Sie glaubt in dem professionellen Zyniker einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Ähnlich wie Robert Musils “Der Mann ohne Eigenschaften” hält sich Ada weniger für ein Einzelwesen als für ein Zeitgeistdestillat. “Unanfechtbarkeit. Das Geheimnis bestand darin, nichts weiter zu tun, als jene Fähigkeit zu genießen, mit der die Natur sie am großzügigsten ausgestattet hatte: die Gleichgültigkeit der eigenen Existenz gegenüber, “ heißt es bei Juli Zeh. Eigentlich beginnt diese ostentative Indifferenz sich grade in dem Moment aufzulösen, als Ada wirkliche tiefere Gefühle für den Jungen entwickelt, doch um die Wertschätzung ihres Mitstreiters nicht zu verlieren, macht sie notgedrungen weiter auf cool.
Alev will ein Exempel statuieren. Während im Unterreicht diskutiert wird, ob ein Staat sich im Namen der Freiheit in die Politik eines anderen einmischen darf, beschließt er den Deutsch- und Sportlehrer Smutek (Maximilian Brückner) aus dem selbstgebastelten Gefängnis seiner profanen Existenz zu befreien. Ein angeblich perfektes Opfer, da noch in der alt hergebrachten Werteordnung verfangen: Für Smutek, aus Polen geflohen, haben Begriffe wie “Ehre”, “Vaterland”, “Familie” eine Bedeutung. Er will es allen recht machen, Ehefrau, Kollegen, Vorgesetzten. Dafür empfinden die jugendlichen Protagonisten nur Verachtung. Als Nihilisten kritisiert, entgegnet Alev: “Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben konnten.” “Wir” ergänzt Ada, “sind die Urenkel der Nihilisten”.
Alev, der Dandy, kokettiert überall mit seiner sexuellen Impotenz, er lässt niemanden an sich heran, lächelt nur über das romantische Konzept der Liebe, nichtsdestotrotz reizt ihn die Intelligenz der rebellischen, kratzbürstigen 15-Jährigen. Er: Ich bin ein Spieler, Kleines. Sie: Spielst Du mit mir oder gegen mich? Er: Wirkliche Liebespaare sollten miteinander spielen. Sie: Was für ein Spiel ist das? Er: Ein Spiel, für das man stark sein muss. Ada soll den ahnungslosen Lehrer, der nach dem Selbstmordversuch seiner Frau grade mitten in einer Ehekrise steckt, in der Turnhalle verführen, Alev filmt sie aus einem Versteck. Von nun an erpresst er Smutek immer wieder mit seiner Schülerin Sex zu haben, er und seine Kamera sind immer dabei. Irgendwann eskaliert die Situation, aus Spiel wird blutiger Ernst.
Kaum eine andere talentierte deutsche Autorin musste sich manchmal so harsche Kritik gefallen lassen wie Juli Zeh. Mit Genuss zitiert sie oft selber auf dem Podium ihre Gegner: “apokalyptisch altkluge Angeberin und Schwallmadame “(Titanic), doch die positiven Rezensionen überwiegen mit Abstand. Die atemberaubende plastische Bildhaftigkeit des fast 600 Seiten starken Bestsellers lässt sich schwer in einem Film umsetzen. Aber Regisseur Gregor Schnitzler (“Die Wolke”, “Soloalbum”, “Resturlaub”) hat Erfahrung mit Romanadaptionen, er konzentriert sich auf den zentralen Konflikt, die Entstehung der perfiden Dreiecksbeziehung, löst sich weitgehend vom philosophischen Überbau, übernimmt nur wenige entscheidende Dialoge, der oft zitierte Robert Musil bleibt auch hier geistiger Mentor der Protagonisten. Smutek wird zur eher unbedeutenden Nebenrolle degradiert, die Ada auf der Leinwand ist um vieles empfindsamer, weniger radikal als im Roman. Sie sehnt sich nach ganz normaler körperlicher Nähe, aus der Überzeugungstäterin wird nun ein verliebtes Mädchen auf der Suche nach sich selbst. Alev ist nicht nur ihr dämonischer Verführer sondern am Ende auch ihr Befreier.
Der Film fasziniert durch die Wechselwirkung von stylish kühlen Bildern und literarisch ausgefeilten Wortgefechten. Der Ausflug in einen altmodisch rotplüschigen Strip-Club erinnert an Stanley Kubricks “Eyes Wide Shut”, die intensiven Rottöne an Altmeister Rainer Werner Fassbinder. Eine erste Einstimmung auf das monströse Experiment seiner Antihelden: die jungen Stripperinnen tragen Masken. Jeder versteckt sich hinter einer Fassade, Institutionen, Moral, Pragmatismus, Klassendünkel oder eben den Überzeugungen des Mannes ohne Eigenschaften. Jedes Spiel ist auch ein Doppelspiel. Alev fordert gekonnt Adas Eifersucht heraus durch sein Techtelmechtel mit einer blonden wunderhübschen Klassenkameradin. Menschen sind für ihn nur Mittel zum Zweck. Oder vielleicht auch nicht.
“Spieltrieb” steht in der Tradition der klassischen Schülertragödien wie Frank Wedekinds “Frühlings Erwachen”(1891), Ferdinand Bruckners “Krankheit der Jugend”(1926) und “Ödon von Horvaths “Jugend ohne Gott”(1937). Dort heißt es in einem Gespräch zwischen zwei Lehrern über die ihnen völlig fremd gewordene Generation: “Sie lesen alles. Aber sie lesen nur, um spötteln zu können. Sie leben in einem Paradies der Dummheit, und ihr Ideal ist der Hohn.” Das klingt ganz nach Alev und Ada. Doch die beiden gehen im 21. Jahrhundert noch weiter, lassen alle moralischen Werte hinter sich, akzeptieren kein Tabu. Sie sind nicht Opfer sondern Täter. Das Glauben als solches ist verpönt, woran auch immer. Ada: “Wahrscheinlich bin ich ohne Glauben zur Welt gekommen, wie andre ohne Arme oder Augenlicht geboren werden.” Sie spürt durchaus noch menschliche Regungen, doch sie unterdrückt sie ganz bewusst. So was ist für Dummköpfe oder Schwächlinge.
Juli Zeh sieht Alev und Ada als Prototypen des modernen Menschen an sich, nicht unbedingt als Jugendliche. Die Schule lediglich als eine Metapher für die Gesellschaft. Aber dann wurde das Buch viel an Schulen gelesen, und die Autorin hörte, dass sich manche sehr gut mit ihren Protagonisten identifizieren können. “Charakteristisch ist das Gefühl, nicht mehr in einer festgefügten Werteordnung zu leben. Die Welt ist durchökonomisiert, von Kapitalismus und Konsum bestimmt.” Als sie “Spieltrieb” schrieb, wusste sie noch nichts von der bevorstehenden Finanzkrise. “Inzwischen reden wir von ‘Zockern’ und ‘Global Playern’ und wissen, dass der Spieltrieb in einer global vernetzten Welt ganze Volkswirtschaften in Gefahr bringen kann” ergänzt sie. “Alles wird dem Prinzip der Effizienz untergeordnet. Viele Schüler erzählen mir, dass sie ohne Hoffnung und Neugier in die Zukunft schauen. Sie haben den Eindruck in einem Kriegszustand zu leben, wo es nur um Konkurrenz und Fortkommen geht und wo die Schwächeren auf der Strecke bleiben.”
Der Film funktioniert, weil die beiden Hauptdarsteller sich in ihrer Gegensätzlichkeit perfekt ergänzen. Sie garantieren für den ironischen Unterton des ungewöhnlichen Coming-of-Age-Epos. Grandios wie Michelle Barthel als Ada sich an ihre philosophisch prätentiöse Patzigkeit klammert, aggressiv und scheu zugleich, muskulös und zerbrechlich. Sie ist ein Widerspruch in sich, ein Kind, dass früh erwachsen werden musste, weil die Erwachsenen um sie herum sich wie Kinder aufführen, besonders ihre Mutter (Ulrike Folkerts). Die einzige moralische Instanz in Adas Leben und dem Film ist der körperlich behinderte Lehrer Höfi (Richy Müller) nur er war jederzeit ihrem Sarkasmus gewachsen, kontert mit gleicher Schärfe, beschützt sie liebevoll vor dem Unverständnis der anderen. Als seine schwerkranke Frau stirbt, nimmt er sich das Leben. Jannik Schümann gelingt es dem dubiosen narzisstischen Alev noch eine tragische Dimension zu geben. Er ist der eigentliche Verlierer in diesem Spiel.
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(ca. 4.57 Min.) B-Roll
Originaltitel: Spieltrieb
Regisseur: Gregor Schnitzler
Darsteller: Michelle Barthel, Jannik Schümann, Maximilian Brückner, Richy Müller, Ulrike Folkerts, Sophie von Kessel, Helmut Berger
Produktionsland: Deutschland, Länge: 102 Minuten, Verleih: Concorde Filmverleih
Kinostart: 10. Oktober 2013.
Buch: Juli Zeh Spieltrieb, Roman, Taschenbuch, Broschur, ca. 576 Seiten, ISBN: 978-3-442-74628-6
Foto-/Videonachweis: Alle Copyright Concorde Filmverleih
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