Gemeinsame Spielformen des Erzählen – Balladen, Gedichte, Aquarelle.
Aus Stein gehauen sind diese Bilder und Texte nicht. Sie sind so leicht wie Schnee oder Zuckerwatte und so bedeutungsvoll wie Leben und Träume. Die Kombination der Balladen und Gedichte von Christoph Ransmayr mit Illustrationen von Anselm Kiefer sind ein Glücksfall für uns Leser.
In dem wunderschön und opulent gestalteten großformatigen Bild-Gedichtband „Unter einem Zuckerhimmel“ präsentieren die beiden ein weiteres künstlerisches Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Freundschaft in diesem ihrem zweiten gemeinsamen Buch.
Das erste Mal haben sie in „Der Ungeborene“ zusammengearbeitet. Und das kam so: Im Jahr 2000 folgte Christoph Ransmayr einer Einladung Kiefers und besuchte ihn auf La Ribaute im Süden Frankreichs. Bei einem ihrer gemeinsamen nächtlichen Spaziergänge fand Ransmayr einen neuen Namen für den Künstler: „Der Ungeborene“. So hieß folgerichtig 2014 auch der erste gemeinsame Band in der Reihe „Spielformen des Erzählens“. Das erste Buch dieser Reihe überhaupt bildete Ransmayrs Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele im Jahr 1997 mit dem Titel „Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer“. In dieser Rede, in diesem Buch schuf Ransmayr mit irischen Legenden und Liedern eine imaginäre Bühne zwischen Meer und Ebene. Seither erscheint die Reihe „Spielformen des Erzählens“ in loser Folge, nunmehr bereits zum 12. Mal. Immer sind es elegant ausgestattete, in weißes Leinen gekleidete Bücher, die inzwischen die Form einer kleinen „Weißen Bibliothek“ angenommen und also Wiedererkennungswert haben.
In den schmalen Bänden in Weiß wurden u.a. bisher vorgeführt Tirade, Gerede, Verhör, Bildergeschichte, Schauspiel. Im Vorwort zum neuesten Band wird erzählt, die ersten Geschichten im Leben Ransmayrs waren die Gesänge eines häuslichen Frauenchores, in dem seine Mutter gemeinsam mit einer Magd alles, was einem Kind erzählt werden sollte, sangen. Ja, es sind Gesänge, die uns Leser:innen hier erwarten, Texte, die wir gerne auch selbst singen könnten und sollten, um ihrem Rhythmus zu folgen und ihrem Klang nachzuspüren. Auf diese Weise erleben wir die abenteuerlichen Sprachreisen durch Raum und Zeit, durch Höhen und Tiefen noch intensiver.
In „Unter einem Zuckerhimmel“ hat Anselm Kiefer die Balladen und Gedichte seines Freundes Ransmayr mit Serien von Aquarellen begleitet, die er ausschließlich für diesen Band geschaffen hat. Zwar steht auf dem Einband „Illustriert von Anselm Kiefer“, aber die malerischen Beigaben sind weitaus mehr als Illustrationen. Es sind eigenständige, und zugleich den Texten zugehörige Bilder. Dies auch, weil Anselm Kiefer in seine Aquarelle handschriftliche Zitate der Gedichte hineingeschrieben hat, die oft nicht völlig identisch sind mit dem Originaltext. Sie wurden von Ransmayrs bildnerischem Partner Kiefer minimal verändert und wollen nun anders und neu gelesen lassen. Es sind immer nur kurze Auszüge, die im Bild zitiert werden.
Gemalt sind die Aquarelle überwiegend in rostigen, erdigen, wasser- und himmelfarbenen Tönen. Manchmal mischt sich auch anderes hinein, zum Beispiel Rosa, wie in dem Gedicht „Am Rand“. Dort heißt es […] was wohl geschähe mit uns,/unserem Körper,/wenn wir die Arme ausbreiteten/und uns von diesem Rand lösten,/wie ein Vogel sich von einem Zweig,/einem Sims, einer Antenne löst,/um dann aber nicht zu fliegen,/sondern zu fallen,/zu trudeln, zu stürzen,/in diese Tiefe hinab/und irgendwann/ein ganzes Wolkengebirge/zu durchschlagen. […] Bei Kiefer lautet der Anfang dieses Gedichtauszugs umgedichtet so: was wohl geschähe mit uns, unserem Kopf, unserem Körper. […] Hier hat er etwas hinzugefügt: „unseren Kopf“. Und eben diese Doppelseite enthält auch rosa Töne.
Ein paar Aquarelle weiter heißt es zum gleichen Gedicht bei Kiefer: was wäre von uns wohl noch zu finden? Im Originaltext fehlt das Wort „wohl“: Was wäre von uns/noch zu finden? heißt es dort. Zu sehen ist auf den beiden Doppelseiten jeweils ein rostbrauner Fleck auf scheinbar unsichtbarem und zugleich undurchsichtig erscheinendem Untergrund. Ein aufgeblättertes Buch schwebt über dem Weiß in einer Tönung, die ans Verschwinden denken lässt. Vielleicht ist dies ein Zufallsbild, entstanden wie einst in der Kindheit: Haben wir nicht alle als Kinder Tinte auf ein Löschblatt gekleckst, das Blatt gefaltet und auf diese Weise ein Zufallsbild geschaffen? Hat Kiefer statt Tinte geronnenes Blut gemalt, gemeint? Wird hier das Buch des Lebens auf- oder zugeschlagen? Ist das so? Oder ganz anders? So komplex, so unterschiedlich interpretierbar und auch deshalb so gelungen ist das Zusammengehen von Text und Bild in allen Beiträgen dieses Buches.
Anselm Kiefer. Abb S. 86-87
Manches der in dem in weißes Leinen gekleideten Buch enthaltenen dreizehn Gedichte ist nur eine Seite lang, manches erstreckt sich über acht Seiten. Mehr als 65 Aquarelle hat Anselm Kiefer zu diesem Prachtband beigesteuert. Das macht rund zwei Drittel des Buches aus. Ein genaues, mehrfaches Ansehen und Lesen ist nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig. Weil jedes Mal etwas Neues sichtbar wird, sich die vollkommene Harmonie von Text und Gemälde erst auf diese Weise in ihrer ganzen Schönheit erschließt. Diese Schönheit wird zwar schon beim erstmaligen Ansehen des Text-Bildbandes sichtbar - aber eben nicht in ihrer bewundernswerten Vollkommenheit.
Das Motiv des Reisens findet sich überall wieder in den Balladen und Gedichten, die hier versammelt sind, angefangen im ersten Gedicht mit „Odysseus“. Möglicherweise handelt es sich hier um einen gealterten Odysseus, dem ein vom Nachtdienst erschöpfter Arzt unter Vorbehalten die Heimkehr gestattet. [… ]ich höre schon die Brandung/sehe schon das Meer/und auf seinem Spiegel/gleißendes Gespinst möglicher Routen [… ] Das Reisen, das Aufbrechen und Ankommen, endet im letzten Gedicht des Bandes in „Spiegelungen“ mit Odysseus Sohn Telemach, [… ]von der Küstenwache und seinen Spähern/seit Tagen angekündigt/steht bis über die Knie/im klaren Wasser der Bucht vor ihm/beugt sein Haupt,/wie das Gesetz es befiehlt.[… ]
In „Nachrichten aus der Höhe“ heißt es bei Ransmayr: […]Hier erscheint die Vertikale,/der Weg ins Gebirge,/als ein Weg durch die Zeit.[… ] Kiefer macht daraus: [… ]Hier erschien uns die Vertikale, der Weg ins Gebirge zum ersten Mal als ein Weg durch die Zeit[… ]. Eine kleine Veränderung also oder auch zwei - und schon ist dies ein anderer Text, von Kiefer ins karstige Gebirge eingeschrieben, ins tiefe Blau des Bergsees hinein oder ins leuchtende Blau des Himmels. Wer genau hinsieht, weiß mehr, malt und schreibt in Gedanken mit und neu. Ach, und wie herrlich grün prangt die Vegetation im selben Gedicht, wenn Kiefer diesem Part (s)ein malerisches Gesicht gibt.
Anselm Kiefer. Abb S. 78-79
Erinnern wir uns an den Anfang: Es waren die Mutter und eine Magd, die dem kleinen Christoph alles, was zu sagen ist, vorsangen. Diesem Beispiel folgend erzählt Ransmayr in seinen Balladen und Gedichten „Unter einem Zuckerhimmel“ von abenteuerlichen Reisen ins Hochgebirge, ins Blau des Himmels, zum Meereshorizont und von Reisen durch die Zeit. „In den ersten jener abenteuerlichen, von Rätseln erfüllten Jahre, die manchmal schwärmerisch Kindheit genannt werden, habe ich Erzählungen vor allem als Gesänge gehört.“ In der Kindheit hat bei Ransmayr das Hören von Geschichten als Gesang angefangen. Angekommen ist er im Schreiben von Gesängen und Geschichten. In diesem Fall „Unter einem Zuckerhimmel“. Die opulent ausgestattete Sammlung verschränkt die Sprache Christoph Ransmayrs kongenial mit der Kunst Anselm Kiefers.
Christoph Ransmayr: Unter einem Zuckerhimmel
Illustriert von Anselm Kiefer
S. Fischer Verlag
Balladen und Gedichte. 208 Seiten. Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3-10-397502-4
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