Mit Wolfram Eilenberger feiert schon wieder ein Autor mit philosophischen Büchern Erfolge. Handelt es sich bei seinen Werken um wirkliche Philosophie?
Es war am Altpapiercontainer, wo wir einander trafen, mein frühpensionierter Nachbar aus der Bankenbranche und ich. Er ist nicht gerade eine Leseratte, und so zog ich ihn ein wenig mit seiner Lektüre auf, bekam aber zu meinem Erstaunen zu hören, dass er ein eifriger Leser geworden sei.
Jetzt, da er so viel mehr Zeit habe – sogar Rosen habe er gepflanzt und bestaune nun ihr Wachsen und Gedeihen –, jetzt suche er endlich den Sinn des Lebens, bekannte er mit entwaffnender Naivität. Froh, nicht mehr Kunden irgendwelche Aktien ans Herz legen zu müssen, studiere er philosophische Bücher. Ob meine auch darunter seien, wagte ich erst gar nicht zu fragen, und als ich später behauptete, dass auch meine Werke um den Sinn des Lebens kreisten – eine dreiste, aber vielleicht entschuldbare Lüge –, stieß ich auf Unglauben, und er fragte nicht einmal nach einem Titel.
Einer der Autoren, die sogar einen gänzlich literatur- und philosophieabstinenten Anlageberater zu interessieren vermögen, ist Wolfram Eilenberger. Wie macht er das? Was macht er besser als alle anderen? Hat er das Niveau heruntergeschraubt, hat er also die philosophische Tiefe der Popularität geopfert? Oder kann er spannend erzählen und ernsthaft in eine Thematik einführen, ohne die Schwierigkeiten zu überspielen? Sind seine Bücher mit ihren Lebensgeschichten bekannter Philosophen wirklich lesens- und empfehlenswert? Soll man ihn belächeln oder besser bewundern?
Seine beiden Erfolgsbücher „Zeit der Zauberer“ (2019) und „Feuer der Freiheit“ (2020) sind beide nach demselben Muster gestrickt, indem sie zwar wenig sinnvolle, aber stabreimende Titel tragen und abwechselnd die parallel geführten Biographien von jeweils vier Autoren oder – im zweiten Buch – Autorinnen detailgesättigt und lebensnah erzählen. Dabei werden Ausgangsproblematik und Parallelität der Ereignisse und Wendungen stark betont, aber es wird auch die Verschiedenheit der Antworten und Konzepte deutlich herausgearbeitet.
Das neuere Buch stellt Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, die hier nur wenig bekannte russisch-amerikanische Romanautorin Ayn Rand und endlich Simone Weil vor und erzählt, wie diese damals noch jungen Frauen die schwierigen Jahre vor dem 2. Weltkrieg und die Kriegsjahre überstanden. Eigentlich gehört allein Arendt mit einigen ihrer Werke zum Kernbestand der Philosophie, insbesondere mit „Vita activa“, auf das der Autor leider nicht eingeht. Ayn Rand ist eine „Philosophin“ in Anführungsstrichen, eine russische Emigrantin, die mit unglaublich dickleibigen Romanen zur Leitfigur der extremen amerikanischen Rechten wurde, und Simone de Beauvoir ist einerseits die Ikone des Feminismus, andererseits eine Romanautorin; eine Philosophin ist sie ebenso wenig wie Ayn Rand.
Aber auch Eilenbergers älteres Buch handelt nicht allein von klassischen Vertretern der Philosophie. Mit Walter Benjamin, Martin Heidegger, Ernst Cassirer und Ludwig Wittgenstein wählte er sehr unterschiedliche Autoren aus, und nicht jeder wird sie alle zu den wichtigsten Denkern des Jahrzehnts – den Zwanzigern – zählen. Heidegger war schon immer vielen Lesern geradezu verhasst, und Benjamin zählt zweifellos zu den angesehensten Schriftstellern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber direkt ein Philosoph ist er trotzdem nicht. Und Wittgenstein? Auf ihn komme ich noch zu sprechen.
Von dem Giganten Ernst Cassirer einmal abgesehen, haben solche Größen wie Max Scheler, Helmuth Plessner oder Nicolai Hartmann wesentlich mehr für die Philosophie getan als die anderen drei genannten. (Warum diese Zauberer sein sollen, habe ich übrigens nicht verstanden.) Die philosophische Anthropologie, die am Ende des Jahrzehnts ihren Aufschwung nahm, wird von Eilenberger nicht in ihrer Bedeutung erkannt, und ihre Schöpfer werden nicht angesprochen. Auch die Wertethik oder die Wiederkehr der Metaphysik spielen keine Rolle. Oder die Lebensphilosophie; Oswald Spengler und Ludwig Klages sind, wie Eilenberger sie verächtlich nennt, „Populärphilosophen“ und werden deshalb keines weiteren Blickes gewürdigt. Das werden nicht wenige falsch finden. Ich zum Beispiel. Denn es wirft eine Frage auf: Wenn Spengler oder Klages „Populärphilosophen“ waren, über die man hinwegsehen darf, als habe es sie niemals gegeben, was ist dann Herr Eilenberger, der nichts dagegen einzuwenden hat, sich selbst als einen Philosophen apostrophiert zu sehen? Denn einerseits vertraten sie sehr eigenständige und wiedererkennbare Philosophien mit Thesen, über die zu streiten sich lohnt, andererseits waren sie trotz ihres Erfolges bei weitem nicht so populär wie Eilenberger, den man beim besten Willen mit keiner eigenen Theorie, ja nicht einmal mit einer These in Verbindung bringen kann.
Man kann den Erfolg der beiden Bücher gut verstehen, denn große Teile von ihnen stellen die politische, gesellschaftliche und ökonomische Situation der Zeit kompetent dar und erzählen zusammenfassend und lebhaft das Leben der Protagonisten. Die vier Autoren des ersten hatten ebenso zu kämpfen wie die Schriftstellerinnen des zweiten Bandes – ihr Aufstieg war keinesfalls selbstverständlich, sondern es fiel ihnen schwer genug, eine Position zu erobern. Ernst Cassirer vor allem, obwohl weitaus höher qualifiziert als die übergroße Mehrheit seiner Kollegen, musste sehr, sehr lange warten, bis er endlich 1919 auf einen Lehrstuhl an der neugegründeten Universität Hamburg berufen wurde. Seine jüdischen Wurzeln verhinderten eine frühere Berufung, vor allem jene als Nachfolger Hermann Cohens in Marburg, dessen Meisterschüler er war.
Große Not litten die Autorinnen des zweiten Bandes. Wohl noch am wenigsten Simone de Beauvoir, die Gefährtin von Sartre und spätere Ikone des Feminismus, aber Ayn Rand flüchtete aus dem sowjetischen St. Petersburg in die USA, Hannah Arendt via Frankreich aus Nazideutschland, und Simone Weil muss erhebliche psychische Probleme gehabt haben, denen sie endlich in noch jungen Jahren Tribut zollte. Den Kampf aller gegen die Not und um Anerkennung und ein regelmäßiges Auskommen schildert Eilenberger in anerkennenswerter Weise.
Der Philosophie sind beide Bücher also nicht vollständig gewidmet, aber in die erzählenden Teile eingebettet sind Zusammenfassungen und Erläuterungen der Hauptwerke. Im Fall Cassirers ist die Darstellung von dessen großem Buch über die Renaissance („Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance“) ziemlich gelungen, und ähnliches lässt sich über andere Darstellungen sagen, zum Beispiel über Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Was Eilenberger dort über die Rolle der Allegorie in der barocken Literatur schreibt, wird manchem Leser weiterhelfen, und was er psychologisierend in das Verhalten Benjamins hineinliest, ist vielleicht nicht ganz unplausibel.
Anderes, besonders die Bemerkungen über Wittgenstein und sein Verhalten in Cambridge, stößt beim Rezensenten doch eher auf Verwunderung. Im Grunde ist die übliche Darstellung dieses eventuell wirklich begabten, aber doch extrem problematischen Menschen einer Genieästhetik verpflichtet, die schon lange nicht mehr in unsere Zeit gehört. Wittgenstein selbst hat ganz unbedingt an seine haushohe intellektuelle Überlegenheit geglaubt, und die Philosophen, die ihn in Cambridge förderten, sahen das offensichtlich ebenso und ließen sich ins Gesicht sagen, dass sie ja ohnehin nichts verstünden. Und wenn selbst ein Bertrand Russell zu dumm war… Bis heute wird Wittgenstein nicht kritisiert, sondern wenn man etwas in seinen Büchern nicht versteht – was ja eventuell auch daran liegen könnte, dass da jemand Unsinn verzapft hat –, dann hat man sich das gefälligst selbst zuzuschreiben.
Als Zwischenbemerkung: Ist es überhaupt möglich, alles vom Tisch zu wischen und noch einmal ganz von vorne anzufangen, wie es Wittgenstein versuchte? In der Sendung „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Fernsehens, ganz zufällig moderiert von Wolfram Eilenberger, wurde erst kürzlich Markus Gabriel die Gelegenheit gegeben, ähnlich wie Wittgenstein einen totalen Neuanfang zu erklären: „Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre“, so lautet der Titel der Sendung, der die stille Bescheidenheit dieses Meisterdenkers wenigstens von ferne andeutet. Jetzt wohnt und lehrt das Genie, das alles vor ihm für Makulatur erklärt, in Bonn, und anders als der unzugänglich-schroffe Wittgenstein ist Gabriel sehr, sehr telegen. Ja, die Kamera liebt ihn… Und warum sollte er sich auch nicht wohlfühlen? Kritische Fragen werden ihm nicht gestellt, und so etwas wie ein Gespräch kommt deshalb erst gar nicht zustande. Er weiß schon, warum er immer wieder am Beginn seiner Antwort „ganz genau“, „absolut“ oder „vollkommen richtig“ sagt, denn der Moderator hat ihm artig die Bälle zugeworfen und ist wahrscheinlich glücklich über das Lob vom Meister persönlich. Es war (und ist in der Mediathek und auf YouTube immer noch) ein peinliches Gespräch, das ich mir nur stückchenweise anschauen konnte – es ist schlechterdings nicht anders zu ertragen.
Zurück zu dem Versuch eines radikalen Neufangs: Im Zusammenhang mit Wittgenstein erläutert Eilenberger, dass der Titel „Tractatus logico-philosophicus“ an Spinoza und dessen Projekt erinnern soll, noch einmal ganz vorn zu beginnen, ein Vorhaben, das man sonst noch gerne Descartes unterstellt. Aber der hat mitnichten dergleichen versucht, sondern als ein intimer Kenner der scholastischen Philosophie wusste er an diese anzuknüpfen, erweitert um einige eigene Gedanken. Und ähnliches darf man von ausnahmslos allen großen Denkern an den Wendepunkten der Philosophiegeschichte sagen: Ob Kant oder Hegel, ob Husserl, Hartmann oder Whitehead, sie alle kannten sich aus und setzten fort, indem sie ihre eigenen Akzente setzten (oder auch noch etwas mehr als nur Akzente). Alles andere hätten sie selbst als Anmaßung begriffen.
Man kann verschiedene positive Punkte an den beiden Büchern hervorheben. Neben einigen gelungenen Referaten und den erzählenden Teilen werden viele die Lesbarkeit hervorheben, die mit dem journalistischen Stil zu tun hat. Auf weite Strecken ist das wirklich angenehm, aber keinesfalls immer. Höhe- und zugleich Tiefpunkt von „Zeit der Zauberer“ ist am Ende des Buches die Darstellung der „Disputation zu Davos“ zwischen Heidegger und Cassirer im März 1929, deren Gedächtnisprotokoll man seit langem als Anhang in Heideggers nur zwei Monate später erschienenem Kant-Buch lesen kann („Kant und das Problem der Metaphysik“). Es ging in diesem legendären Streitgespräch in ganz grundsätzlicher Weise um das Selbstverständnis der Philosophie. Der Cohen-Schüler Cassirer wurde von Heidegger als Teil der Marburger Schule angesehen, die seiner Kritik zufolge die Philosophie auf Wissenschaftstheorie reduzierte. Heidegger nahm dagegen für sich in Anspruch, eine „metaphysica gerneralis“ zu vertreten, also eine allgemeine Ontologie, die noch „vor einer Ontologie der Natur“ liegt.
Hier soll es nicht um eine sachliche Bewertung dieser Diskussion gehen, also um die mögliche Berechtigung der Vorwürfe Heideggers und um die Triftigkeit der Verteidigung Cassirers, sondern allein um die Darstellung dieses Disputs durch Eilenberger. Und diese ist leider ziemlich peinlich. Journalistischer, gelegentlich lockerer oder sarkastischer Stil mag eine gute Sache sein, aber wenn eine ganz ernsthafte intellektuelle Auseinandersetzung als Boxkampf geschildert wird … „Echte Wirkungstreffer. Heidegger jetzt in einer engen Ecke.“ (364) Und wenig später (Cassirer scheint dem Erzähler offenbar angeknockt): „Ein namenlos gebliebener Student hat Erbarmen, bringt Cassirer zurück in den Ring.“ (367) Daraufhin spürt jeder im Saal: „es ist jetzt an der Zeit, er muss unbedingt raus aus der Deckung. Er zögert keine Sekunde, gibt alles, was in ihm ist.“ (368) Aber was Heidegger dagegenhält, sind „Thesen wie Fäuste.“ (370) Und trotzdem lautet das Fazit: „Die Handschuhe waren anbehalten worden, der Kopfschutz ebenfalls.“ (371)
Für dem Sinn des Lebens nachforschende Ex-Anlageberater und Hobby-Rosengärtner mögen diese beiden Bücher eine geeignete Lektüre abgeben, aber obwohl sie nicht durch und durch misslungen sind, kann man sie doch trotzdem nicht guten Gewissens empfehlen.
Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929
Klett-Cotta 2018
429 Seiten
ISBN: 978-3608947632
YouTube-Video:
Buchtrailer | »Zeit der Zauberer« – Wolfram Eilenberger
Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten 1933 – 1943
Klett-Cotta 2020
400 Seiten
ISBN: 978-3608964608
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