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Henri Bergson

Es sollte sein letzter großer Text bleiben: 1932, fünf Jahre, nachdem ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, veröffentlichte Henri Bergson, von schwerer Krankheit gezeichnet, sein Alterswerk: „Die beiden Quellen der Moral und der Religion“.
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Zu seinen Lebzeiten war Bergson fast ein populärer Autor – obwohl er keineswegs ein Popular-Philosoph war, der sein Publikum mit flotten Sprüchen unterhielt. Vielmehr sind seine beiden Hauptwerke, „Materie und Gedächtnis“ und „Schöpferische Entwicklung“, Bücher von hohem Anspruch, in denen er die wissenschaftliche Literatur seiner Epoche ausgiebig zitiert und von seinen Lesern Aufmerksamkeit und Geduld verlangt. So waren seine Erfolge schon erstaunlich, zumal er mit seiner Kritik an Materialismus und Darwinismus nicht unbedingt dem Zeitgeist huldigte. Aber eben deshalb sind die beiden genannten Werke noch heute lesenswert – die meisten seiner Argumente haben ihre Kraft nicht eingebüßt – und auch „Die beiden Quellen der Moral und der Religion“ kann man bedenkenlos empfehlen.

Bergsons Gesamtwerk ist von zwei Hauptgedanken bestimmt. Wichtig ist zunächst der Gegensatz von messbarer Zeit und dem lebendigen Zeiterleben, das durch die Intuition erfasst wird. Die unbelebte Natur ist in der Terminologie Bergsons der Raum, aber als das Fundament der Freiheit wird die Dauer angesehen. Die Dauer ist für ihn die ungegliederte, sich jeder Messung entziehende Zeit, wie sie ein Bewusstsein durchströmt. Irrationalismus war ein Vorwurf, der wegen der Hochschätzung der Intuition schon früh gegen ihn erhoben wurde. In in seiner Spätphilosophie spricht er endlich selbst ganz ungeschminkt von „Mystik“, einem Begriff, den er zuvor eher vermieden hat, der aber im Begriff der Intuition schon angelegt ist.

In einer ausführlichen Rezension Ernst Cassirers, die dem Text als eine sehr gelungene Einführung vorangestellt wurde, wird Bergsons Begriff der Mystik kritisiert. In seiner ganz selbstständig und souverän argumentierenden Besprechung findet es Cassirer falsch, dass Bergson die Mystik allein „als eine vorwärtsdrängende, als eine in das Leben eingreifende und das Leben gestaltende Macht“ beschreibt. Das „Moment des Quietismus“, das doch ebenso dazugehöre, könne von der Intuition nicht erfasst werden, weil diese sich allein auf Phänomene des Lebens richtet.

Andererseits nimmt Bergsons Spätwerk den Dualismus seiner Naturphilosophie auf, in der er das animalische Leben in zwei Entwicklungslinien sieht, dem Instinkt (dem Reich der Insekten) und der Intelligenz (dem Reich der Wirbeltiere, vor allem des Menschen). Diesen Polen entsprechen die geschlossene (statische) und die offene (dynamische) Moral; so wenig wandlungsfähig, wie es der Instinkt ist, scheint auch die geschlossene Gesellschaft mit ihrer statischen Religion, so beweglich wie die Intelligenz die offene Gesellschaft mit ihrer dynamischen Religion.

Wenn Bergson über die geschlossene Gesellschaft schreibt, spricht er sehr häufig von „Instinkten“: Der „soziale Instinkt […] zielt immer […] auf eine geschlossene Gesellschaft ab, mag sie auch noch so groß sein.“ Diese Gesellschaft zeichnet eine Enge nicht zuletzt des Herzens aus, der man bis heute (und vielleicht vor allem heute) immer wieder begegnet – zum Beispiel im Hass auf Flüchtlinge oder überhaupt auf alles Fremde.

Benson, Henri COVER Meiner VerlagDer Titel des Buches scheint etwas unglücklich gewählt, denn Bergson spricht eigentlich gar nicht über die beiden Quellen der Moral („Le deux sources“), sondern über ihre extremen Formen. Bei der Lektüre musste ich immer wieder, um mir diese beiden Formen zu veranschaulichen, an das Alte und das Neue Testament denken, obwohl als eine Veranschaulichung der statischen Religion auch die indigenen Gesellschaften angesehen werden können, wie sie von den großen französischen Ethnologen erstmals in der Zeit seit der Jahrhundertwende beschrieben worden waren. Leider geht Bergson auf die entsprechenden Arbeiten, die er sicherlich kannte, überhaupt nicht ein.

Die dynamische Religion stellt das andere Extrem dar. Bergson war keinesfalls ein reiner Theoretiker, sondern ein dem Pragmatismus nahestehender Denker, wie man an vielen Stellen auch dieses Werkes sieht „Bevor man philosophiert“ , schreibt er, „muß man leben.“ Denn für den Philosophen Bergson ist das „Denken auf das Handeln gerichtet“. Und eben dies wird deutlich, wenn er den Mystiker ins Auge fasst, der für ihn einzig und allein als ein tätiger, sich seiner Umgebung zuwendender Lehrer der Menschheit denkbar ist – eben das hat ja schon Cassirer moniert.

Allerdings, nicht alle Kulturen können einen solchen Denker hervorbringen. Zunächst klingt es noch neutral, wenn Bergson über den Mystiker sagt, dass seine „Intelligenz und seine Phantasie […] die Lehren der Theologen benutzen, um in Worten auszudrücken, was er fühlt, und in körperhaften Bildern, was er sieht.“ Hier kann man wirklich denken, dass für Bergson eine andere Mystik denkbar ist als die christliche (der Buddhismus, das Derwischtum…), aber tatsächlich akzeptiert er allein die christliche, vielleicht sogar allein die katholische Mystik, ja er geht sogar so weit, davon zu sprechen, dass „Mystik und Christentum […] einander ins Unendliche“ bedingen.

Wenn man solche Sätze liest, könnte man denken, dass Bergson als Jude zum Katholizismus konvertiert war, aber tatsächlich unterließ er diesen ihm naheliegenden Schritt angesichts des europäischen Antisemitismus Anfang der dreißiger Jahre. Vielmehr wollte er mit seinen jüdischen Mitbürgern solidarisch bleiben. Dafür musste er bitter büßen, denn am 4. Januar 1941 starb er an einer Lungenentzündung, die er sich geholt hatte, als er in der Kälte zur Registrierung als Jude anstehen musste.

Für mich ist die Naturphilosophie Bergsons der eigentlich wichtige Teil seines Werkes, aber das ändert nichts daran, dass ein derart gedankenreiches und differenziert argumentierendes Werk wie „Die beiden Quellen der Moral und der Religion“ enorm anregend ist. Der ruhig und sachlich argumentierende, niemals polemische Vortrag dieses Philosophen ist in jeder Hinsicht ein angenehmes Leseerlebnis, und mit dem Gegensatz von statischer und dynamischer Moral bzw. Religion hat er zweifellos einen wichtigen Aspekt angesprochen.

Dieser Ausgabe liegt keine Neuübersetzung zugrunde, wie sie zuletzt in der Philosophischen Bibliothek veröffentlicht wurden, sondern die erste, nur unwesentlich korrigierte Übersetzung von Eugen Lerch von 1933. Die Rechtschreibung dieser Übersetzung wurde dankenswerter Weise beibehalten.

Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion

Aus dem Französischen übersetzt von Eugen Lerch.
Mit einem Aufsatz von Ernst Cassirer: „Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie“.
XXXVII, 335 Seiten, k
artoniert.
ISBN 978-3-7873-3181-9
Felix Meiner Verlag, 2019
Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Autorenportrait, unbekannter Fotograf. Quelle: Wikipedia

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