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War Karl May ein Rassist? Vertrat er imperialistische oder kolonialistische Positionen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein schmaler Band des Berliner Literarhistorikers Thomas Kramer.

Was soll man davon halten, dass ein Verlag bei einem ersten zaghaften Protest zurückschreckt und drei Publikationen zurückzieht? Sie begleiteten den Film „Der junge Häuptling Winnetou“, und es scheint, dass Indigene nicht mit der Darstellung ihrer Vorfahren einverstanden gewesen waren.

 

Wahrscheinlich hat es bereits ausgereicht, von ihnen als von „Indianern“ zu schreiben. In jedem Fall verzichtete der zerknirschte Verlag umstandslos auf jeden Widerstand und gab zu, dass er „mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt“ habe. Eigentlich eine ziemlich merkwürdige Begründung, denn wer sich verletzt fühlt, braucht ja nicht nach so einem Buch zu greifen, vielleicht gar in einer Sprache, die er nicht versteht.

 

Thomas Kramer Karl May COVERBis heute ist Karl May einer der erfolgreichsten deutschen Romanciers überhaupt – immer noch wird er gelesen, und nicht nur von kleinen, sondern gar nicht selten auch von großen Jungs. In nicht wenigen deutschen Provinzstädten werden im Sommer Karl-May-Festspiele abgehalten, und das Fernsehen widmet in regelmäßigen Abständen ganze Tage deutschen, also in Jugoslawien gedrehten, mit Schauspielern aus allen Herren Ländern bestückten Spielfilmen – so etwa das sonst so anspruchsvolle 3sat am 12. November. Mit fünf „Western“ – Filmen mit Old Shatterhand, nicht mit Mays orientalischem Alter Ego Kara ben Nemsi – wurde das Publikum behelligt, unterbrochen von zwei James Fenimore Cooper-Verfilmungen. Angesichts einer solchen Präsenz ist es wirklich angebracht, die Bücher des sächsischen Homer einmal kritisch zu begutachten.

 

Kramer will den Vorwurf widerlegen, May sei ein Rassist gewesen. Ihm geht um des großen „Reiseschriftstellers“ Verhältnis zum Orient und zu den indigenen Völkern Nordamerikas. Auch der europäische Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts spielt in der Diskussion eine Rolle. Ein anderes Thema böte sich noch zusätzlich an: Insbesondere in den Old Shatterhand-Geschichten gibt es allerlei queeres Volk, bizarr kostümierte Gestalten, oft zwischen den Geschlechtern changierend – wenn ein Herr „Tante Droll“ genannt wird, lässt uns das schon aufhorchen. Aber mit diesen bunten Gestalten in Frauenkleidern beschäftigt sich der Autor, wenn überhaupt, dann nur beiläufig.

 

Thomas Kramer, als Literarhistoriker mit einer Reihe von Studien zur Kinder- und Trivialliteratur hervorgetreten, ist noch dazu ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Er verteidigt May mit Verve, ohne seinen deutschnationalen Chauvinismus zu überspielen. Allerdings, grundsätzlich falsch findet er es, Karl May in Zusammenhang mit dem Kolonialismus zu bringen oder ihm rassistische Überzeugungen zu unterstellen, wie es der Protest gegen die drei Bücher getan zu haben scheint. Ein großer Teil seines Buches diskutiert die verschiedenen Vorwürfe, und an diversen Beispielen demonstriert er, wie der Autor Figuren charakterisiert und bewertet.

 

Schlecht schneidet May besonders in einem Kapitel ab, in dem „Masser Bob“ aus „Old Surehand“ vorgestellt wird, denn diese Figur ist nun aber wirklich die Ausgeburt eines üblen Rassismus: Ein Afroamerikaner, der von sich selbst glaubt, er stinke – deshalb setzt er sich immer abseits hin –, einer, der geistig unterbelichtet ist, weshalb er nur gebrochen sprechen kann, endlich ein Kerl, der zwar riesig und sehr stark ist, sich aber nur ungeschickt zu bewegen weiß. Aber trotzdem wird „Masser Bob“, worauf Kramer großen Wert legt, von Old Shatterhand als ein vollgültiger Mensch behandelt.

 

Und das andere große Reizthema dieser Tage, der Antisemitismus? Nach Kramer übernahm Karl May „bestimmte antijüdische Stereotype“, ohne deshalb antisemitisch zu argumentieren (28). Kramer findet rassistische Vorurteile allein in der Darstellung von Armeniern, aber ich selbst erinnere mich noch dazu an die stets negativ dargestellten Perser: kultiviert, sogar elegant, aber falsch bis zur Verlogenheit. Vielleicht also war Karl May kein Rassist, aber ein wirklicher Dichter – ein Erzähler, der uns Individuen vor Augen führt – war er eben auch nicht. Auch seine viel zu ausführlichen Beschreibungen der Kleidung oder des Gesichts – von letzterem kann stets ohne weitere Umstände auf den Charakter geschlossen werden – sprechen gegen die Qualität seiner Erzählungen. Sein Werk ist und bleibt Trivialliteratur, und es könnte falscher nicht sein, als ihn ein „monomanisches Genie“ (86) zu nennen – eine Bezeichnung, die sogleich davon konterkariert wird, dass der Autor ihn nur eine Seite später (und mit etwas mehr Recht!) als einen „Dieter Bohlen für triviale Textmassen“ (87) bezeichnet. Es ist eine von vielen Stellen, an denen deutlich wird, dass das Buch ein Lektorat gut verkraftet hätte.

 

Nicht allein ungenannte „Indigene“, sondern auch Deutsche fühlen sich berufen, May hart und, wie Kramer findet, ungerecht zu kritisieren. Es ist besonders ein Kritiker, von dem er sich provoziert fühlt, ein Hamburger Professor für Globalgeschichte. Jürgen Zimmerer hatte in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk die Romane Mays als „zutiefst kolonial“ bezeichnet, ohne sie deshalb verbieten zu wollen, und später auch noch ein wenig nachgekartet.

 

Thomas Kramer Karl May Porträt COVERKramer sieht das alles ganz anders, und es gibt nicht viele Seiten in diesem Büchlein, auf denen sich keine Polemik gegen Zimmerer findet. Diese ewigen Angriffe ermüden den Leser schon ein wenig, denn inhaltlich bewegt sich die Untersuchung damit nicht einen Zentimeter von der Stelle. Auch die ständigen Verweise auf amerikanische Filmkunst oder gar auf irgendwelche Fernsehserien sind ein wenig zu stark vertreten – Hollywood spielt nicht allein in diesem Buch, sondern auch in Kramers früherer May-Biographie eine übertrieben wichtige Rolle.

 

Die Auseinandersetzung mit den Vorwürfen an die Adresse des „sächsischen Lügenbolds“ ist allemal seriös und lässt kaum ein Thema aus. Nun, vielleicht eines. Die von Arno Schmidt unterstellten sexuellen Obsessionen kommen bei Kramer nämlich nicht vor, wenn wir von einer einzigen Anspielung in der Biografie absehen. Aber die Behauptung Schmidts, in den ausufernden Landschaftsbeschreibungen Mays spiegele sich sein Unterbewusstes in Gestalt von „Organabbildungen“ – Hauptthema von „Sitara und der Weg dorthin“ –, wird von Kramer überhaupt nicht behandelt. Dagegen werden sowohl die Behandlung der Sklaverei – in den Western wie in den Kara ben Nemsi-Geschichten – als auch rassistische oder chauvinistische Vorurteile mit großer Textkenntnis vorgestellt und eingeordnet, und gelegentliche Hinweise auf gleichzeitige Literatur kann helfen, das Maß seiner, Mays, Beschränktheit gerecht zu bewerten.

 

Kramer hat bereits 2011 eine Biografie Mays vorgelegt, in der er gleich eingangs seinen Kotau vor dem berühmten Buch Arno Schmidts vollführt. In „Sitara“ – laut Kramer „der Beginn einer Karl-May-Forschung, die diesen Namen tatsächlich verdient“ – schlägt Schmidt vor, das Werk Mays als „reinrassiges >Schwulen-Brevier< zu lesen“ (211), eine Anregung, der aber kaum jemand unter seinen Bewunderern folgen mochte, und von den Bewunderern Mays schon einmal überhaupt niemand. Generell wird die These Schmidts, dass die Geschichten in einer „Welt, aus Hintern gebaut“ (112) spielen, von den Fans Karl Mays entschieden abgelehnt und ja auch nicht einmal von Kramer vertreten.

 

Arno Schmidt Sitara COVERSchmidts „Sitara“ ist unfassbar unterhaltsam – so sehr, dass der Rezensent es im Laufe der Jahrzehnte mehrfach las, oft laut oder leise vor sich hin lachend. Aber Schmidts auf den Einsichten eines gewissen Sigmund Freud beruhende Methodik ist, gelinde gesagt, angreifbar. Nun, diese selbst ja auch… Schmidt versucht zu beweisen, dass Karl May sich seine phantastische Welt erfunden hat, um seine deprimierenden Lebensumstände überhaupt ertragen zu können: Karl May habe sich ein „längeres Gedankenspiel […] zurecht gemacht; wahrscheinlich erfunden zu dem simplen Zweck des Überleben-Könnens in schwierigster Situation, nämlich während seiner rund 8-jährigen Freiheitsstrafen“ (25).

 

Trotz aller Einwände gegen die ziemlich merkwürdigen Überlegungen Schmidts: Wer in seiner Jugend Karl May gelesen hat, dem sei das Buch ans Herz gelegt. Der schnoddrige Humor Schmidts gleicht locker alle Mängel dieses wissenschaftlichen Standardwerks aus; und auch die im Übermaß angeführten Belege aus den riesigen Romankonvoluten sind recht erheiternd; sie wären es sogar ohne den Kommentar Schmidts, aber dann mit seinen Randbemerkungen…

 

Die Karl May von Schmidt unterstellten Ferkeleien kommen bei Kramer also nicht vor, weder in seiner Biografie noch in seiner Verteidigungsschrift, und die queere „Tante Droll“, der sächsische „Hobble-Frank“ und andere merkwürdig ausstaffierte Mannweiber mussten leider draußen bleiben. Der großen Linie, dem Grundgedanken Schmidts in „Sitara“, mochte Kramer also nicht folgen, aber insbesondere auf den letzten Seiten seiner Biografie tritt er endlich doch dem großen Arno Schmidt zur Seite, nämlich in der Bewertung des Spätwerks von Karl May, in dem dieser dem „letzten Großmystiker“ (319) eine Nietzsche-Lektüre unterstellt. Den „Zarathustra“ soll May gelesen und in seinem Spätwerk verwurstet haben, sogar in Jamben. Na, und wenn schon, möchte man sagen.

 

Mit Schmidt hält Kramer vor allem die beiden späten Romane „Ardistan“ und „Dschinnistan“ für große Literatur, und er wird nicht müde, sie mit Tolkiens „Herr der Ringe“ oder den Filmen der „Star Wars“-Reihe zu vergleichen. Aber weder bei diesen Vergleichen noch bei der Bewertung mag ich ihm folgen, denn es handelt sich bei beiden Romanen nicht um große Literatur, sondern um einen bedeutungstriefenden, wilhelminisch überladenen Schwulst. Nach der ersten Lektüre von „Sitara“ griff ich nach „Ardistan“ und „Dschinnistan“, denn der große Schmidt stellte für mich eine wirkliche Autorität dar, und war ziemlich erstaunt, dass der Meister solche metaphysischen Räuberpistolen schätzen mochte.

 

In seinem jüngsten Buch entwirft Kramer ein differenziertes Bild von Karl Mays Chauvinismus und seinen von Vorurteilen aller Art nicht ganz freien Schilderungen fremder Völker und Sitten. Allerdings überschätzt er das Talent dieses Autors doch immer wieder gewaltig. Und seine Biografie des Meisters? Sie wird dessen abwechslungsreichem Leben durchaus gerecht, schildert kenntnisreich die Zeitumstände und ist entsprechend lebhaft und interessant.


Thomas Kramer: Karl May im Kreuzfeuer

Evangelische Verlagsanstalt 2023

168 Seiten, Klappenbroschur

ISBN 978-3374074228

Weitere Informationen (Verlag)

Leseprobe (yumpu)

 

Thomas Kramer: Karl May. Ein biografisches Porträt

Herder 2011

194 Seiten

ISBN 978-3451062377

 

Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Leben, Werk & Wirkung Karl Mays

Fischer Taschenbuch 1963

400 Seiten

ISBN 978-3596137978

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