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Schon mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Debütroman „Hier ist noch alles möglich“ beeindruckte Gianna Molinari Leserschaft und Fachwelt. Mit ihrem zweiten Roman „Hinter der Hecke die Welt“ könnte ihr das genauso gelingen.

Das Setting ist auch diesmal außergewöhnlich. Wir erleben zwei Parallelwelten. Die eine Welt besteht aus einem Dorf, das Angst vor dem Verschwinden hat. Die andere Welt erlebt eine Frau, die sich ihren Traum erfüllt und auf einem Forschungsschiff an einer Expedition in die Arktis teilnimmt. Beide Welten sind vom Verschwinden bedroht.

 

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Dora, die Forschungsreisende, ist die Mutter von Pina, die mit ihrem Vater Karsten in dem vom Verschwinden bedrohten Dorf lebt. Pina lauscht gerne der Stimme der fernen Mutter. Die ruft allerdings aufgrund der schlechten Verbindung nicht mehr an, sondern schickt stattdessen Tonaufnahmen, die Pina abends beim Einschlafen hört. Pina und ihr Freund Lobo sind die Zukunft des Dorfes. Doch leider haben die beiden aufgehört zu wachsen, sind stehen geblieben bei ein Meter fünfunddreißig (Lobo) und bei ein Meter achtunddreißig Komma sieben (Pina). Auch das Dorf selbst hat vor langer Zeit aufgehört zu wachsen, es schrumpft. Das einzige, was hier beständig wächst, ist die Hecke. Sie hält den Wind davon ab, ungehindert ins Dorf zu kommen und sie bringt Touristen ins Dorf. Die bestaunen die Riesenhecke und fotografieren sie. „Wie die Hecke ins Dorf gekommen ist, wusste niemand. Vielleicht war erst die Hecke da gewesen und erst dann das Dorf.“ Heute ist sie die einzige wirkliche Daseinsberechtigung für das Dorf, „ein Sichtbarsein in der Welt“.

 

Gianna Moninari COVERAlle, die nicht größer als ein Meter fünfzig sind, gehören zu den Hoffnungsträgern des Dorfes. Dazu zählen Lobo, Pina und Pilaster, der Hund des Architekten Emmerich. Der Architekt kümmert sich um den Leerstand des Dorfes, hält Wind und Nagetiere davon ab, in die (leerstehenden) Gebäude einzudringen. Die Zukunft des Dorfes hängt eng mit dem Zustand der Dorfkasse zusammen: Wenn die Dorfkasse es zulässt, soll der Leerstand komplett renoviert werden. Eine weitere Dorfbewohnerin ist Frau Wenk. Ihr gehört die Dorfgärtnerei. Sie kümmert sich um die Hecke und das Naturschutzgebiet und ärgert sich über den Müll, den die Touristen zurücklassen. Und dann ist da noch Lobos Oma Lomo, die so kluge Sätze sagt wie „Wer gut hört, kommt weit im Leben.“ Lobo kann besonders gut hören. Er hört sogar die Mäuse im Inneren der Erde wühlen und das Klopfen von Herzen. Vielleicht ist das ein Ausgleich dafür, dass er trotz der großen Augen hinter seiner Brille nur sehr schlecht sehen kann.

 

Es passiert viel und zugleich wenig in diesem Buch. Wer Action erwartet, ist hier falsch. Die Hecke wächst, das Dorf schrumpft, die Arktis auch. Mehr geschieht nicht. Nichts außer (wesentlichen) Kleinigkeiten, die zu diesem und jenem führen, großartig beschrieben werden und lange im Gedächtnis bleiben. Erzählt wird in Kapiteln unterschiedlicher Länge; manchmal sind es nur wenige Sätze. Erzählt wird beispielsweise, wie Dora sich manchmal ins Dorf träumt „und hinter die Hecke. Dorthin, wo die Arktis unerreichbar scheint. Dorthin, wo kaum etwas erreichbar scheint.“ Sie träumt sich an das Ufer des (Dorf)Teichs oder „in den Schatten der Hecke. Sie träumt sich neben Karsten, ihre Hand in seinem Nacken, neben Loma, die eine Vitrine putzt, oder neben Pina, die in der Werkstatt sitzt und an einer Wetterfahne bastelt, die sie zuerst nicht bemerkt, und dann doch und kurz erschrickt, bevor sie lächelt.“ So schön liest sich Sehnsucht, wenn Gianna Molinari sie beschreibt.

 

Einmal erscheint eine Fremde im Dorf, begegnet Pina einer radelnden Frau im Ganzkörpervogelanzug. Ansonsten kommen nur Touristen, die Busfahrerin und Spezialisten ins Dorf. Sie untersuchen die Kinder, die seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gewachsen sind. Sie vermessen die Kinder vom Scheitel bis zur Sohle, wollen ihnen zu Wachstum verhelfen und erteilen Ratschläge wie „Esst Nüsse, Kinder, schlaft viel“. Wachstum komme in Schüben, sagt Loma und darauf warten Pina und Lobo nun. „Sie wussten nicht, wie die Schübe sich anfühlen würden, vielleicht wie eine Windböe, die einen überraschend trifft.“ Die Spezialisten übernachten stets in der von Pinas Vater geführten Pension mit dem sinnigen Namen „Zum Goldenen Schnitt“. An den Vermessungstagen untersuchen sie auch die Umgebung, rätseln über die Zersetzung der Dorfstraße und über das Wachstum der Hecke.

 

An windstillen Tagen sitzen Lobo, Pina und ihr Vater gerne im Garten mit Blick auf den Dorfteich. Für windige Tage bastelt Pina Windräder, die sie an die Touristen verkauft. Hinter der Hecke liegt – wie der Titel sagt und Pina glaubt – die Welt. Die Welt und irgendwo auch die Arktis. Aus dieser Welt reisen die Touristen mit Bussen an, bestaunen die mysteriöse Hecke und besuchen das Dorfmuseum, das die Geschichte der Hecke als Hauptthema hat. Während die Dorfbewohner die Hecke pflegen und auf Wachstumsschübe der Kinder hoffen, beobachtet Pinas Mutter in der Arktis, wie das Eis schmilzt und wie sich Grenzen verschieben. „Die Eisschollen bewegen sich./Das Land bewegt sich./Auch das Blut, die Lunge, das Herz.“ Sätze wie diese haben etwas Lyrisches und Märchenhaftes. Das ist schön und stimmig, weil es sich durch den gesamten Roman zieht. Man könnte sagen, diese Stimmung trägt den Roman. Doch das wäre zu wenig. Was wir hier lesen, ist vielschichtiger. Es handelt sich um keine reine Erzählung, die ­einen Anfang und ein Ende hat. Diese Geschichte vom Wachsen, Schrumpfen und Verschwinden ließe sich unendlich forterzählen.

 

Fragen werden aufgeworfen, die uns auch nach Ende der Lektüre beschäftigen: Ist die Wachstumsverweigerung der Kinder eine Metapher für die negativen Auswüchse unserer Wachstumsgesellschaft? Steht sie für die menschliche Verweigerung, dem Ruf nach ständigem Wachstum weiterhin zu folgen? Sehnen sich die Menschen nach Erlösung? Was könnte Erlösung bringen? Und was ist mit dem Klimawandel? Wie bedrohlich ist er wirklich? In diesem Buch (hören und sehen,) lesen wir von Tieren, die längst der Vergangenheit angehören, die vom Erdboden verschwunden sind, vernichtet vom Menschen aufgrund seiner unerschöpflichen Gier. Was aus den beiden Welten im Buch verschwunden ist, wird aufgezählt (Ilsa/Die Schule/Teile der Dorfstraße/Dora). Auch das, „was weiter verschwand“ (Springkraut/Lobo/Das Pfeifen der Busfahrerin/Die Busfahrerin/Der Bus), und „was nicht sichtbar ist“ (Der größte Canyon der Welt/Der Anfang/Das Ende/Die Heilbutte am Grund/Die Unterseite der Eisberge/Das Innere der Bohrkerne vor dem Schnitt) und einmal auch das, „was fehlt“ (Bäume/Ameisen/Amphibien/Reptilien).

 

Wir können beim Lesen des Buches das Knirschen der Eisberge hören, bevor sie brechen. „Ein abgebrochener Eisbrocken bewegt sich als Eisberg fort, und ein Stein aus der Geröllmasse liegt auf diesem Eisberg, wird fortgetragen. […] der steinerne Gast, der im Verhältnis zum Berg immer größer wird. Der irgendwann denselben Umfang wie der Eisberg hat. Der für den Berg untragbar wird. Der Eisberg lässt den Stein fallen. Und der Stein sinkt, sinkt irgendwo weit weg von seinem Gletscher in die Tiefe, sinkt auf den Grund. […] eine steinerne Träne im Sedimentprofil.“ Einmal sagt die (namenlose) Meeresforscherin, mit gemeinsam mit einem Fotografen, Schiffsführer Mika und Dora in der Arktis unterwegs ist, „Das Eis ist ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen“.

Einmal heißt es von Dora, sie wünsche sich, „ein bisschen mehr Tier als Mensch zu sein“. Gemeint ist Doras verständlicher Wunsch in der Nähe des Nordpols, das Kälteempfinden eines Elches zu haben. Der nämlich friert erst bei minus 40 Grad Celsius. Vielleicht geht es bei diesem Wunsch, ein bisschen mehr Tier als Mensch zu sein, aber auch um weitaus mehr: um unser so dringend notwendiges Verständnis für Tiere, Pflanzen, Umwelt. Das wird geweckt und gefördert durch diesen Roman.


Gianna Molinari: „Hinter der Hecke die Welt“

Aufbau Verlag
Roman

208 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN: 978-3-351-04173-1

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