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Wolfgang Marx, geboren 1943 in Eckernförde, versteht sich seit dem Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn ganz und gar als Erzähler. Zwar hatte sich schon Jahre zuvor sein literarischer Ehrgeiz gemeldet, denn bereits 1995 hatte er seinen ersten Roman – „Megastar“ unter die Leute gebracht. Aber die meisten seiner Bücher folgten erst später.

Zuletzt hatte Marx mit „Am grauen Meer“ ein Buch veröffentlicht, in dem er die Rückkehr einer ihm selbst verdächtig ähnlichen Person nach Ultima Thule erzählte, wie Eckernförde bei ihm heißt. Dieser Kurz-Roman (so hätte ihn Arno Schmidt genannt) erzählt so etwas wie eine „unerhörte Begebenheit“, womit er perfekt Goethes Definition einer Novelle genügt. Es ist eine dramatische und temperamentvolle Erzählung.

 

Eine derartige Zuspitzung des Geschehens fehlt in dem jüngsten Roman; ja, im Grunde geschieht überhaupt nichts – es ist ein wenig wie in Fontanes „Stechlin“. Der Roman kreist wie sein Vorgängerbuch um einen Helden namens Wolf, der als emeritierter Professor der Universität Zürich mit Münchner Vergangenheit beschrieben wird. Im ersten Kapitel spricht er über seine Forschung, die nichts mit Seelenkunde zu tun habe. „Nichts Klinisches, auch nicht mit Kindern“, erläutert er: „Alles reine Grundlagenforschung, experimentell, Versuchsanordnungen im Labor. Nein, nicht einmal Ratten oder weiße Mäuse, einfach nur normale Erwachsene, um herauszufinden, wie sie ticken, wie wir ticken, wie das funktioniert mit dem Sehen und Hören“. Sein Fachgebiet ist die „kognitive Psychologie“.

 

Später wird er gefragt, ob er das war, „der diesen netten, kleinen Artikel über Spearmans Rho im Archiv publiziert“ habe. Nun, hatte er. Man denkt unwillkürlich an einen Engländer, wenn man das liest – ist Rho vielleicht eine Gestalt des 19. Jahrhunderts? Ich stellte mir einen schnauzbärtigen britischen Kolonialbeamten mit Reitgerte darunter vor, die Mütze in die Stirn gezogen – vielleicht, weil mich das „Rho“ an das frühere Rhodesien erinnerte. Aber es gibt ja das Internet, und so konnte selbst ich leicht herausfinden, dass es sich bei dem merkwürdigen Ausdruck um das Kürzel für den „Rangkoodinationskoeffezienten“ handelt, irgendwie wichtig in der Statistik, um den „Zusammenhang zwischen zwei mindestens ordinalskalierten Variablen“ zu beschreiben.

 

Zu den Eigenarten des Erzählers Wolfgang Marx gehört es, dass er den Leser mit derartig abgelegenen Ausdrücken allein lässt. Und mit weniger abgelegenen erst recht. Das gilt auch für den Umgang mit seinen Figuren, die niemals eingeführt oder beschrieben werden. Sie erscheinen, indem sie sprechen, und werden entsprechend zunächst durch ihre Sprechweise charakterisiert. Und natürlich erscheint in den Dialogen allerlei über ihr Leben und über das, was sie mit dem Erzähler verbindet. Die Anspielungen, die sehr zahlreich sind und sich gelegentlich auf die Umgebung des Autors, häufiger auf die Literatur beziehen – Joyce! und Rilke, was mich nun doch überrascht hat –, die werden schon einmal überhaupt nicht erläutert. Der Ton, mit dem sich die Figuren unterhalten, ist sehr häufig mokant, gelegentlich sogar ins Witzeln hinüberspielend, aber doch auch immer wieder recht ernsthaft, wenngleich vielleicht mehr hintergründig ernsthaft.

 

Der Erzähler beschreibt sich selbst als „Hardcore-Empiriker“, als einen ehemals in der Grundlagenforschung tätigen (Kognitions-) Psychologen. Auf seinen Gängen und Fährten in Zürich begegnet ihm allerhand Volk aus seinem früheren „akademischen Dunstkreis“ an der berühmten Zürcher Universität. Ein Kapitel ist ganz den Begegnungen mit früheren Kollegen von der ETH, teils aus demselben Fachbereich (Psychologie), teils aus anderen Fächern gewidmet – dann geht die Rede von den Treffen „unseres hochmögenden Emeriti-Clubs“ und den „Fakultätsgreisen“, zu denen sich der Erzähler offensichtlich auch selbst zählt.

 

Wolfgang Marx Die fernste Ebene COVEREs handelt sich bei diesem Buch also nicht um eine Novelle mit einem dramatischen Geschehen, sondern um die Schilderung Zürichs aus der Perspektive einer einzelnen Person. Wahrscheinlich kann jemand, der sich in Zürich auskennt, alle Orte der Handlung nach und nach abschreiten, und es war ganz offensichtlich die Absicht des Autors, den genius loci einzufangen. Das fängt mit einem Restaurant am Ufer der Limmat an, und geht dann immer so weiter. Der Rezensent besuchte manche dieser Orte im Internet: sie existieren wirklich, wenn sie auch wohl nicht in jedem Fall mit ihrem richtigen Namen angesprochen werden. Ähnlich geht es mit den Personen zu, die der Autor mit Kürzeln oder Spitznamen anspricht; einer – offenbar ein renommierter Kollege aus demselben Fachbereich – heißt zum Beispiel der „große Don“. Man darf annehmen, dass die Lektüre des Buches für alle jene, die sich auskennen und mit den Chiffren Gesichter verbinden, noch einmal erheblich an Reiz gewinnt.

 

Dem Autor geht es also um die eindringliche, perspektiven- und anspielungsreiche Schilderung seiner Zürcher Welt und ihrer Atmosphäre, und natürlich immer in Bezug auf die Hauptfigur. Die Architektur, die Anlage der Straßen, vielleicht der Blick auf die Berge – nein, das alles ist nicht das Thema. Wie heißt es doch in einem berühmten Gedicht? „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht“. Aber in diesem Buch wird der berühmte See nicht einmal beiläufig erwähnt, obwohl doch ziemlich viel über Gedichte gesprochen wird und sich ein gewisser Klopstock sich die zitierte Ode einfallen ließ. Aber er hat es, anders als Benn und Rilke, nicht in dieses Buch geschafft.

 

Zentral sind in diesem Buch die Sprach- und Sprechgewohnheiten der Figuren. In den lebhaften Dialogen – das ganze Buch besteht aus Dialogen – schreibt der Autor in aller Regel kein Schriftdeutsch, sondern versucht den Sprach- und Sprechduktus seiner Gesprächspartner einzufangen. Zum Beispiel finden sich immer wieder Konstruktionen mit »obwohl« am Beginn eines Satzes, die allein in einem lebendigen Gespräch erlaubt sind, wenn man auf die grammatische Inversion verzichten darf: „obwohl, es gibt da ein paar Damen“.

 

Ein wichtiges Thema des Buches, fast so etwas wie das Leitmotiv, ist die Distanz des Erzählers zu seinen Gegenständen, also zu den Personen, denen er begegnet, aber auch zu den Ereignissen, an die er sich erinnert. Schon der Titel deutet das an. Ziemlich genau in der Mitte des Buches heißt es erklärend, „dass von einer gewissen Entfernung aus betrachtet, so etwa ab acht Kilometern, alle Dinge gleich weit entfernt zu sein scheinen.“ Das Beispiel des Erzählers – er bezieht sich auf seine „Wahrnehmungsvorlesung“ – ist der Mond, der ebenso groß wie die Sonne scheint, obwohl er, „verglichen mit der Sonne, nur ein Klümpchen ist“. Allein, trotz seiner faktischen Bedeutungslosigkeit ist der Mond wichtig, wenn es „um unser aller alltägliches Leben geht.“ Und darum (und eigentlich nur darum) geht es in diesem Buch: um das Leben von Wolf, der wie in einer Höhle sitzend vorgestellt wird. Man müsse sich, heißt es, „die fernste Ebene nicht wie eine gerade Wand denken, sondern wie die gekrümmte Innenseite einer hohlen“. Sitzt der Erzähler in einem Ei?

 

Auffallend ist die Sorgfalt, mit der der Roman gearbeitet ist. Nicht allein, dass sich der Text praktisch frei von Druckfehlern präsentiert, sondern alle Dialoge sind auf den Punkt kalkuliert, sie sind hintersinnig und enorm anspielungsreich. Und trotz aller Sprachwitze sind sie auch ernsthaft. Vom Leser wird also Aufmerksamkeit gefordert und dazu ein gewisses Maß an Kenntnis der Literatur. Und trotzdem… Nicht immer hilft es einem weiter, wenn man eine Anspielung zuordnen kann. Warum heißt zum Beispiel das vorletzte Kapitel „Die sieben Säulen der Weisheit“ wie die berühmten Erinnerungen von T.E. Lawrence („Lawrence von Arabien“)?

 

Wie schon bei früheren Romanen des Autors ist man zunächst stark irritiert, aber später hat man sich eingelesen und versteht, worum es geht und worauf es ankommt. Es ist in einem guten Sinne eine anspruchsvolle, sowohl unterhaltende als auch bereichernde Lektüre.


Wolfgang Marx, Die fernste Ebene

Roman. KaMeRu Verlag 2021

212 Seiten

ISBN 978-3906082783

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