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Melchior Palágyi Der Gegensatz von Geist und Leben

Nicht viele Philosophen sind so gründlich vergessen wie der Ungar Melchior Palágyi (1859-1924). Wirklich berühmt war er nie, aber doch geschätzt von so hochkarätigen Autoren wie Ludwig Klages oder Arnold Gehlen.
Heute sind die Originalausgaben seiner Bücher kaum noch antiquarisch erhältlich, und so muss die von Herausgeber Heiko Heublein getroffene Werkauswahl ein eminent verdienstvolles Unterfangen sein.

Gleich der erste Beitrag, ein im Original 1896 auf Ungarisch veröffentlichter Zeitschriftenaufsatz, macht den Unterschied zu heutigen philosophischen Veröffentlichungen deutlich. Das „Insichgehen“, mit dem Palágyi den Anfang der Philosophie beschreibt, erklärt die Philosophie zu einem Besinnen auf die eigentlichen Grundlagen des Menschseins – der Artikel spricht in einfachen, klaren Sätzen die radikale Individualität des Menschen an, sein Eingeschlossen-Sein in das eigene Selbst: „Durch Gesten, Gesichtsausdruck, Stimmen, Zeichen, und mit der Sprache können wir miteinander verkehren, fühlen und denken: aber dies verändert nichts an unserer vollkommenen Einsamkeit. Zu der Seele des anderen können wir nicht hinüberkommen, ins Gefühl des anderen können wir nicht eindringen, ins Bewußtsein des anderen können wir nicht einbrechen, nie können wir uns sagen, daß sein Gefühl oder Gedanke uns gehöre.“

Damit wird von vornherein ein ganz anderer Ton angeschlagen, als wir ihn in der heutigen Philosophie hören; und ebenso neu war diese ebenso einfache wie eindringliche Sprache Ende des 19. Jahrhunderts. Palágyi wurde zu den ersten Vertretern der Lebensphilosophie, die heute gern als irrational denunziert wird. Aber kaum etwas könnte verkehrter sein, wie es nicht zuletzt diese Werkauswahl verdeutlicht.

Sie enthält eine ausführliche Einleitung des Herausgebers und dazu in vier Kapiteln selbstständige Artikel oder Ausschnitte aus Palágyis Büchern. Das erste Kapitel ist pychologischen oder anthropologischen Phänomenen wie Traum, Schlaf oder dem „Insichgehen“ gewidmet, das zweite behandelt die Polarität als einen Grundzug des Lebens, das dritte seine sehr eigenständige, für Klages und Gehlen wichtige Wahrnehmungslehre. Der vierte Abschnitt endlich enthält Ausschnitte aus seiner von Physikern scharf abgelehnten Raum- und Zeitlehre, die er in Konkurrenz zu Einsteins Relativitätstheorie formulierte.

Philosophisch besonders wichtig sind das zweite und das dritte Kapitel. Das zweite Kapitel zeigt, dass die Entwicklung eines Menschen ihren Ursprung „in gegensätzlichen Bewußtseinsimpulsen“ hat, in einem stetigen Wechsel von „Sach- zu Selbstbesinnung“. Schon die Terminologie deutet auf die Verwandtschaft mit der Philosophie von Ludwig Klages. Wie später Klages, so beschwört Palágyi eine „das Ich ausmachende Geistigkeit und Lebendigkeit (Geist und Seele = Nus und Psyche).“ Es war unter anderem dieser Gedanke der Polarität und des steten Wechsels, des In- wie Gegeneinanders von Vitalität und Geistigkeit, der Klages so sehr beeindruckte.

Sehr bedeutend ist die Kritik am Empirismus, die in den damals völlig neuen Gedanken der Bewegungsphantasie mündet. Zunächst hatte Palágyi beim Säugling beobachtet, in welcher Weise die gezielte Bewegung der Hand auf die Blickrichtung des Auges und damit auf die Vorwegnahme der Bewegung angewiesen ist, und ging von dort aus weiter zu einer für die philosophische Anthropologie wesentlichen Unterscheidung. Klages widmet diesem Gedanken das 62. Kapitel seines Hauptwerkes („Vom Bewegungserlebnis“), und auch Gehlen lehnt sich im 17. Kapitel von „Der Mensch“ ganz an die Darstellung Palágyis an und unterscheidet mit ihm ein Empfindungs- von einem Bewegungserlebnis, also sensorische von motorischen Phantasmen.

Mit seiner Unterscheidung versucht Palágyi den Vorgang der Wahrnehmung zu verstehen, kann aber auch erklären, wie wir geometrische Formen wahrnehmen: indem wir nämlich in Gedanken die Linien eines Dreiecks nachzeichnen. Klages, Gehlen und wohl auch Viktor von Weizsäcker („Der Gestaltkreis“) führten diese Überlegungen fort, die bis heute geeignet sind, Irrtümer zu korrigieren, wie sie die Bücher Thomas Metzingers („Der Ego-Tunnel“) oder auch die Ausdeutung des Libet-Experiments bestimmen. Aus einer der tatsächlichen Bewegung um den Bruchteil einer Sekunde vorhergehenden Aktivität des motorischen Zentrums des Gehirns wurden (und werden leider immer noch…) sehr weitgehende Schlussfolgerungen gezogen, die vor allem auf eine Leugnung der Willensfreiheit hinauslaufen, aber im Lichte der Philosophie Palágyis stellt sich das alles etwas anders dar.

Die informative Einleitung durch den Herausgeber gibt dem Leser nicht allein biografische Hinweise, sondern weist auch auf die Bedeutung Palágyis für Lebensphilosophie und philosophische Anthropologie hin und formuliert zusätzlich Anregungen, wie seine Beobachtungen und Überlegungen fortzuführen sind. À la longue kann diese Edition natürlich nicht die Ausgabe seiner Hauptwerke, insbesondere seiner Wahrnehmungslehre, ersetzen, aber bis dahin darf man dem Herausgeber wie dem kleinen Albunea-Verlag dankbar sein für diese kluge Auswahl aus den Schriften eines sehr wichtigen, sehr zu Unrecht vergessenen Autors.

Melchior Palágyi, Der Gegensatz von Geist und Leben. Schriften zur schöpferischen Verbindung von Erkenntnistheorie und Vitalismus.

Herausgegeben von Heiko Heublein, München 2018
Albunea-Verlag
ISBN: 978-3937656236

Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Headerfoto gemeinfrei, Buchumschlag, Albunea Verlag

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