Jüdischer Humor ist ein Mittel der Erkenntnis und Lachen heilt, es regt das Immunsystem an und lindert sogar Schmerzen. Diese persönliche Erfahrung möchte der Wiener Psychotherapeut und Berater Kurt Fleischner nach Jahrzenten seiner vielfältigen Berufspraxis gerne weitergeben.
Sein Buch „Wenn der Rebbe lacht. Wie der jüdische Witz die Psychotherapie bereichert“ richtet sich zwar in erster Linie an Berufskolleginnen und Kollegen, seine Lektüre ist jedoch auch für jeden interessierten Laien ein aufschlussreiches Vergnügen.
Als Nachkomme einer Familie von Holocaust-Überlebenden hat Kurt Fleischner schon früh den speziellen jüdischen Humor als „eine rettende Insel inmitten eines Meeres unausgesprochener Trauer“ kennengelernt. In seinem Buch geht es daher nicht um das Weglachen von negativen oder schmerzhaften Gefühlen, sondern um die Mehrdeutigkeit jüdischer Witze, ihr Erkenntnispotential und wie sie hilfreich in Therapien und Beratungsgesprächen wirken können. Der Autor rät nicht dazu, möglichst viele Witze auswendig zu lernen, sondern die ihr innewohnende Haltung zu verstehen und zu verinnerlichen. Therapeuten und Berater sollten sich „wie ein Schwamm mit therapeutischen Geschichten, Metaphern und Witzen vollsaugen, sodass in einer bestimmten Situation der geeignete Witz herausquellen kann.“ Das ist ein anspruchsvolles Programm!
Die Eigenart jüdischen Humors zu erklären, überhaupt nach einem „jüdisch sein“ zu fragen, ohne in antisemitische Stolperfallen zu tappen, ist schwierig. Statt das weitschweifig zu erklären, liefert Fleischner dazu lieber einen Witz: „Zwei polnische Antisemiten treffen auf der Straße auf Moische. […] Einer von ihnen sagt: ‚Hast du schon gehört, Jude? Heute Nachmittag wird in Krakau ein jüdischer Dieb hingerichtet.‘ Moische antwortet: ‚Na und? Glaubst du, die Galgen sind nur für euch da?‘“
Das Prinzip, komplexe Zusammenhänge kurz zu umreißen, um sie dann verdichtet in einem Witz aufscheinen zu lassen, durchzieht das ganze Buch. Seine Vorgehensweise sieht Fleischner in der Tradition des Talmuds angelegt, die den jahrhundertelangen Diskurs zur Auslegung der Thora widerspiegelt. In einem Teil des Talmuds, der Mischna, ist die philosophische Diskussion jüdischer Gelehrten über die Bedeutung der göttlichen Gesetze festgehalten und sie ist sachlich gehalten. Der andere Teil des Talmuds, die Gemara, ist dagegen mit Fabeln, Sagen, Gleichnissen und Rätseln angereichert. So stellt der Talmud die Quelle des dialektischen jüdischen Denkens dar.
„Ein Rabbi stellt einem seiner Schüler die Frage: ‚Was ist besser? Ein schnelles Pferd oder ein langsames?‘ Die korrekte Antwort ist; ‚Es hängt davon ab, ob man in die richtige Richtung reitet…‘“
Kurt Fleischner benennt den hohen Anteil jüdischer Wissenschaftler an der Entwicklung von Psychologie und Psychoanalyse und weist auf die vergleichbare Rolle von Rabbi und Psychotherapeut hin. Die Autorität eines Rabbis basiert allein auf seiner Gelehrsamkeit, er hat – anders als bei den Christen – keine Mittlerfunktion zwischen Gott und den Menschen. Er steht seiner Gemeinde als ein Ratgeber zur Verfügung, der im besten Fall den Ratsuchenden einen Anstoß gibt, ihr Problem selbst zu lösen – ähnlich wie ein Psychotherapeut. Viele jüdische Witze entstanden im Schtetl Osteuropas des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer Paradoxie und Selbstironie eigenen sie sich bis heute hervorragend dazu, festgefahrene Denkweisen und problematische Fixierungen aufs Korn zu nehmen.
„Zwei Juden sitzen auf einer Parkbank und beklagen sich über den aufkeimenden Antisemitismus. Da fliegt ein Vogel über sie hinweg und lässt seinen Kot auf die Schulter des einen fallen. ‚Siehst du?‘, sagt er. ‚Und für die Gojim (Nicht-Juden) singen sie…“.
Systematisch betrachtet Kurt Fleischner einige Problemstellungen, die innerhalb einer therapeutischen Situation auftauchen können, und stellt die verschiedenen Methoden und Denkschulen dar, ihnen zu begegnen. Davon sind in den letzten 120 Jahren eine Vielzahl entstanden: Psychoanalyse, Systemische Therapie, Paartherapie, Transaktionsanalyse, Hypnotherapie, Provokative Psychotherapie usw., die der Autor hintereinander in kurzen Kapitelabschnitten beschreibt. Jedem dieser Abschnitte ordnet er einen oder mehrere Witze zu. Die werden nicht erklärt, sondern stehen für sich und sollen lediglich die kurzen theoretischen Erläuterungen veranschaulichen. Für den Laien sind diese kurzen Theorieeinschübe vielleicht manchmal zu abstrakt, aber es bleibt ja noch der Witz, über den es sich lachen und nachdenken lässt!
„Moritz, wie läuft dein Geschäft?‘
‚Was soll ich sagen? Entsetzlich! Ich arbeite seit einem Jahr nur noch mit Defizit!‘
‚So? Warum sperrst du dann nicht zu?‘
‚Und wovon soll ich dann leben?‘“
Es scheint, „als wäre der Humor die Bruchlinie zwischen Schmerz und Lebendigkeit“, resümiert Fleischner die Erfahrungen aus seiner reichhaltigen Berufspraxis. Weinen wie Lachen kann eine befreiende, kathartische Wirkung entfalten. Humor ermöglicht Distanz, öffnet den Blick, anders und neu auf sich, seine Probleme und die Welt zu blicken. Das gilt gleichermaßen für den Klienten als auch für den Therapeuten.
Die jüdische Existenz war historisch und sozial immer durch Unsicherheit und starke Umbrüche geprägt. Darauf flexibel zu reagieren und dennoch seine Identität aufrecht zu erhalten, Angst und Schwäche auszuhalten und trotzdem psychisch zu überleben, davon erzählen die jüdischen Witze. Sie geben dem Buch nicht nur eine unterhaltsame Note. Sie machen es auch zu einem Plädoyer für differenziertes dialektisches Denken und eine universelle menschliche Perspektive.
Kurt Fleischner: Wenn der Rebbe lacht. Wie der jüdische Witz die Psychotherapie bereichert.
Picus Verlag Wien, 2024
192 Seiten
ISBN 978-3-7117-2153-2
Leseprobe und weitere Informationen (Verlag)
Kurt Fleischner, Psychologischer Berater und Lehrtrainer für Systemaufstellungen, war mehr als zwei Jahrzehnte als Sozialpädagoge für das Wiener Jugendamt tätig und arbeitet seit 1996 als Trainer, Coach und Supervisor in freier Praxis in Wien. Neben umfangreicher Beratungs-, Aus- und Fortbildungstätigkeit für Institutionen in psychosozialen Berufsfeldern leitet er Workshops bei internationalen Tagungen sowie mehr als sechshundert Seminare zu den Themen Erziehung, Partnerschaft, Selbsterfahrung, Teamentwicklung und Persönlichkeitsentwicklung für Führungskräfte. (Picus Verlag)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment