Film

„44. zwischen 9. und 10.“. Mit diesen Worten beginnt die Taxifahrt und eine der berührendsten Leinwandbegegnungen dieses Jahres, wobei darüber unter Kritikern die Meinungen weit auseinanderklaffen. Thematisch geht es in „daddio" um Sex, Liebe, die oft so erfolglose Suche nach dem Glück und um das Ende wahrer Kommunikation. 

 

Regisseurin und Drehbuchautorin Christy Hall („I Am Not Okay with This“) ließ sich inspirieren von Klassikern wie „Mein Essen mit André“ (Louis Malle, 1981). Das tragische waghalsige Spiel mit Stereotypen, mit Wahrheit und Illusion, jederzeit austauschbar, ist schmerzhaft, verwirrend, und in jedem Moment ästhetisch virtuos. Schauspielerisch überragend: Sean Penn und Dakota Johnson.

 

Vor ein paar Minuten gelandet am New Yorker Airport John F. Kennedy will die blonde junge Frau (Dakota Johnson) mit den schwarzen schweren Boots eigentlich nur schnell heim nach Manhattan. Auf die Fragen von Taxifahrer Clark (Sean Penn) reagiert sie anfangs widerwillig, nein, ihren Namen verrät sie nicht, auch nicht das Alter. Nach Dreißig halbiere sich der Wert von Frauen, verkündet sie. Clark lässt nicht locker, hakt nach beim Beziehungsstatus. Dass sie in New York lebt, so viel weiß er schon, die Selbstverständlichkeit, mit der die unbekannte Schöne eingestiegen ist, nur die Kreuzung angegeben hat, keine Hausnummer und nicht auf den Taxameter achtet – abgerechnet wird ja nach Pauschale. Er mag an ihr, dass sie sich nicht hinterm Smartphone verschanzt. „Haben Sie einen Freund oder 'ne Freundin oder so?" Sein weiblicher Fahrgast, von Beruf Programmiererin, verharrt in der Defensive, damit beantwortet sich die Frage für ihn von selbst: Ihr Typ ist verheiratet und um vieles älter. Und sie nennt ihn Daddy! 

 

Unser Fahrer mit dem rüden leicht unflätigen Vokabular ist auf der richtigen Spur, er provoziert gern, politisch korrekt klingt anders, aber das Machogehabe dient dem Bordsteinphilosophen und heimlichen Gentleman wohl eher als Tarnung oder Selbstschutz. Was er nicht weiß, jener Daddy bombardiert die junge Frau auf der Rückbank grade mit Dickpics und peinlich lüsternen Textnachrichten. Unsere erschöpfte Blonde zieht es vor, sich einen verbalen Wettstreit der Geschlechter mit dem Mann am Steuer zu liefern. Sie, die coole Verschlossene, geizt nicht mit Einblicken in ihr Innerstes. Das Gespräch läuft wie über Bande, reißt nie ab, selbst wenn kein Wort fällt, spüren wir die Spannung zwischen den Beiden, Clarks Finger trommeln unentwegt auf dem Steuerrad, schicken unbewusste Messages in den Kosmos. Auch ihre Hände sind ständig in Bewegung, signalisieren Unsicherheit, zur Ruhe kommt eine wie sie nie. „Daddio“ ist eigentlich kein Kammerspiel, wie so viele schreiben, zwei Fremde eröffnen einander ihre Welt. Mit Blicken über den Rückspiegel versichern sie sich der Aufmerksamkeit des anderen, es gibt kein Gegenüber, und doch könnten sie einander nicht näher und vertrauter sein. Die Spannung liegt in der Entdeckung jener unbekannten Welten, so wundervoll erzählt wieselten, ob im Leben oder auf der Leinwand. Wenn es einem Film gäbe, von dem ich mir wünschen dürfte, ihn gedreht zu haben, dies ist er. Kameramann Phedon Papamichael („Le Mans 66“, 2019 „The Million Dollar Hotel“, 2000) gibt ihm seine berückende visuelle Sprache, ohne sie wäre „daddio“ unvorstellbar.

 

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Im Abspann wird Dakota Johnson, die dem Taxifahrer nicht ihren Namen verraten wollte, als „Girlie“ aufgeführt, was einige der männlichen und weiblichen Kritiker als ungemein diffamierend empfanden. Völlig zu Unrecht. Girlie bezeichnete in den Neunzigern einen Subkultur-Trend, bei dem sich Frauen das Erscheinungsbild von Mädchen angeeigneten, es als Freiraum nutzten für Identitätsstrukturen in einer patriarchalischen Gesellschaft. Hier am Ende des Films klingt Girlie tröstlich und schmerzhaft zugleich.

 

Die Blonde auf der Rückbank des Taxis war nie wirklich ein unbeschwertes Mädchen, die Mutter verschwand aus ihrem Leben, als sie klein war, der Vater übersah sie, vermied jede Berührung. Als auch er sich eines Tages verabschiedete, schüttelt er ihr die Hand, mit großer Rührung erzählt sie davon, um so bestürzter war sie, als die Schwester beim letzten Treffen behauptet, diesen Händedruck habe es nie gegeben. Sie fühlt sich betrogen um die einzige wirklich wichtige Erinnerung als Tochter. Jene Schwester war es auch, die sie als Kind gefesselt in die leere Badewanne setzte und die Tür verschloss, damit sie lerne sich zu befreien. Clarke fragt nach, ja es sei ihr gelungen. Und genau das strahlt sie auch aus: Selbstbewusstsein, Disziplin und gleichzeitig ungeheure Zerbrechlichkeit. Beide Protagonisten sind (meist) gnadenlos ehrlich zueinander, so ehrlich, wie sie es vielleicht nicht einmal wagen würden, wären sie allein mit sich und ihrer Vergangenheit. Die Nähe eines unvoreingenommenen Zuhörers gibt Kraft, macht Mut, hat etwas Tröstliches. Clarke urteilt nie, in seiner rüden Art liegt viel Weisheit, Lebenserfahrung, abgesehen von den üblichen Enttäuschungen des täglichen Lebens. Girlie, das klingt für mich eher liebevoll, bewundernd dafür, wie tapfer sich die junge Frau durchgeschlagen hat, verzweifelt versucht die blinden Flecken zu verdrängen, wenn sie den Lover Daddy nennt. Er ist ein fürsorglicher Vater, erzählt in seinen Textnachrichten, dass grade einer der Zwillinge aufgewacht ist, wie er versucht das Kind zu beruhigen. Man könnte heulen. Sie, die Geliebte war schwanger von ihm, hat nie ein Wort davon ihm gegenüber erwähnt. Sie weiß, wo die Grenze ist. Wer liebt, mutet sich viel zu. 

 

Themen und Ton wechseln ständig, beiläufig Erwähntes bekommt erst am Ende seine volle Bedeutung. Wenn der Taxifahrer von sich erzählt, entscheidet er sich fürs Drastisch-Liebevolle. Es ist nicht bösartig oder oberflächlich, wenn er schildert, wie Männer ticken, sich ihrer Beute nähern und irgendwann das Objekt der Begierde wegen Übergewicht ausrangieren. Es war ja die zauberhafte Figur, die ihn einst so aus der Bahn geworfen hatte. Auf die Frage, wie er und seine erste Frau sich kennenlernten, antwortet er lächelnd: „Sie hat mir ins Taxi gekotzt“, es folgt die Chronik einer ungleichen Beziehung, humorvoll erzählt mit all dem Bedauern eines Mannes, der sich bewusst ist, welche Fehler er begangen hat. „Vermissen Sie sie?“ – „Sie war wie ein Sommertag, wissen Sie.“ – „Fehlt Sie ihnen?“ – „Menschen sind Menschen, und Menschen werden einsam“. Der zweifache Oscar-Preisträger Sean Penn als rüder Macho ist von unglaublicher Einfühlsamkeit, und nur deshalb vertraut sich die Fremde ihm rückhaltlos an. Ganz am Anfang erklärt Dakota Johnson („Fifty Stades of Grey“, „The Lost Daughter“) dem Taxifahrer die ihm so unbegreifliche Welt des Programmierens. Es sind die Codes aus Einsen und Nullen, die diese Welt im Innersten zusammenhalten. Die Einsen stehen für „wahr“ und die Nullen für „falsch“. Ein Unfall bringt den Verkehr zum Erliegen nicht das Gespräch. Apps und Computer sind Clark ein Gräuel, Kartenzahlung bedeutet in der Regel, es gibt kein Trinkgeld. Girlie wird mit Karte zahlen, das Trinkgeld beläuft sich auf 500 Dollar. Die Zuschauer können immer mitlesen, was auf der digitalen Ebene geschieht. Vor einem Wort hatte der Protagonist die junge Frau gewarnt: Liebe, sie darf nie zu einem wie ihrem verheirateten Typen sagen: "ich liebe Dich", dann wäre alles vorbei. „Ich liebe Dich“ ist absolut tabu, das bleibt Kindern, Ehefrauen, Eltern exklusiv vorbehalten. Heimlich testet die junge Frau auf ihrem Smartphone, ob es zutrifft. Die Reaktion lässt sich so oder so interpretieren.  Langsam setzt sich der Wagen wieder in Bewegung. 

 

Christy Hall über „daddio – Eine Nacht in New York"

„Daddio“ war ursprünglich als Bühnenstück konzipiert, mit dem Ziel, es am Off-Off-Broadway in einem experimentellen Blackbox-Theater uraufführen zu können, sein Werdegang übertraf die kühnsten Erwartungen der Regisseurin und Drehbuchautorin Christy Hall: „Anfangs versuchte ich nur, den Geist meiner liebsten Theaterstücke einzufangen. Erzählungen, in denen sichere, wertungsfreie, künstlerische Räume geschaffen werden, in denen authentische Erwachsene Gespräche über die Welt führen. Denn das ist meiner Meinung nach der Zweck eines Theaterstücks. Dem Zuschauer einen Spiegel vorhalten. Sich die Fragen nach dem warum zu stellen. Jedoch ohne alle Antworten zu präsentieren. Den Zuschauern die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden... In unserer modernen Ära geht die einzigartige Erfahrung, mit einem unflätigen New Yorker Taxifahrer zu plaudern, immer mehr verloren. Das macht den Film zu einer Art Zeitkapsel. Eine intime Geschichte mit globalen Implikationen. Die Auslöschung unserer ureigenen menschlichen Verbundenheit, insbesondere mit denen, die nicht so denken und handeln wie wir, schreitet gnadenlos voran. Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Ein Fremder kann ihr Leben verändern, wenn Sie nur bereit sind, sich darauf einzulassen und zuzuhören.  

 

DADDIO EINE NACHT IN NEW YORK Set C Leonine

 Christy Hall am Set. © Leonine

 

Beim Transfer des Stücks von der Bühne auf die Leinwand, hätte ich die Entscheidung treffen können, die Geschichte über den Innenraum des Fahrzeugs hinaus zu erweitern. Ich entschied mich jedoch dagegen, ließ mich von Filmen inspirieren, die hauptsächlich an einem einzigen Ort spielen. Einige meiner Favoriten sind: „Das Fenster zum Hof“ (1954, Alfred Hitchcock), „Die 12 Geschworenen" (1997, William Friedkin), „No Turning Back“ (2013, Steven Knight), „Shiva Baby“ (2020, Emma Seligmann), „The Whale“ (2022, Darren Aronofsky). Ich liebe an diesen Geschichten besonders, dass sie nicht zurückschrecken, einen Großteil der menschlichen Erfahrung, diese seltenen Momente der reinen Katharsis, in denen wir verletzlich und exponiert sind, an den unscheinbarsten Orten anzusiedeln: Eine Spelunke. Eine kleine Wohnung. Die Sitzecke eines Restaurants. Jene kosmischen Beichtstühle, die sich einem genau dann offenbaren, wenn wir sie am meisten brauchen.

 

Nichts kann einen adäquat darauf vorbereiten, bei seinem ersten Film Regie zu führen. Ein Motiv, ständig in Bewegung, vom JFK zu Hell’s Kitchen. Eine sehr spezifische Fortbewegung, wie ein stiller Charakter in sich selbst. Wir mussten es richtig hinbekommen.  

 

Unser Taxi auf einen Trailer zu montieren, mit den Schauspielern an Bord und Kameras seitlich fixiert, wäre ein Alptraum gewesen. Die Möglichkeit, schnell neu zu starten, oder Staus zu vermeiden, musste erhalten bleiben. Auch das Wetter war unvorhersehbar. Wir hatten nicht das Geld, um die ganze Fahrt über Blue- oder Greenscreen zu verwenden. Das VFX-Budget wäre in die Millionen gegangen und das Endergebnis hätte für meinen Geschmack etwas künstlich gewirkt. Wie verkauft man also auf überzeugende Weise eine Taxifahrt auf einer Soundstage, so dass sie nicht nur echt wirkt, sondern auch noch schön anzusehen ist? Zuerst film man die Fahrt mit einem Array aus neun Kameras. Und dann umgibt man die Fahrkabine mit großformatigen, hochauflösenden LED-Panels, die unsere Aufnahmen projizieren. Die Panels gaben unseren Darstellern eine immersive Umgebung, auf die reagieren konnten, ein echtes Gefühl von Zeit und Ort. Sie erlaubten auch Kameramann Phedon Papamichael, das Erscheinungsbild direkt vor Ort zu manipulieren, weil sofort sichtbar war, wie es aussehen würde. Die Welt, die wir erschaffen hatten, Hintergrund und Vordergrund, wurde gleichzeitig durch die Kameralinse gefiltert und verdichtete sich so zu einer geschlossenen Realität. 

Es war bestimmt nicht einfach, aber gleichzeitig die Reise meines Lebens. Ich hoffe aufrichtig, dass Sie sich zurücklehnen und die Fahrt genießen können."

 

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„daddio – Eine Nacht in New York“

Originaltitel: daddio 

Regie: Christy Hall 

Drehbuch: Christy Hall 

Darsteller: Dakota Johnson, Sean Penn

Produktionsland: USA, 2023

Länge: 101 Minuten 

Kinostart: 27. Juni 2024

Verleih: LEONINE Distribution GmbH 

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Leonine

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