Wer liebt Insekten? Schmetterlinge mögen schön sein, Bienen nützlich, aber Mücken oder Wespen? Eigentlich sind wir doch froh, dass wir ihnen überhaupt nicht mehr begegnen! Manchmal sind sie nur lästig, manchmal eklig oder sogar widerlich, und fremd und unverständlich sind sie auf jeden Fall.
Die letzten Jahre allerdings haben uns gelehrt, warum es Insekten unbedingt geben muss: ohne sie steht es schlecht um Mutter Erde und damit auch um uns. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil des Lebens auf der Erde, und ihre dramatische Reduktion stellt ein sehr ernsthaftes Problem für Pflanzen wie für viele Tiere dar. Es gibt also gute Gründe, sich mit ihnen ganz ernsthaft zu beschäftigen.
Einer, der das über Jahrzehnte hinweg getan hat, war ein kleiner, bescheidener Lehrer in Südfrankreich, dessen Bücher ihm bereits zu Lebzeiten Ruhm eintrugen und sogar einen gewissen Wohlstand sicherten. Mit Büchern über Wespen… Dank einer sehr schönen illustrierten Gesamtausgabe seiner „Erinnerungen eines Insektenforschers“ wird Jean-Henri Fabre (1823 – 1915) endlich auch in Deutschland gelesen. Höchste Zeit also, auf die Edition seiner „Erinnerungen“ im Verlag Matthes & Seitz aufmerksam zu machen, denn es sind Bücher, die über die Jahre hinweg nichts von ihrem Reiz verloren haben, wie es so vielen anderen widerfahren ist. Maurice Maeterlinck zum Beispiel, der gefeierte Nobelpreisträger von 1911, der über Ameisen geschrieben hatte – Maeterlinck ist ganz und gar vergessen. Und mit Recht. Wer seine Bücher heute in die Hand nimmt, der zuckt mit den Achseln.
Fabre dagegen… Eigentlich war er Verhaltensforscher, wohl einer der ersten überhaupt. In Südfrankreich, wo er fast sein ganzes Leben verbrachte, scheint es eine ganz ungeheuerliche Vielfalt von Insekten gegeben zu haben, die er alle genau kannte, beobachtete und für seine Leser beschrieb. Dabei ging es ihm weniger um das Aussehen der Insekten als vielmehr um ihr Tun und Treiben, vor allem um die Jagden der vielen verschiedenen Wespen. Er schaute zu, wie sie sich ihre Opfer holten, sie betäubten, einsperrten und als lebendige Speisekammer für ihren Nachwuchs missbrauchten. Bis der kleine Mathematiklehrer aus der Provinz kam und genauer hinschaute, hatte alle Welt geglaubt, dass die Wespen die Grillen oder andere Insekten töteten, bevor sie ihre Eier auf sie legten. Aber Fabre zeigte, dass die Jäger mit geradezu chirurgischer Präzision den vorzeitigen Tod ihrer Opfer vermieden. Diese durften erst sterben, wenn sich der Wespennachwuchs durch ihren Körper gefressen und anschließend verpuppt hatte.
Fabre beobachtete nicht nur und notierte jede Einzelheit, sondern manchmal griff er auch ein, und kleine Experimente belehrten ihn über das Wesen ihrer Instinkte. Und alles wurde Schritt für Schritt in einer Weise beschrieben, dass die Lektüre noch heute Freude macht. Was war es, das ihn zu einem so großen Schriftsteller machte?
In seinen besten, gar nicht so seltenen Momenten ist dieser Wissenschaftler ein Dichter. Aber nicht, weil er verblasen daherschreibt, sondern weil er mit einer fast unendlichen Geduld beobachtet und alles mit großer Präzision schildert, ohne voreilig großartige Theorien zu formulieren. Seine detailreichen und farbigen Schilderungen nehmen den Leser gefangen, aber es bleibt ja nicht dabei. Denn darüber hinaus sind Fabres Beschreibungen des Jagdverhaltens wie auch der Brutpflege der Insekten dramatische Erzählungen, die sehr oft im Gegensatz zu seinen Überzeugungen als Wissenschaftler stehen, die er während aller Bände seiner „Erinnerungen“ unmissverständlich ausspricht. Immer wieder widerrufen seine Analysen die eigenen Schilderungen und widersprechen die Protokolle seiner Beobachtungen seinen Überlegungen; und sie tun es immer und immer wieder.
Zum Beispiel zeigt er sich davon überzeugt, dass Insekten auch „nicht den Hauch von Intelligenz“ besitzen, sich also in der Starrheit ihres Verhaltens kaum von Maschinen unterscheiden, aber in seinen Erzählungen sind es Wesen, die sich fürchten, verwirrt sind und sogar Zärtlichkeit kennen. Oft erscheinen Insekten stark vermenschlicht, und er bewundert ihre Verwegenheit, ja Tollkühnheit, spricht ihnen List oder Gelassenheit zu, beobachtet Heimweh und einmal, bei einer Sandwespe, „Freudenbezeugungen“ und endlich einen „Triumphmarsch“. Neben seine nüchternen Bescheibungen tritt also die Schilderung unseres Erlebens – denn wahrscheinlich können wir gar nicht anders, als diesen Lebewesen, die doch wirklich Aliens für uns sind, Emotionen zuzusprechen, die den unsrigen vielleicht nicht entsprechen, aber doch gewisse Ähnlichkeiten aufweisen.
Das alles kann an einen holländischen Maler erinnern, an Otto Marseus van Schrieck (1619 – 1678), der im Sommer 2017 in einer großartigen Schweriner Ausstellung gefeiert wurde. Denn auch in dessen Bildern, in denen er die niederen Tiere – Insekten, vor allem Schmetterlinge, dazu Kröten, Frösche und Schlangen – abbildete, verbinden sich verschiedene, einander eigentlich ausschließende Ebenen. Er malte einerseits so genau, dass Fachleute in seinen Bildern mühelos die verschiedenen Pflanzen-, Käfer- oder Schmetterlingsarten unterscheiden können, aber andererseits schrieb er den Tieren ein Verhalten zu, von dem er genau gewusst haben muss, dass sie es niemals zeigen. So schnappen beispielsweise Schlangen nach Schmetterlingen, obwohl sie doch in Wahrheit Schmetterlinge gar nicht wahrnehmen. Aber dies verweist auf eine andere Ebene, eine allegorische, in der den Tieren und Farben eine religiöse oder alchemistische Bedeutung zugeschrieben wird, die mit ihrer Rolle in der Natur nicht unbedingt harmoniert. Es ist das In- und Gegeneinander dieser verschiedenen Ebenen, die van Schriecks Gemälde so beeindruckend machen.
Fabres Schriften sind so vieldimensional wie die Gemälde des großen Niederländers. Bei ihm kommt aber noch etwas anderes hinzu: er schreibt nämlich auch über sich selbst und seine Forschungen, und das ganz und gar uneitel. In einfachen Worten erzählt er von seinen Versuchen, von denen natürlich viele misslingen, und von seinen ersten Vermutungen, von denen sich viele als falsch herausstellen. Dabei rückt immer sein Umfeld mit in den Blick, sein bescheidenes Haus, sein Garten und das große Grundstück, das er nur erworben hatte, um auf ihm unzählige Wespen-, Bienen- und Spinnenarten zu beobachten.
Ein anderer, für viele heutige Leser fragwürdiger Aspekt ist die ganz naive moralische (Ab-) Qualifizierung der Tiere. Wie Marseus van Schrieck kann er manche Tiere leiden, andere nicht. Den Bienenwolf, eine Wespe, nennt Fabre einen „Leichenfledderer“, seine Nahrungsaufnahme eine „scheußliche Völlerei“, und er schimpft: Dieser „widerwärtige Schmaus“! Ähnlich abstoßend findet er Skorpione, obwohl er sich nicht im geringsten vor ihnen fürchtet, sondern sie sogar in seinem Haus duldet. Spinnen dagegen sind ihm merkwürdigerweise sympathisch, sogar die Vogelspinnen.
Zu den sachlichen Schilderungen und den teils naiven, teils poetischen Wertungen kommen autobiographische Einschübe, in denen er seiner Kinder und Eltern gedenkt, seinen Knecht rühmt, die Mithilfe der Dorfjungs beim Insektensammeln anspricht oder seinen Schreibtisch besingt. Der ist dann auch abgebildet – am Ende des neunten und damit vorläufig letzten Bandes –, und man kann es kaum fassen, an was für einem wackeligen kleinen Tischchen Weltliteratur entstanden ist. Seine ewigen Kopfschmerzen dagegen finden keine Erwähnung – dafür fand er sich selbst nicht bedeutend genug. Insgesamt, wenn man alle Perspektiven zusammennimmt, vermitteln die „Erinnerungen“ das schillernde Bild zweier kleiner Welten: seiner eigenen wie das der Insekten.
Diese Widersprüchlichkeit und Tiefe ist es, die sein Gemälde der Insektenwelt so realistisch einfärbt: Fabre belässt es ja niemals dabei, animalisches Verhalten moralisch zu beurteilen, sondern ergänzt diese erste, in ihrer Naivität noch ganz natürliche Reaktion durch einen wissenschaftlichen Blick, der anschließend in einen mal persönlichen, mal ganz sachlichen Zusammenhang eingeordnet wird. Denn es geht Fabre immer um den Weg von den „Einzelheiten zur Ansicht des Ganzen“, und das, indem er es „in den zauberhaften Mantel der bildhaften Sprache“ kleidet.
Aber es gibt noch andere Gründe, warum Fabre ein so gut lesbarer Autor ist, und sie zeigen zugleich seine Qualitäten als Wissenschaftler. Er war das Gegenteil eines Ideologen, der seine Beobachtungen so lange zurechtbiegt, bis sie in seine Theorien passen. Vielmehr zeigt er sich immer offen, und wenn er Fragen stellt, dann sind diese meistens keineswegs bloß rhetorisch gemeint. Er kann sie zwar manchmal, aber bei weitem nicht immer beantworten. Sein lakonisches „Ich weiß es nicht.“ ist nicht etwa ein Understatement oder ein rhetorischer Trick, sondern Ausdruck einer tiefen Skepsis, die sich bis zu einem entschiedenen Agnostizismus steigern kann: „Wir sind Blindgeborene angesichts der unergründlichen Geheimnisse, die uns umgeben, es stellen sich tausend und abertausend Fragen, ohne eine mögliche Antwort.“ Besonders gilt das für seine Überlegungen zum Instinkt, dessen Entstehung er sich nicht zu erklären weiß. Die Überzeugungen seines Briefpartners Darwin waren nicht die seinen, und das „Entwicklungsdenken“ (die Evolutionstheorie) hielt er für eine bloße Modeerscheinung.
Wie unorthodox der studierte Autodidakt Fabre dachte – er war schließlich Mathematiklehrer, kein Biologe –, wie wenig er von jeder Art Lehrbuchwissen hielt und wie viel bedeutender ihm einerseits die Beobachtung in der Natur selbst, andererseits die Offenheit seines Geistes war, das demonstriert er selbst am Beispiel Louis Pasteurs, der einmal an seine Tür klopfte und um Hilfe bat, als er, Pasteur, noch nicht berühmt war. Es ging um die Metamorphose von Seidenraupen, von der Pasteur keinerlei Vorstellungen besaß – und dennoch sollte es dem großen Forscher gelingen, erfolgreich gegen eine Seuche anzukämpfen, die in jenen Jahren die französischen Bestände verwüstete.
Fabre, der über die Metamorphose genauestens Bescheid wusste, war jeder Hochmut fremd – vielmehr bewunderte er Pasteur, der den Seidenraupenzüchtern ja dann auch wirklich helfen konnte. Diese Anekdote benutzte er, um sich gegen alle voreiligen Theorien, ja sogar gegen jedes (Lehr-) Buchwissen auszusprechen. Vielmehr machte er es sich „zur Pflicht […], bei meinen Forschungen über die Instinkte die Methode des Nichtwissens anzuwenden. Ich lese wenig. […] Ich weiß nichts. Umso besser, meine Untersuchungen werden darum nur noch freier sein, heute in eine Richtung, morgen in die entgegengesetzte, wie es den erreichten Einblicken entspricht.“
Seine „Erinnerungen eines Insektenforschers“ sind ein ganz wunderbares, menschliches berührendes Buch, und dazu sind sie eine Ansammlung von sehr ernsthaften Fragen, die bis heute auf eine Antwort warten.
Â
Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers.
Bände 1-9. Matthes & Seitz Berlin 2009-2018- Weitere Informationen
- Leseprobe
Abbildungsnachweis:
Header: Otto Marseus van Schrieck: Waldboden mit blauen Winden und Kroete, 1660.
Mit freundlicher Genehmigung des Staatliches Museum Schwerin. Foto: Elke Walford
Portrait of Jean Henri Fabre, vor 1910. Foto: Félix Nadar
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment