Follow Book

Protagoras ist einer der ganz großen Namen der Philosophie. Für Platon, durch dessen Brille die meisten von uns bis heute auf ihn schauen, für Platon war er ein Mietling, der anders als Sokrates seine Redekunst für Geld verkaufte: ein Sophist.

Er gab einem der berühmtesten platonischen Dialoge den Namen, aber um diesen Dialog soll es hier nicht gehen, sondern um einen einzigen Satz, den Platon in einem anderen Dialog überliefert hat, im „Theaitetos“: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“

 

Heute werden nicht wenige diesen Satz als den Ausdruck des „anthropischen Prinzips“ (miss-)verstehen, also als die kürzeste sprachliche Fassung der von ihnen entschieden abgelehnten Zentralstellung des Menschen. Für dem Darwinismus verpflichtete Philosophen wie Wolfgang Welsch ist der von Prütting verehrte italienische Renaissancephilosoph Pico della Mirandola (1463-1494) derjenige, der als erster das anthropische Prinzip formulierte und damit „den Menschen nicht mehr vom Kosmos oder von der Schöpfung her, sondern allein vom Menschen selbst aus zu verstehen unternimmt.“ Diesen Weg hält Welsch für ganz und gar verkehrt. In „Mensch und Welt“ sowie in dem gleichzeitig erschienenen Tausend-Seiten-Buch „Homo mundanus“ (2012) hat er zu zeigen versucht, dass der Mensch nur evolutionär zu verstehen sei, als ein Wesen, das „mit den anderen Produkten der Evolution vieles, wenn nicht gar alles gemeinsam“ habe. Das ist eine Feststellung, der der Autor unseres Buches in allen ihren Aspekten widersprechen würde. Er dringt darauf, dass dem Menschen etliche Alleinstellungsmerkmale zukommen, also Eigenschaften, die kein Wesen außer ihm besitzt. Das bekannteste seiner Bücher, das sich mit dem Lachen beschäftigt, zeigt eben dies: Das Lachen ist ein solches „propium hominis“, denn kein Tier kann lachen.

 

Eine durchaus seriöse Interpretation des Homo-mensura Satzes durch Welsch findet sich in „Homo mundanus“. Danach war Protagoras ein „Anthropomorphist“, ein Mensch, der den Menschen in den Mittelpunkt stellte, dessen Hauptsatz sich aber allein auf „die jeweilige Gesellschaft“ beziehen lasse, so dass „es sich eigentlich um einen Soziomorphismus“ handle: „Nicht eine allgemeine menschliche Natur, sondern eine jeweilige Gesellschaft legt fest, was (auch welchen Gründen und in welchen Hinsichten) als relevant angesehen wird.“ „Der Mensch“, resümiert Welsch, „sollte nicht nur als das Maß der Dinge, sondern auch als das Maß jeder sinnvollen Rede von Welt verstanden werden. Die Welt ist Menschenwelt.“

 

Für Lenz Prütting stellt die von Platon überlieferte Sentenz des Protagoras – nach Hegel, der den Sophisten keineswegs ablehnend gegenüberstand, „ein großer Satz“ – so etwas wie die Kurzfassung seiner eigenen Überzeugungen dar. Eingangs seines Buches spricht er über die Einführung des Meters durch die französische Nationalversammlung, in welcher die natürliche Maßeinheit des Menschen nicht berücksichtigt worden sei: es war, so Prütting, die „pure ideologische Willkür“, die mittels einer komplizierten mathematischen Operation den Meter schuf. Für Prütting dagegen hätte „der leibhaftige Mensch als Maß aller Maßeinheiten gelten“ sollen, so dass er sich Maße wünscht, die sich „gleichsam naturwüchsig und ‚wie von selbst‘ aus dem täglichen Leben“ ergeben. Für ihn wäre der menschliche Körper mit seinen Gliedmaßen der ideale Maßstab gewesen. Um zu illustrieren, was er damit meint, wählt er Architekturzeichnungen – einmal ein modernes Bild („Richtmaße für die Bau- und Möbelschreiner“), zum anderen eine antike ägyptische Figur, für die der Fuß die Maßeinheit abgab. Ein anderes Kriterium ergibt sich für ihn als Hermann Schmitz-Leser aus dem „eigenleiblichen Spüren“, also der Wahrnehmung des eigenen Leibes.

 

Bis zu diesem Punkt kann der Rezensent den Überlegungen des Autors ohne jeden Vorbehalt zustimmen. Ganz sicher ist er sich aber nicht, ob er Prüttings Deutung der Protagoras-Sentenz auch weiterhin zustimmen kann – nicht, weil seine Konsequenzen abzulehnen wären, sondern allein deshalb, weil sich eigentlich niemand sicher sein kann, dass Protagoras wirklich so verstanden werden wollte, wie er in diesem Buch gelesen wird. Eine Alternative haben wir eben erst kennengelernt. Aber: Es ist allemal möglich, ihn so zu lesen, wie es Prütting durchexerziert.

 

Immer wieder spricht er leitmotivisch von „Selbstsorge, Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung“, um die es im Leben gehe und die er in dem kurzen Zitat ausgesprochen oder gefordert findet. Für ihn wird die Geschichte der Rezeption des „Homo-mensura“-Satzes durch den Lauf von mehr als zwei Jahrtausenden die Folie für die Darstellung seiner eigenen moralphilosophischen Überlegungen. Davon nämlich würde ich lieber sprechen als von einer „anthropologischen Studie“, wie sich das Buch im Untertitel nennt. Zwar hat Prütting vor allem mit seinem Buch über das Lachen bewiesen, dass er auf diesem Gebiet über große Kompetenz verfügt, und er nimmt auch wirklich seinen Ausgang von anthropologischen Überlegungen – aber es geht ihm letztlich um Moral, um eine Moral, die in „Selbstsorge, Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung“ mündet. Prütting zielt auf eine säkulare, also keinesfalls religiös motivierte Haltung: „Ich muß eben allein zurande kommen, hier und jetzt“. Er führt das mit Blick auf sein eigenes Leben nicht näher aus, aber ich denke, dass er für sich selbst im Nachwort, in dem er seinen Einödhof erwähnt, eine solche durch und durch selbstbestimmte Lebensweise andeutet.

 

Es sind zwei Probleme, die sich auftun, wenn die Rezeptionsgeschichte der Sentenz besprochen wird. Problematisch ist zunächst die Auslegung des „Homo mensura“-Satzes, der nicht unbedingt jeder zustimmen wird. Und zweitens ist es natürlich ein gewaltiges Problem, eine denkerische Tradition von mehr als zweitausend Jahren Revue passieren zu lassen. Hier kommt Prütting seine breite Belesenheit zugute, die buchstäblich in der Antike beginnt, Mittelalter und Renaissance nicht auslässt, Herder und Goethe zitiert und schließlich bei Brecht und einigen bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts endet, von denen hier nur Helmuth Plessner und Hermann Schmitz genannt sein sollen.

 

In den Kapiteln 2 und 3 wird die historische Situation von Protagoras, Sokrates und Aristoteles beleuchtet, um die Bedeutung der besonders für die aristotelische Ethik zentralen Kategorie des „rechten Maßes“ („Mesotes“) zu erläutern – hier wie oft sonst gern in den Büchern des Theatermannes Prütting im Rückgriff auf die antike Tragödie. Zum Beispiel wird der große Dramatiker Sophokles als Gegner des Protagoras und seiner ethischen Leitideen dargestellt.

 

Protagoras Picus

Links: Salvator Rosa (1615-1673): Democrit und Protagoras, um 1664, Öl auf Leinwand, Museum Hermitage, St. Petersburg. Public domain. Rechts: Cristofano dell'Altissimo (1500–1605): Pico della Mirandola (1463-1494), 15. Jhdt. Uffizien, Florenz. Public domain.

 

Später sind es Personen ganz anderer Art, insbesondere Augustinus als der bedeutendste katholische Theologe der Frühzeit („Patristik“), gegen die Prütting polemisiert. Augustinus ist so etwas wie sein Lieblingsgegner, ein Theologe, dessen Thesen er in ihrer Gesamtheit entschieden ablehnt. Für ihn ist er der Theologe, der in seinen Schriften die Diktatur „machtgestützter und machtgeschützter Intoleranz ideologisch konsequent“ begründet. So viel darf man sagen: Katholiken können nicht damit glücklich sein, wie Prütting versucht, die Theologie des Augustinus als ganz und gar gegen den „Homo-mensura“-Satz gerichtet zu verstehen. Aber noch einige andere berühmte Namen bekommen ihr Fett weg: Ignatius von Loyola zum Beispiel, der Gründer des Jesuiten-Ordens, der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal, und schließlich – das ist im ersten Augenblick schon überraschend – schließlich wird Rousseau sehr kritisch dargestellt. Auch über den Terror des Stalinismus verliert der Autor einige erfreulich klare und deutliche Worte.

 

Und dann kommt das Kapitel, das die „Wiederentdeckung des Protagoras-Programms“ darstellt – hier kommt, neben Petrarca, endlich Pico della Mirandola zu seinem Recht, dieses eigenartige Genie, das zentrale Einsichten der philosophischen Anthropologie formulierte, zu denen nach ihm erst wieder Johann Gottfried Herder (1744-1803) oder Helmuth Plessner (1892-1985) gelangen sollten – also Jahrhunderte später. Immer wieder in seinem Buch kommt Prütting auf diese und andere Namen zu sprechen, auf große Denker, deren Verdienst in einer Philosophie des Menschen bestand. Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen schufen zwischen 1928 und 1940 eine ganz neue Wissenschaft vom Menschen, die „Scienza nuova“ des 20. Jahrhunderts in den Worten des auf Giambattista Vico anspielenden, seine deutschen Kollegen bewundernden José Ortega y Gassets. Schon bald – und sehr zu unserem Schaden – wurde diese neue Wissenschaft im Gefolge der Kritischen Theorie, später dank der Analytischen Philosophie vergessen oder verdrängt. Sie sollte unbedingt wieder neu entdeckt werden, und Prütting selbst hat ja dazu seinen Teil beigetragen. Und er tut das auch in den abschließenden Kapiteln dieses Buches, wenn er zentrale Einsichten Helmuth Plessners referiert oder Kurzfassungen seiner Überlegungen zum Thema Lachen vorträgt.

Von allem anderen abgesehen, ist das Buch mit seinen Hinweisen auf die große Literatur der letzten zweitausend Jahre enorm anregend. Dazu ist die Bedeutung seiner ethischen Überlegungen gar nicht hoch genug einzuschätzen.


Lenz Prütting: Das Maß aller Dinge.

Eine anthropologische Studie zum Homo-mensura-Satz des Protagoras und seiner Rezeptions-Geschichte.

Verlag: Königshausen und Neumann 2023

363 Seiten

ISBN 978-3826078170

Weitere Informationen (Verlagsseite)

 

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.