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Eigentlich hatte die in Berlin lebende, aus Rumänien stammende Autorin Carmen-Francesca Banciu ein anderes Schreibprojekt im Sinn als einen Briefroman mit dem Titel „Ilsebill salzt nach“.

Doch der Ort, an dem ihr ursprünglich geplantes Projekt entstehen sollte, verlangte anderes von ihr. Eben diesen Briefroman, der jetzt im Verlag PalmArtPress erschienen ist.

 

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Und das kam so: Im Frühjahr 2022 lebte Banciu für drei Monate als Stipendiatin im Alfred Döblin-Haus in Wewelsfleth. Das Haus hatte Günter Grass 1991 der Stadt Berlin geschenkt, um Künstler*innen aus Berlin einen Ort der Ruhe und somit Zeit zum kreativen Arbeiten zu bieten. Nun also saß Banciu in diesem Haus am Schreibtisch von Günter Grass, kochte in dessen Küche ihre Mahlzeiten und unterhielt sich nahezu zwangsläufig mit dem berühmten, wenn auch toten Kollegen. Herausgekommen ist ein phantastisch-realistisches Buch, in dem die Autorin Fragen an den Literaturnobelpreisträger und Fragen an sich selbst richtet. Fragen, die allgemeingültigen Charakter haben und daher ebensolche Antworten fordern.

 

Hier, in diesem Haus, weiß die Autorin plötzlich nicht mehr, was sie eigentlich schreiben wollte. Denn Grass will ein anderes Buch. Er will, dass ich über ihn schreibe. Über seinen Ort. Über Wewelsfleth als Nabel der Welt. Über die Bedeutung von Orten. Über Menschen. Über Dinge, die mir erst beim Schreiben auffallen. Einfallen. Sich entwickeln. Über Gedankenschleifen. Entdeckungsreisen. Begegnungen. Ich frage die Leute hier in Wewelsfleth. Haben sie Günter Grass gekannt? Banciu begibt sich auf Spurensuche und Grass lässt sie nicht mehr los, nicht hier an diesem Ort. Überall im Dorf fragt sie die Bewohner nach deren Bekanntschaft mit Grass, fragt die Kassiererin im Supermarkt, die Bäckereiverkäuferin, fotografiert auf dem Friedhof die Gräber der Toten, fühlt sich vom Grab der Frieda Anna Wessel und deren Söhnlein angezogen. Ein Grab, das ihr viele Geschichten erzählt. Wie lebendig die Toten in Wewelsfleth noch sind. Wie präsent.

 

Im Haus selbst ist Grass überall präsent. Ich spüre Deine Hand auf meiner Schulter. Ich drehe mich um. Doch da ist niemand. Ich stehe vor Deinem Küchentisch. Da, wo Du so oft gekocht hast. Für Deine Ilsebill. Für Deine Lieben. Für Deine vielen Gäste. Überall hört und sieht Banciu Grass. Auf der Treppe, die hochführt zum Schreibzimmer, in der Küche, am Fenster. Es ist dasselbe Fenster, aus dem auch Grass geschaut hat. Aber sehen wir das Gleiche? fragt sie sich und den toten Dichter. Wo hast du zuerst hingeschaut? Was hast du zuerst wahrgenommen? Vielleicht waren es die streng frisierten Köpfe der Linden vor dem Haus? […]Oder die schlanken Gerten der Pappeln? […] Oder die Kirche? Oder die Grabsteine im Garten der Toten? Und schon sind wir mittendrin im Buch, suchen gemeinsam mit der Autorin nach Spuren von Grass in diesem kleinen Ort bei Glücksstadt im Norden der Republik, in dem es jetzt im März wieder einmal regnet und der Hausgarten seine letzten Winterträume ausschläft, Krokusse und Schneeglöckchen die Erde beflecken.

 

Ilsebill salzt nach COVEREs ist eine lyrische Sprache, mit der Carmen Francesca Banciu uns in ihre Spurensuche einweiht, anziehend und zugänglich, kritisch und fordernd zugleich. Ihr Schreibstil ist eigenwillig und ungewohnt. Das ist stimmig, zumal Banciu selbst Widerstand und Widerspruch kennengelernt hat, kennenlernen musste. Typisch für diese Autorin sind vor allem die im Gedankenfluss immer kürzer werdenden Sätze. Gewiss, es braucht ein wenig Zeit zum Einlesen, zum Eingewöhnen. Doch dann zeigt dieser Stil seine ganze Magie und verzaubert uns Leser*innen. Schreiben ist mein Skalpell, sagt die Autorin an einer Stelle des Buches. Und auch dies: Manchmal schaffe ich es nicht, den Gedanken zu folgen. Schreibe unvollendete Worte. Unvollkommene Sätze. Tief aus dem Unterbewusstsein kommen diese Sätze, die oft aus nur einem Wort bestehen. Einwortsätze, die wie ein Brandmal sind, die verletzen, stören, schmerzen, aber auch liebkosen, umschmeicheln können. Je nach Stimmungslage. Je nach Bedarf. Je nach Belieben sind diese Kurzsätze hingegen nicht. Sie sträuben sich geradezu gegen jede Beliebigkeit. Sie halten sich im Untergrund, im Moor, im glitschigen, rutschigen Schlamm versteckt. Wenn es der Autorin gelingt, das Unbekannte. Ungewöhnliche. Das Unbequeme zu fischen, steigen die Kurzsätze aus der Tiefe auf und werden Wort für Wort festgehalten.

 

Und wenn ich einmal drinnen bin. Dann schreibt das Schreiben mich. Und schon ist sie hineingesprungen in den tiefen Wörtersee, hält inne, will den Schlamm am Boden nicht aufwirbeln. Doch wenn diese Angst überwunden ist, sie sich traut, mit allen Sinnen in den Schlamm zu greifen, wach und wundbereit, dann zeigen sich im Nebel kleine Lichter. Lichtkörner, die Carmen-Francesca Banciu zu erhaschen hofft und die sie - wenn sie schnell genug ist - in Worte fassen kann. Immer wieder schleift die Autorin aus, wie sie selbst es nennt (ich schleife schon wieder aus). Denkt über einzelne Wörter nach. Überlegt, ob man sie anders schreiben sollte, das Wort Bissstelle zum Beispiel: Bissstelle. Dieses Wort hat Biss. Hat Schärfe. Noch verstärkt durch das dritte „s“. Vielleicht bräuchte auch „Schnitt“ noch ein drittes „t“. Verletzender noch könnte es dann wirken. Damit man gleich den Schmerz dazu verspürt. Aber zwei t-s sind mir genug. Kurz und hart. Schneidend. Mich gruselt es bereits beim Klang. Und beim Aussprechen des Wortes bekomme ich Gänsehaut. […] Ich sehe klar den feinen Riss in der Haut. Die kaum sichtbare Trennlinie, aus der bald tropfend Rot entweichen wird. Schnitt. Manchmal entstehen auf diese Weise neben solchen Gedankenmitschnitten auch nachdenkliche Gedichte, die scheinbar zufällig in den Briefroman eingestreut für uns Leser*innen aber immer an der richtigen Stelle zu entdecken sind.

 

Mit Lieber Günter, fangen viele der Briefe an, andere mit Liebe Frieda Anna. Letztere entwickeln schreibend Möglichkeiten über Leben und Tod dieser ihr unbekannten Frau mit dem Grabmal auf dem Wewelsflether Friedhof. Das eigene Leben wird aufgeblättert und analysiert, die rumänische Herkunft und die späteren Jahre mit all ihren schwierigen, schwerwiegenden Entscheidungen noch einmal überdacht. Ebenso geschieht dies mit Günter Grass. Immer näher kommt die Autorin auf diese Weise Leben und Werk des großen Kollegen. Auch der wunde Punkt des späten Bekenntnisses seiner kurzen Mitgliedschaft als 17jähriger bei der Waffen-SS wird angesprochen und betrachtet. Dies geschieht jedoch fragend ohne zu urteilen. Weitere Themen des Buches sind die (während Bancius Aufenthalt in Wewelsfleth) herrschende Pandemie, sind Kriege und Naturkatastrophen, aber auch Themen wie Zeit, Schönheit, Liebe, Glück und Tod. Auf all das richtet sich der gegenwärtige Blick der Schriftstellerin, sieht nachdenklich in Zukunft und Vergangenheit, schaut vor und zurück. Auch persönliche Parallelen zwischen Banciu und Grass werden dabei gezogen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdeckt.

 

Carmen-Francesca Banciu hatte nicht viel am Hut mit Grass, bevor sie nach Wewelsfleth kam. „Die Blechtrommel“, ja, die kannte sie. Aber kaum mehr. Vielleicht rächt sich sein Geist dafür an mir, fragt sie sich zu Beginn ihrer Zeit in Wewelsfleth. Aber auch, wie kann man so viel schreiben? Ohne Rücksicht auf die Leser. Wie sollen sie noch hinterherkommen. Wie sollen sie es schaffen, so viel zu lesen. Denn es gibt ja noch andere Schriftsteller. Ja, es gibt andere Schriftsteller*innen, die man lesen sollte. Solche wie Carmen Francesca Banciu. Die das Glück hatte, für dieses Buch mit Dieter Stolz als Lektor zusammenzuarbeiten. Er ist promovierter Grass-Experte und langjähriger Lektor des Nobelpreisträgers.


Carmen-Francesca Banciu: Ilsebill salzt nach

PalmArtPress
Briefroman. 320 Seiten, Hardcover

ISBN: 978-3-96258-130-5

Weitere Informationen (Verlag)

 

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