Mati Shemoelof: Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe

: Geschrieben von Marion Hinz - Donnerstag, 31. August 2023 um 08:01 Uhr

Epische Gedichte bilden einen Reigen durch die Familiengeschichte.

In seinem Gedichtband „Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe“ erzählt uns der arabisch-jüdische Autor Mati Shemoelof die Geschichte seiner Familie. Wie eine lyrische Erzählung fächert er in fünf thematisch unterteilten Poemen die mehrere Generationen umfassende Familiengeschichte auf. Mit diesem zweiten auf Deutsch erschienenen Lyrikband des in Haifa geborenen und heute in Berlin lebenden Schriftstellers liegt dank der parasitenpresse nun eine Auswahl der Texte vor, von Gundula Schiffer aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt.

In Israel hat Mati Shemoelof bereits zehn Bücher veröffentlicht: sieben Gedichtbände, eine Kurzgeschichtensammlung, einen Essayband und einen Roman. Seine erste Veröffentlichung in Deutschland war eine Sammlung seiner Gedichte unter dem Titel "Bagdad | Haifa | Berlin" (2019, AphorismA Verlag). Ein Hörspiel namens „Das künftige Ufer“ war 2018 beim WDR zu hören. In Berlin hat er zwei literarische Gruppen mitbegründet: Poetic Hafla – eine multi-linguale künstlerische Party, die den Immigrantenkulturen in Berlin eine Stimme gibt, sowie Anu: Juden und Araber schreiben in Berlin, ein viertägiges Literaturprojekt. Die Literatur, genauer gesagt, die Lyrik war es, die Mati Shemoelof nach Berlin brachte. Er war 2012 zu einem Übersetzertreffen eingeladen. Damals verliebte sich in Berlin und in seine Frau. Er heiratete und blieb.

Anette L Dresslerstroux edition

^{Mati Shemoelof. Foto: Anette L. Dressler, © stroux-edition}

Als Dichter glaubt er nach wie vor an die Kraft der Worte und an deren Fähigkeit, dauerhaft Veränderungen herbeizuführen. Als politischer Mensch unterstützt er den palästinensischen Kampf um Selbstbestimmung. „Meine persönliche und künstlerische Mission ist es, ein Licht auf Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu werfen und den Status quo zu stören“, so Shemoelof. Mati Shemoelof lehnt die Besetzung des Westjordanlandes, des Gazastreifens und der Golanhöhen ab, setzt sich leidenschaftlich für einen friedlichen Dialog ein, um somit Frieden zu erreichen. (Näheres hierzu unter https://mati-s.com/bio). Dies sind wichtige Informationen, die uns helfen, seinen Weg zur Literatur, seine Themenwahl, die Art seiner Dichtung, die manchmal traurig und/oder melancholisch geprägt ist, besser zu verstehen.

Shemoelof Das kleine Boot COVER Die fünf Poeme des aktuellen Gedichtbandes bilden einen Gesamtzyklus. Alle Gedichte dieser fünf Poeme spiegeln Shemoelofs Herkunft und Biografie. Sie sprechen von seiner Vaterstadt Haifa, von der Großmutter aus Bagdad, dem Militärdienst in Israel bis hin zur Geburt seiner Tochter in Deutschland und dem Eintauchen in die deutsche Literaturszene. Es sind Gedichte gegen das Vergessen, Gedichte des Erinnerns. Das Gedicht, das immer Gewissensbisse hat / lässt die Unheilbotschaften hinter sich / ignoriert die Existenz tiefer Ängste, heißt es in einem der Gedichte, die zum ersten Poem gehören namens „Vom Spinnen eines Königreichs der Armut in der Unterstadt der Poesie“. Die Unterstadt der Poesie ist für ihn die Unterstadt von Haifa. Dort arbeitete der Vater einst als Verkäufer in einem Bekleidungsgeschäft.

Immer wieder taucht auch das Wort „Gedicht“ in den Gedichten auf. Beispielsweise versteckt sich das Weinen des Kindes, das seinen Vater verlor / und ein Gedicht fand. Oder es ziehen Wolken vorüber mit einer Bedrückung, die nicht / weichen will von dem Gedicht. An anderer Stelle heißt es: Träume bekriegen sich mit der Wahrheit / Alpträume umreißen die Dichtung. Vom Geheimnis eines Gedichts ist die Rede, von der Güte des Geschriebenen. Wo die Worte enden und das Schweigen beginnt / dort wirst du unsere Dichtung finden, schreibt Mati Shemoelof. Und: Gedichte aus dem Schwarz der Nacht, erhellen alte / Erinnerungen eines Buchstabens / so wie du groß wirst, aus der Sprache hervorgehst, die keine Worte hat […]. Vom Weinen des Soldaten ist die traurige Rede und vom Weinen der Besiegten, die sich niemals vergleichen lassen. […] Nur die Erde weiß zu unterscheiden / welche Dichter mit ihren Tränen / und welche mit ihren Fäusten schreiben […].

Diese Reflexionen des eigenen Lebens sind poetische, uns Leser*innen in vielerlei Hinsicht anregende Texte. Sie helfen uns neben der Wahrnehmung dieser wohlgeformten, wohlformulierten Gedanken unsere eigenen empathischen Fähigkeiten ohne jeglichen Druck zu schulen, unser Denken zu erweitern. Vielfältige Empfindungen und Erinnerungen klingen in dieser dichterischen Perlenkette an, die so gar nicht erdichtet ist. Ganz im Gegenteil: Ein fast vollständiger Lebensbericht ist hier nachzulesen, in dem der Autor die eigene Biographie und Identität erforscht. Der Lauf der Zeit, der soziale und urbane Raum ist es, in dem sich der Schreibende als Dichter entfaltet. Hierauf geht Yochai Oppenheimer u. a. in ihrem erhellenden Nachwort näher ein. Man kann sich durchaus verlieben in diese Gedichte, die voller Seele sind. Im titelgebenden Gedicht heißt es: […] ich blicke auf die Narbe in meiner linken Hand, die aussieht / wie ein Boot, das nie ans Ufer kommt / das ist die schreibende, träumende, schwebende Hand / der Faden, der sie mit dem Erdboden / verbindet, sich in unendliche Knoten verwickelt hat / die allein die Poesie zu lösen vermag. Wie gut, dass es sie gibt, Poesie wie diese!