Wer im Internet aktuelle wissenschaftliche Literatur sucht, der findet nicht allein seriöse Abhandlungen, sondern jede Menge schülerhafte Seminararbeiten – Veröffentlichungen, die die Welt nicht unbedingt braucht.
In früheren Zeiten dagegen blieben sogar Dissertationen oder Habilitationen selbst renommierter Autoren ungedruckt. So erschien erst vor drei Jahren die Dissertation Hans Blumenbergs (1920-1996) – 73 Jahre nach ihrer Abgabe! –, und vor einem Jahr endlich folgte seine Habilitationsschrift von 1950.
Hatte er sich selbst bei dem ersten Buch noch um dessen Veröffentlichung bemüht, so ist dies bei dem zweiten Buch unterblieben. Aber endlich sah sich im letzten Jahr die Arbeit unter ihrem Originaltitel doch noch publiziert, lange Jahre nach dem 1996 erfolgten Tod des Autors.
In seiner großen Blumenberg-Studie, in der er die Jahre 1945 bis 1966 behandelt, findet Kurt Flasch den Titel von Blumenbergs Arbeit erklärungsbedürftig und nennt den Untertitel – „Eine Untersuchung zur Krisis der philosophischen Grundlagen der Neuzeit“ – „pathetisch, ambitiös und so allgemein, als revidiere ein philosophisches Programmheft die Grundlagen einer ganzen Epoche.“ Das ist ziemlich boshaft, aber ja auch nicht mehr als nur der Auftakt zu einer sehr detaillierten Vorstellung und peniblen Kommentierung dieser Arbeit auf nicht weniger als vierzig Seiten. Und so ganz und gar schlecht findet Flasch „Die ontologische Differenz“ dann doch nicht. Das kann schon deshalb nicht überraschen, weil er wie Blumenberg als Philosophiehistoriker ein entschiedener Gegner einer Geschichtsschreibung ist, in der die Probleme und Themen von ihrem zeitgenössischen Zusammenhang isoliert werden.
Eingangs seiner „Einführung in die Philosophie des Mittelalters“ argumentiert Flasch gegen jede Form einer Problemgeschichte der Philosophie, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf allerhöchstem Niveau von Wilhelm Windelband, Heinz Heimsoeth oder Ernst Cassirer gepflegt wurde. „Formulierungen und Argumentationsfiguren“, so viel gibt er zu, haben sich zwar „wiederholt. Diese kann man nachträglich als Artikulationen eines und desselben ‚Problems‘ zusammenfassen; man kann dabei überraschende Durchblicke konstruieren.“ Aber nach diesem Zugeständnis wendet sich Flasch entschieden gegen eine an Problemen orientierte Art der Philosophiegeschichte. Zunächst, weil sie die Probleme isoliert („verselbständigt“), sie also abseits der konkreten historischen Situation behandelt. Sodann stellt er die für ihn wesentliche Frage, warum nämlich manche Probleme nur zu einer bestimmten Zeit auftreten. Die problemgeschichtliche Methode, sagt Flasch, könne diese Frage nicht beantworten, weil „das zeitgemäße Kolorit nur eben als Kolorit, als eine Art historische Umkleidung des immerbleibenden Problems“ angesehen werde.
Besteht hier die Gefahr, dass sich Philosophiegeschichte in eine bloße Geistesgeschichte verwandelt, in die intellektuelle Begleitung äußerer Ereignisse? Nein, das kann gewiss nicht die Ansicht von Flasch und Blumenberg sein. Geschichte, so jetzt Blumenberg, „reicht nicht nur in das Sein hinein, sondern sie ist dessen ‚Wesen‘.“ Ihm geht es um die „Geschichtlichkeit der Geschichte des Denkens“. Das klingt nicht allein nach Heidegger, sondern das ist wirklich dessen zentrale Botschaft, die Blumenberg in seinen Schriften von „Sein und Zeit“ an aufsucht – bis hin zu verstiegenen Abhandlungen wie dem „Spruch des Anaximander“, mit oder in denen sich die Pythia von Todtnauberg von jeder seriösen Argumentation und Darstellung verabschiedete.
Blumenberg geht in den vier Teilen seines Buches auf die Geschichte der Philosophie ein und widmet sein besonderes Augenmerk den Epochenbrüchen, also den (Neu-) Anfängen. Nachdem die Philosophie im Lauf der Jahrhunderte die Einzelwissenschaften aus sich entlassen hatte, musste sie sich erneut ihrer Grundlagen versichern und tat dies ein erstes Mal in radikaler Weise zu Beginn der Neuzeit in Gestalt von René Descartes, dessen Impuls Edmund Husserl lange Zeit später wieder aufnahm – ein erstes Mal in seiner Schrift „Philosophie als strenge Wissenschaft“ (1911), später in den „Cartesianischen Meditationen“ (1929). Wie Jahrhunderte zuvor der französische Philosoph, so suchte auch Husserl die Gewissheit im „cogito“ genannten Bewusstsein, verschärfte aber die Bedingungen und bemühte sich, wie Blumenberg zusammenfasst, um die „Herausstellung des Bewußtseins als der einzig möglichen Sphäre unbedingter Gewißheitsbildung.“
Mit zahlreichen Zitaten und Textreferaten versucht der Autor den Intentionen Husserls gerecht zu werden, wobei er sich eher kritisch zeigt und dem Ansatz Heideggers den Vorzug gibt. Denn Blumenberg geht es wie Heidegger um die wirkliche Lebenserfahrung, nicht allein um die Wissenschaft, die im Zentrum von Husserls Reflexionen steht. Welt bedeutet – Blumenberg zitiert hier seinen Lehrer Ludwig Landgrebe – den „Inbegriff all dieser Vorzeichnungen der möglichen Richtungen unseres Erfahrens, als der universale, allumspannende Horizont der Möglichkeiten unseres Erfahrens“. Das ist ein Aspekt, den Husserl erst in seinem Spätwerk ins Auge gefasst hat.
Zusätzlich geht es um den Vorwurf an Husserl, dass er die historische Situation der Philosophie eben nicht ausreichend verstanden habe. Blumenberg referiert die Position Heideggers in „Sein und Zeit“: „Ein Denken, das sich in seinem Ansatz auf die theoretische Distanz, auf den Gegen-Stand festgelegt hat, kann dieser Dimension ontologischer Fragwürdigkeit überhaupt nicht inne werden“, kann also den historischen Moment nicht verstehen.
Blumenberg stellt diese Zusammenhänge in einem zeittypischen Vokabular dar – gleich im allerersten Satz des Buches spricht er pathetisch von der „Not des geschichtlichen Selbstverständnisses“, und später setzt er im Stil Heideggers Bindestriche, wo diese keinesfalls hingehören („Ent-täuschung“). Mit Heidegger zeigt er, „daß der philosophisch sich selbst verstehende und sein Seinsverständnis auslegende Mensch geschichtlich ist“, und umreißt damit sein Arbeitsprogramm der folgenden Jahrzehnte. In den ersten beiden seiner großen Werke, in „Die Legitimität der Neuzeit“ (1966) und „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (1975), sollte er sich ganz auf die Epochenschwellen konzentrieren, insbesondere auf die „Gewißheitsnot des zerfallenden Mittelalters“. Der dritte Teil des Buches ist insofern ein Vorblick auf diese Bücher, als er den Epochenbegriff im Rahmen einer Philosophie der Geschichte reflektiert. Nein, der Historiker habe nicht darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“ sei (Leopold von Ranke), denn der Sinn einer Epoche sei „nicht aus der Gegenständigkeit, dem verfügenden Selbststand heraus zu er-greifen“. Geschichte lasse sich nicht auf ihre Objektivität reduzieren, als eine bloße Summe von Ereignissen.
„Ontologische Distanz“ ist ein zunächst schwer verständlicher oder doch wenigstens vieldeutiger Titel. Unter anderem sieht Blumenberg die Distanz mit Husserl dargestellt „in der Fraglosigkeit des Fundierungsverhältnisses von Naturwirklichkeit und Geistwirklichkeit, wie es von der Antike zuerst aufgestellt und in der Neuzeit mit allen Konsequenzen praktiziert worden ist“. Damit ist das ganz andere Weltverhältnis der Neuzeit angesprochen (oder auch nur behauptet), das sich besonders in der Wissenschaft ausdrückt. Eine ähnliche Bedeutung drängt sich auf, wenn der Autor zu Beginn des zweiten Teils die Etymologie des griechischen Wortes „theorein“ erläutert: Es „bedeutet […] primär ‚Zuschauer sein‘, das hinzutretende, aufnehmende und erst darin sich bestimmen lassende Sehen, das sich der ‚Besessenheit‘ von der Welt entrissen hat und das Sichtbare rein als es selbst auf sich zukommen läßt; ein Sehen aus dem Gegen-Stand zum Seienden also.“ Das ist das Gegenteil eines mythischen Weltverhältnisses, das im Beginn der Philosophie noch mächtig war.
Über die Moderne heißt es: „Selbststand und Gegenstand [Subjekt und Objekt] sind die strengen Korrelate innerhalb dieses Seinsverständnisses; die Auffassungsmöglichkeit des Seienden als Gegenstand ermöglicht den Selbststand – und umgekehrt. Die beiden Begriffe sind Aspekte ein und desselben ontologischen Verhaltens.“ Beispiele für die Distanzierung sind für Blumenberg die alphabetische Schrift, die Fortbildung des Demonstrativpronomens zum Artikel, endlich die Loslösung von der Situation. Was er meint, können besonders gut Landkarten zeigen, denn in ihnen hat sich eine Distanzierung von dem subjektiven Erleben vollzogen, um sich in „ideal verkürzten Chiffren“ auszudrücken. Für Blumenberg ist damit die prinzipielle Unerreichbarkeit des Seins gegeben. Auch das meint die Distanz.
Blumenberg war ein großer Autor, aber war er so bedeutend, dass wir seine Jugendschriften studieren sollten, um seiner allmählichen Entwicklung bis hin zu seinen reifen Werken zu verfolgen? Nein, das wäre übertrieben. Das Buch ist aber um seiner selbst willen eine aufmerksame Lektüre wert. Zweifellos ist es nicht leicht zu lesen – es ist sehr dicht formuliert, denn ein Autor, der seinen Text von vornherein allein für die Qualifikation zum Privatdozenten schreibt, braucht keine Rücksicht zu nehmen auf Leser, die die entscheidenden Gedankengänge weniger gut kennen als er selbst. Die Schwierigkeiten sollten aber niemanden abschrecken, denn die Lektüre ist sehr anregend mit einer Fülle von Hinweisen, vor allem auf Texte von Husserl. Husserl gilt als der vielleicht schwierigste Philosoph des 20. Jahrhunderts unter den Großen, den wir gar nicht oft genug erklärt bekommen können, und wir müssen einen noch jungen Autor bewundern, der sich in so unerhört kurzer Zeit in seine schwierigen Gedankengänge eingelesen hat und dabei auch noch einen kritischen Abstand wahrt, der also Anregungen aufnimmt, ohne deshalb zu einem Epigonen zu werden. Zu Heidegger sollte er erst später auf Distanz gehen.
Hans Blumenberg: Die ontologische Distanz.
Eine Untersuchung zur Krisis der philosophischen Grundlagen der Neuzeit.
Herausgegeben von Nicola Zambon.
Suhrkamp 2022
Leinen, 378 Seiten
ISNB: 978-3518587881
Weitere Informationen (Verlag)
Leseprobe (20 Seiten)
Kurt Flasch: Hans Blumenberg: Philosoph in Deutschland.
Die Jahre 1945 bis 1966
(Klostermann Rote Reihe, Band 115),
Klostermann 2019
620 Seiten
ISBN: 978-3465043799
Weitere Informationen (Verlag)
Leseprobe (23 Seiten)
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