My Stolen Planet” ist eine tagebuchartige Erzählung von Farahnaz Sharifi, einer iranischen Filmemacherin. Geboren während der islamischen Revolution im Iran 1979, fängt sie Momente der Freude, des Schmerzes und des Trotzes in ihrem Alltag ein.
Was passiert mit den Menschen, wenn eine „Revolution“ auf dem Rücken einer entscheidenden Bevölkerungsgruppe ausgetragen wird? Die Unterdrückten sind in erster Linie die Frauen. Das ist die narrative Perspektive der Regisseurin. Gesellschaftlich, religiös, rechtlich und kulturell sind sie einer permanenten Diskriminierung ausgesetzt.
Aber wie das in der Realität so ist, es gibt viele Schattierungen und Uneindeutigkeiten. Menschen handeln aus Überzeugung und aus Angst, aus Gewissheit das Richtige zu tun und aus der Not heraus.
Der iranischen Regisseurin (im Folgenden auch Farah genannt) gelingt in ihrer Dokumentation, die Jahrzehnte Zeit umspannt, ein einfühlsamer, persönlicher Film, der zu keiner Zeit kitschig wird oder übertrieben scheint. Sie thematisiert den Kontrast zwischen innerer, privater Freiheit und äußerer, augenscheinlicher Unterdrückung mit all den Gefühlszuständen zwischen Wut, Ärger, scheinbarer Hoffnungslosigkeit, aber auch Stärke, Geduld und Kraft und den Mut aufbringend, zu agieren. Die Doppelleben vieler Menschen treten zutage.
Sharifi, die schon früh im Iran eine natürliche Zuneigung zum Medium Film entwickelt und schließlich an der Soore Universität in Teheran Film studiert, dokumentiert nicht allein ihr Leben mit Film- und Fotomaterial aus der eigenen Familie, sie geht vielmehr auf die Suche in kleinen Second-Hand-Fotoläden in Teheran, um altes Super-8- und 8mm-Filmmaterial zu erhalten, die Menschen, die längst den Iran verlassen haben, dort ließen. Sie sammelt anonyme Erinnerungen und kontextualisiert sie in ihre Erzählung.
Unbekannte Personen, die Familienfeste feiern, das Leben genießen, Urlaub machen und die Harmlosigkeit, die Zufriedenheit, kleine Glücksmomente ihres Lebens dokumentieren. Fast das gesamte gefundene und gekaufte Material stammt vor der Zeit des Jahres 1979. Die Bedingungen vor der Absetzung von Schah Mohammad Reza Pahlavi, die zur Beendigung der Monarchie im ältesten Staat der Welt führte, waren sicherlich nicht von einer freien Gesellschaft geprägt, für die ab 1979 geborenen scheint sie jedoch ein Symbol für Lebensfreude zu sein.
Geschickt wird jenes fremde Footage-Material mit der eigenen Biografie verbunden. Dass Frauen seit 1979 im totalitären Iran in der Öffentlichkeit weder singen noch tanzen dürfen, und den Hijab (Kopftuch) tragen müssen, zieht sich thematisch wie ein roter Faden durch die knapp anderthalb Stunden Film. Nach Artikel 638 des iranischen Strafgesetzbuchs droht den Frauen, die den vom Regime vorgeschriebenen Hijab nicht tragen, bis zu zwei Monate Haft. Peitschenhiebe drohen einer Frau, die eine sogenannte „sündige Handlung“ (Haram) begeht, darunter versteht das Regime schon eine romantische Beziehung mit einem Mann vor der Ehe, die nach iranischem Recht als Ehebruch gilt. Wer einen Platz im konservativen, geistlichen, archaischen Staat erhält, zeigt die Propaganda auf Plakaten, Transparenten und Bannern im öffentlichen Raum. Ebenso werden die Feindbilder ständig bemüht, die USA und Israel werden mit Hass überzogen. Ein Leben in Furcht wird wichtiger als ein Leben in Respekt.
Farahs Verbindung zu Leyla – man könnte von einer Art digitaler Brieffreundschaft sprechen –, einer iranischen Professorin, die den Iran während der Revolution mit ihrer Familie in die USA verließ, fügt durch einige wenige Hinweise einem der Gesichter aus ihrem Filmarchiv einen Namen hinzu. Hier kristallisiert sich aus dem historischen Material ein personenbezogenes Leben heraus.
Tochter Farah Sharifi motiviert ihre Mutter, die an Alzheimer erkrankt ist, gegen das Vergessen zu kämpfen. Sie provoziert im Film damit Kausalitäten und die Ambivalenz von unfreiwilligem Vergessen durch die Krankheit, dem kollektiven Vergessen-möchten und dem Versuch, Erinnerungen an einen anderen Iran aufrechtzuerhalten – gegen alle Widerstände.
Nicht ein einziges Mal wird im Film konkret ausgesprochen, wer den Planeten der Filmemacherin gestohlen hat, wer genau das Leben der Frauen noch immer stiehlt und wer für all das Verantwortung trägt.
Im Herbst 2022 wurde der „Frauen Leben Freiheit“- Aufstand zu einem Wendepunkt in Farahs Leben, wie auch im Leben vieler anderer Menschen im Iran. Die aufgeheizte Stimmung in der Hauptstadt zwischen Protesten, gewaltsamen und oft brutalen Methoden der sogenannten Sicherheitskräfte, sind in vielen Handyvideos dokumentiert. Tötungen, das Verprügeln von Festgenommenen und Inhaftierten sind offensichtlich legitimiert. Selbst öffentliche Hinrichtungen sind an der Tagesordnung und festgehalten. Das Regime lebt in seinem eigenen Hass.
Ein Stipendium führt Farah nach Deutschland, nach Hamburg, parallel werden Freundinnen von ihr im Iran verhaftet, Wohnungen, auch ihre, durchsucht, Computer und Filmmaterial beschlagnahmt. Sie muss bei einer Rückkehr mit Verhaftung rechnen. Sie fängt in Deutschland von vorne an und sie bezahlt nun ihre Freiheit mit dem Verlust ihres Planeten, ihrer Heimat und dem analogen Zusammentreffen mit ihren Freundinnen und Freunden, wohl für lange Zeit.
Datenschutzhinweis
Diese Webseite verwendet YouTube Videos. Um hier das Video zu sehen, stimmen Sie bitte zu, dass diese vom YouTube-Server geladen wird. Ggf. werden hierbei auch personenbezogene Daten an YouTube übermittelt. Weitere Informationen finden sie HIERMy Stolen Planet
Originaltitel: Sayyareye dozdide shodeye man
Dokumentarfilm, 82 min, Farbe, Deutschland, 2024, FSK 12, OmU
Regie, Buch, Kamera, Schnitt, Ton: Farahnaz Sharifi
Musik: Atena Eshtiaghi
Sound Design: Daniel Wulf
Produktion: JYOTI Film
Co-Produzent: PakFilm GmbH
Kinostart: 12.09.2024
Fotos und Trailer: © Little Dream Entertainment GmbH
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment