Der Mann, der später mein Vater wurde: diese Redewendung benutzt Torkel S Wächter häufig in seinem neuen biografisch-dokumentarischen Roman „Meines Vaters Heimat“.
Etwa 17 Jahre nach dem Tod seines Vaters Michael öffnet der schwedische Schriftsteller zum ersten Mal die Umzugskartons, in die er 1983 hastig dessen Nachlass verstaut hat: Bücher, Manuskripte, Briefe, Tagebücher. Dabei stößt er auf den Namen Walter Wächter, am selben Tag geboren wie Michael Wächter – ein bisher verschwiegener Zwillingsbruder? Torkel erkennt, dass beide dieselbe Person sind. Und es sein Vater war, der 1935 als Walter Wächter aus dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel in Hamburg Briefe schrieb, auf liniertem Papier in Sütterlinschrift, eine Schrift, die Torkel nicht kennt, ebenso wenig wie die deutsche Sprache, die ihm Michael nie beibringen wollte.
Schritt für Schritt beginnt Torkel anhand der Unterlagen, die Geschichte von Walter zu rekonstruieren, eine Suche, die 20 Jahre dauert und die er zu einem spannenden Roman zusammengefasst hat.
Identität ist ein viel strapazierter Begriff. Wie zufällig und mehrdeutig diese ist, erkennt Torkel S Wächter auf dem langen Weg von 20 Jahren, in denen er die Lebensgeschichte seines Vaters recherchiert und seine Herkunft entdeckt: als Sohn eines deutschen Juden, der in Hamburg geboren 1938 als 25-Jähriger Zuflucht in Schweden fand und dort ein neues Leben begann als Michael Wächter. Er heiratete eine Schwedin und gründete eine neue Familie, dessen jüngster Sohn Torkel S Wächter ist. Der Vater arbeitete erfolgreich in verschiedenen Berufen, u.a. als Leiter des militärpsychologischen Instituts und Hochschullehrer, schrieb bis zu seinem Tod bissige und polemische Kolumnen für schwedische Zeitungen. Und er reiste häufig nach Deutschland, um sich Theateraufführungen anzusehen und alte Freunde zu treffen. Zwei Mal hat Torkel ihn dabei begleitet, 1974 und 1981, doch nie hat sein Vater dabei etwas über sein früheres Leben als Walter erzählt, stattdessen ausweichend oder gereizt entsprechende Fragen abgewehrt.
Dass Torkel überhaupt auf den Dachboden steigt und die Umzugskartons öffnet, verdankt er einem Zufall. Als er und seine hochschwangere Frau um die Jahrtausendwende in Neuseeland planen, Europa hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen, schickt ihm die Mutter ein altes Schwarzweißfoto, auf dem die Eltern des Vaters zu sehen sind. Noch nie hat Torkel seine Großeltern gesehen, er weiß fast nichts über sie, obwohl sie ihm ähneln. Zusammen mit seiner Frau beschließt er nach Stockholm zurückzukehren. Eine Odyssee beginnt auf den Spuren des Vaters.
Torkel beginnt Deutsch zu lernen, um die Briefe seiner Onkel John und Max zu entziffern, die sie in den 1960er Jahren aus São Paulo und Buenos Aires an den Vater schrieben. Als Verkehrspilot war Torkel einige Male in diesen Städten, einmal hätte er sogar fast begonnen, seine Verwandten dort ausfindig zu machen, aber es dann doch gelassen. Er begreift, dass er schon lange an einer Art Krankheit leidet: SGSD, d.h. Second Generation Stress Disorder. Regelmäßig war er als Pilot auf dem Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel gelandet und gestartet, nur wenig entfernt vom sogenannten „KoLaFu“, dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel, wo sein Vater 1935 zusammengeschlagen wurde, seine Zähne verlor und den Irrsinn der Folter erfuhr. Das hatte der Vater nie erzählt, Torkel es also nie gewusst, aber dennoch war er bei seinen Aufenthalten in Hamburg immer gereizt, vergesslich, orientierungslos, träumte und schlief schlecht.
Kein richtiger Schwede, kein richtiger Deutscher, kein richtiger Jude und dennoch alles zusammen in einer Person: Torkel lernt nicht nur Deutsch, er lässt sich auch von einem Rabbiner ins Judentum einweisen, besucht die Synagoge. Sein Vater hat jede Religion von seinen Kindern ferngehalten. Denn er fragte nicht, wo Gott war, als das Morden in Auschwitz und anderswo geschah, sondern wo die Alliierten gewesen sind. Politisch engagiert hat sich Michael in Schweden nie, angeblich, weil er als Jude und Exil-Deutscher nicht genug akzeptiert worden wäre, aber vielleicht auch, weil ihm als Walter sein politisches Engagement gegen die Nazis zum Verhängnis wurde. Nach drei Jahren Zuchthaus gaben ihm die Nazis zwei Wochen Zeit Deutschland zu verlassen. Er bereitete sich auf ein neues Leben als Landwirt in Palästina vor, arbeitete auf einem Gut in der italienischen Po-Ebene, dann im Königreich Jugoslawien. Vielleicht war er nach den Erfahrungen von Mord und Verfolgung eine Zeitlang überzeugter Zionist, doch bei Kriegsende blieb er in Schweden, studierte, denn er war ein Intellektueller, kein Landwirt.
Torkel reist häufig nach Hamburg, die Geburtsstadt seines Vaters, wo Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ihn bei seiner Recherche unterstützen. Sie vermitteln ihm den Kontakt zu einem Verein von älteren Leuten, die Sütterlinschrift lesen und transkribieren können, anders kann er die Tagebücher seines Vaters nicht lesen. Stückweise und nicht-chronologisch schicken sie ihm die transkribierten Texte, er ist abhängig von ihrer Arbeit. Im direkten, persönlichen Kontakt entfaltet sich die belastete Mehrdeutigkeit der deutsch-jüdischen Beziehung: Torkel bleibt zunächst misstrauisch, doch erfährt er wertvolle Hilfe von Menschen, die sich ernsthaft um die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bemühen, Freundschaften entstehen. Der Sütterlin-Übersetzer allerdings, ein 90-jähriger Mann, wird übergriffig, drängt sich in die Recherche von Torkel hinein, warum, bleibt unklar, vielleicht ein verunglückter Versuch einer persönlichen „Wiedergutmachung“? Verunglückt, besser: beschämend verläuft auch das sogenannte Wiedergutmachungsverfahren seines Vaters in den 1950er und 1960er Jahren, wie Torkel in den Akten des Hamburger Staatsarchivs nachlesen kann.
Trotzdem nimmt der Schriftsteller 2006 neben der schwedischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft an, die Jahrzehnte zuvor seinem Vater aberkannt wurde. Und obwohl er immer wieder mit den Gräueltaten konfrontiert wird, die im Namen des deutschen Volkes im Zweiten Weltkrieg verübt wurden, z.T. unter Mitwirkung von Helfern aus den besetzten Ländern wie z.B. im Wald von Rumbula am südlichen Rand der lettischen Hauptstadt Riga, wo Ende November und Anfang Dezember 1941 in zwei Tagen 25.000 lettische und über Tausend Berliner Juden auf grausame Weise ermordet wurden. Torkel S Wächter beschreibt die Methode präzise, zitiert einen Zeitzeugenbericht. Danach rekapituliert er, was zeitgleich in Hamburg passierte, begleitet die einzelnen Schritte der Deportation seiner Großeltern Minna und Gustav Wächter Anfang Dezember 1941 nach Riga ins Lager Jungfernhof. Hier enden der Roman und die Reise durch die Vergangenheit der Vorfahren.
Eine Reise, die nie an Spannung verliert und die Wechselbeziehung der allgemeinen mit der persönlichen Geschichte erlebbar werden lässt: die Todesangst auf der Flucht, den Zufall zu überleben, die Verlorenheit des Exils, das Unbehagen und Misstrauen, was diese unbewußte oder bisher nicht gewußte Vergangenheit bei den Nachkommen bis in die Gegenwart erzeugt. Torkel wechselt die Perspektiven, springt zwischen den Zeiten, zitiert aus alten Briefen, Akten und Tagebüchern, imaginiert die Situationen, in denen sie geschrieben wurden. Er beschreibt die Begegnungen mit den Weggefährten seines Vaters, seine Gespräche mit den ehemaligen Ehefrauen, ihre Erinnerungen, er reflektiert seine Erlebnisse.
Schließlich versteht er sich als Schwede, Deutscher, Jude – von allem ein bisschen und alles zusammen. Das Buch liest sich nicht wie eine Versöhnung, sondern wie ein Zusammenfügen zerbrochener Teile, eine schmerzhafte Aneignung von Geschichte. Und vor allem ist es eine große und bewegende Liebeserklärung an den Vater.
Torkel S Wächter, Meines Vaters Heimat. Was er mir nie erzählte
Verlag Langenmüller München
Roman
260 Seiten, Softcover
- Weitere Informationen (Verlag Langenmüller)
- Weitere Informationen (Homepage Literatur- und Pressebüro Politycki & Partner)
Lesung am Mittwoch, 14. Juli 2021 von 18:00 bis 19:30
Geschichtsort Stadthaus, Stadthausbrücke 6, 20355 Hamburg
Veranstalter: KZ Gedenkstätte Neuengamme
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