Dieses Faktum und damit die Bedeutung des sonst sträflich vernachlässigten Karsamstags – dem Tag zwischen dem Tod am Kreuz und der Auferstehung, den Jesus im Reich des Todes verbringt – betont Hörisch immer wieder. Andere Paradoxien sind die Mutterschaft einer Jungfrau oder das merkwürdige Faktum, dass Gottvater und Sohn gleichaltrig sein sollen. Es sind diese nicht allein widersprüchlichen, sondern von vielen als anstößig empfundenen Lehren, von denen zunächst die christliche Religion, aber mit ihr auch unsere Kultur geprägt ist. Und spätestens von diesem Punkt an wird es wichtig auch für jene von uns, die religiös eher unmusikalisch sind, wie man heute sagt.
Der erste, der die Absurditäten des christlichen Glaubens aussprach, war Tertullian mit seinem „Credo quia absurdum est“ (ich glaube, weil es widersprüchlich ist). Und später war es Luther, in dessen Schriften die angesprochenen Paradoxien und noch andere dazu betont werden. „Es dürfte Luthers bis heute größtes Verdienst sein,“ schreibt Hörisch, „die auffallende Paradoxieverliebtheit der christlichen Religion nicht zu tabuisieren, sondern zu exponieren.“ Besonders kommt es ihm dabei auf den Widerspruch zwischen der behaupteten Allmacht Gottes und seiner gleichzeitigen Ohnmacht an: „Ein Gott, der nicht sterben, der nicht nicht sein kann, wäre nicht allmächtig.“
Wenn es stimmt, dass Religionen mit ihren Sinnbildern, ihren Lehrsätzen und ihren zahlreichen Tabus und Verboten Gesellschaften prägen, dann sollten diese Paradoxien auch für die profane Kultur eine wesentliche Rolle spielen. Also auch für uns, die wir eher unmusikalisch sind.
Außer dem langen Vorwort sind es acht Aufsätze und Reden, in denen sich Jochen Hörisch mit dem Protestantismus und einigen ihrer prominenten Gestalten beschäftigt. Als Germanist interessiert er sich für die ungeheure sprachschöpferische Potenz des Reformators, der eine ganze Reihe von Worten und sprichwörtlichen Wendungen prägte, bei denen uns sein Copyright oft gar nicht mehr bewusst ist, und dazu war dieser wortgewaltige Herr ein Mann, der den eben erst erfundenen Buchdruck so zu nutzen wusste, dass ihn Hörisch als „Medienfreak“ bezeichnen und ihn mit dem „exilierten Tonbandprediger Ajatollah Khomeini“ vergleichen kann. Für Luther war Christi Reich „ein hör Reich, nicht ein sehe Reich“, wie es in seiner Schrift „Über Bilderbücher“ heißt. Dem Reformator kam es auf das Wort an, nicht auf das Bild.
Luther Gottesvorstellung ist der „deus absconditus“, der verborgene Gott, der bereits die Theologie des etwas älteren Nikolaus von Kues bestimmt und mit dessen Idee es sich nicht vereinbaren lässt, dass das Bild dem Gläubigen eine transzendente Welt vorgaukelt. Hier liegt der Ursprung der Bilderfeindlichkeit des Protestantismus, die dank des Genies eines Lucas Cranach in der Predella der Wittenberger Stadtkirche ihren schönsten Ausdruck fand.
Von den sich anschließenden Aufsätzen seien drei herausgegriffen. Der intellektuell wahrscheinlich anspruchsvollste Essay – neben dem Vorwort – ist ein Beitrag zu einem Schleiermacher-Kongress, in dem Hörisch der doppelten Bedeutung des Wortes „Subjekt“ nachgeht, das in der Zeit Schleiermachers, also in der Hochzeit des Deutschen Idealismus, einerseits Untertan bedeutete, andererseits das Individuum meinte, das sich seiner Einmaligkeit bewusst ist.
Dann geht es um den Urwaldoktor Albert Schweitzer, „den ethischen Popstar“ der Nachkriegsjahre, der für viele Jahre eine ganz unglaubliche Popularität und allerhöchstes Ansehen genoss. Aber Schweitzer war kein Engel, sondern ein Mensch mit Fehlern und dazu ein Kind seiner Zeit. Hörisch gelingt es sehr gut, die Bedeutung dieses Mannes, der in der Nähe des Äquators ein Lazarett aufbaute und dort unter schwierigen Umständen jahrzehntelang wirkte, herauszuarbeiten, ohne seine Schwächen zu verschweigen. Ein Autor mit seinen Interessen schaut dabei auf Selbst- wie Fremdinszenierung und weiß sie ins Verhältnis zu setzen.
Ein weiterer Aufsatz beschäftigt sich mit der ökonomischen Symbolik von Bibeltexten, die Hörisch am Beispiel des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter bespricht. Unübersehbar ist es, so der Autor, „wie eng ökonomisch-finanzielle und religiös-theologische Probleme und Motive miteinander verwandt sind.“ Dabei haben solche Motive in sehr vielfältiger Weise in unsere Sprache Einzug gehalten – man denke nur einmal an das Talent, das jemand hat oder auch nicht. Wir meinen damit die Begabung, die einem Menschen auf den Weg gegeben wurde, aber in der Bibel ist mit Talent zunächst eine Währung gemeint, der aber ganz offensichtlich noch eine andere Bedeutung zukommt. In den Worten Franz Vonessens (in seinem „Leviathan“): „Begabung ist Schuld, aber eine glückliche Schuld.“ Man bekommt etwas mit auf den Weg, das man nutzen muss, wenn man nicht vor sich selbst schuldig werden soll. Hörisch, dem es um den barmherzigen Samariter und die Bedeutung der tätigen Hilfe zu tun ist, stellt nicht allein auf dessen prompte Hilfeleistung ab, sondern zusätzlich darauf, dass er Geld gibt, denn der barmherzige Samariter bringt den Kranken zu einem Wirt, legt diesem eine Münze in die Hand und verspricht noch mehr bei seiner Rückkehr, wenn es teurer werden sollte.
Es sind intellektuell anregende, jederzeit interessante und dazu stilistisch ansprechende Essays, für die man nicht religiös zu sein braucht, um ihre Lektüre zu genießen.
Jochen Hörisch: Kann ein allmächtiger Gott sterben? Luthers Lust an Paradoxien und ihre Folgen.
Verlag der blaue Reiter, Hannover 2020162 Seiten
ISBN: 978-3933722706
Abbildungsnachweis:
Header: Lucas Cranach d. J. Martin Luther als Prediger Predella des Cranach Altars in der Stadtkirche St. Marien der Lutherstadt Wittenberg 1547, Altartafel
- Buchumschlag
- Albert Schweitzer. Quelle: Bundesarchiv Bild 183-D0116-0041-019
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