„Hier sitzt er und würde doch lieber woanders sitzen“, so beginnt das dritte Buch der 42jährigen Autorin Saskia Henning von Lange. Der Mann befindet sich hinter dem Lenkrad eines Autos, genauer gesagt, am Steuer eines Lastwagens.
Der Mann denkt an seine Kindheit, an seine Mutter, an gemeinsame Autofahrten und wundert sich, dass er allein im Auto ist. Hinter ihm im Laderaum ist nur irgendeine Fracht, die genauso gut eine andere sein könnte. Und weil das so ist, interessiert die Fracht ihn auch überhaupt nicht. „Denn eigentlich fahre ich ja nur, damit ich fahren kann, denkt er, damit ich von dir wegkomme.“
Er will wegkommen von der Frau, die ein Kind von ihm erwartet. Weg von der Zivilisation. Weg von deren Anforderungen. Wir Leser kommen nicht so schnell weg von diesem Roman. Er lässt uns nachdenklich zurück. Ihr neues Buch, den Roman „Hier beginnt der Wald“, stellte die Autorin im Rahmen der 27. LiteraTourNord im Lübecker Buddenbrookhaus vor.
Es handelt sich hierbei um eine Grenzüberschreitung, stellt Birte Lipinski, Leiterin des Buddenbrookhauses eingangs fest. In knappen Sätzen schildert die Autorin in ihrem neuen Roman die Flucht eines Mannes vor den Ansprüchen der Zivilsation. „Am liebsten würde er mit dieser Straße verschwinden“, heißt es an einer Stelle des Romans über diesen Mann im Lastwagen, der seine Frau verlassen hat, weil sie ein Kind von ihm erwartet. Ein Kind, das er nicht will. Denn: „Sie hatten beide schon genug miteinander zu tun, da brauchte es kein Kind.“ Und nun – so scheint es – braucht er nicht einmal mehr sie, ist einfach davongefahren, hat diesen Job angenommen, nur um wegzukommen. Wegzukommen aus seinem alten Leben, wegzukommen von ihr. „… er wird nicht zurückkommen“, sagt er sich. Und dieses Kind, das braucht er genauso wenig wie er sie braucht, nämlich gar nicht. Er will nicht an das Kind denken, will sich nicht wiedererkennen in dem Kind, will auch sie darin nicht wiedererkennen, „denn dich sehe ich sowieso die ganze Zeit vor mir.“ Was für eine tragische Situation. Und wie einfach geht Saskia Henning von Lange mit dieser Situation sprachlich um. Sie erzählt schmucklos, beschreibt eindeutig und schafft genau deshalb Mehrdeutigkeit.
„Alle ihre Bücher sind bislang aus vorwiegend männlicher Perspektive geschrieben“, stellte Birte Lipinski fest und fragte die Autorin, warum das so sei. „Es befreit mich beim Schreiben“, antwortete diese. Sie verlasse beim Schreiben ihre eigene Welt, die Welt als Ehefrau und Mutter von drei Kindern und begebe sich in eine völlig andere Welt. Zunächst habe sie aus der Ich-Perspektive geschrieben. Doch ihr Lektor habe gemeint, ein Perspektivwechsel würde mehr Distanz schaffen, gebe ihr als Autorin mehr Möglichkeiten zum Changieren - so changiert ihr Protagonist beispielsweise zwischen Tier und König, wie die Leiterin des Buddenbrookhauses befand - und fördere zudem beim Leser „die Unsicherheit der Wahrnehmung“. Und genau hierauf kommt es in diesem Roman an. Was ist wahr? Was ist real? Was ist Traum, Vergangenheit, Gegenwart? „Es geht mir um die Wahrhaftigkeit dieser Figur zwischen zwei Buchdeckeln“, erklärte Saskia Henning von Lange dem Lübecker Publikum. Sie sei kein Freund von Metaphern, auch wenn der Wald für deutsche Leser für vieles steht. „Lieber wäre es mir, es gibt nur den Text“.
Wie in ihren vorherigen Büchern geht es im dritten Buch der Autorin um eine Reise ins Innere, um Menschen in Situationen extremer Einsamkeit. Im Debüt Alles, was draußen ist zog sich ein todkranker Mann in ein anatomisches Museum zurück, um hier den Wachsabdruck seines eigenen Ohrs anzufertigen. In Zurück im Feuer verlor sich ein behördlicher Gutachter im Haus und dann in der Biografie von Max Schmeling. Im neuen Roman erzählt Saskia Henning von Lange von einem Namenlosen, der zunächst scheinbar nur unterwegs ist, um einen Job zu erledigen: Er soll einen Lastwagen voll Umzugsgut in eine andere Stadt bringen.
Was so harmlos beginnt, entwickelt sich bald zu einer abenteuerlichen Flucht - einer Flucht vor sich selbst, vor Kindheitserinnerungen, vor der Frau und dem gemeinsamen, noch ungeborenen Kind. Nach einem Unfall verkriecht der Mann sich im Wald. Hier kommt es zu einer Begegnung, die ihn herausfordert und mit sich selbst konfrontiert. Hennig von Lange gelingt es mit suggestiver Kraft, die zunehmende Verstörtheit ihres Helden und dessen Überforderung durch das Leben nachvollziehbar zu machen. Und das in einer präzisen, atmosphärisch dichten, musikalischen Sprache, die den Leser schon nach wenigen Seiten in Bann schlägt.
Wir fahren mit dem Helden „durch eine Welt, die sich ihm kaum zeigt“, die dennoch so präsent ist wie Welt nur sein kann. So präsent, dass alsbald der Lastwagen zur weltfernen Wohnung des Mannes wird: „hier kann er bleiben, hier ist alles, was er braucht“. Dieser namenlose Mann könnte hinfahren, wohin er möchte. Doch wohin geht seine Reise? Geschieht all das, was die Autorin uns in dieser Geschichte erzählt, wirklich? Oder ist alles nur Fiktion, eine Kopfgeburt des einsamen Helden, entstanden aus unbewältigten Erinnerungen, ängstlichen Träumen und zaghaften Sehnsüchten? Dieser Roman ist so träumerisch wie realistisch, so philosophisch wie pragmatisch. Die Autorin folgt ihrem Protagonisten stringent ins Abseits. Der Leser bleibt am Ende atemlos zurück.
Saskia Henning von Lange, Hier beginnt der Wald
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2018ISBN 9783990272169
Gebunden, 152 Seiten | E-Book: ISBN: 9783990271612
Abbildungsnachweis:
Header: Saskia Hennig von Lange Foto: Stefan Freund
Buchumschlag
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