Welcher europäische Philosoph war einflussreicher als Leibniz? Aber Einfluss ist nicht Bekanntheit: Obwohl bis heute jeder seinen Namen kennt, war er niemals wirklich populär, nicht in seiner eigenen Zeit und auch nicht später.
Allerdings, eine Unzahl von großen Philosophen und Mathematikern beruft sich bis heute auf ihn, und wahrscheinlich sind es noch mehr, die seinen Überlegungen folgen, ohne dass ihnen das bewusst wäre.
Sozusagen ein Amateurmathematiker, war der Jurist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) doch der Erfinder der Infinitesimalrechnung, ohne welche die Physik wie auch andere Wissenschaften niemals ihren gewaltigen Aufschwung hätten erleben können. Als junger Mensch reiste er als umtriebiger Diplomat und Projekteschmied durch Europa und entdeckte in dieser Zeit nach und nach sein mathematisches Talent. Mehr oder weniger gleichzeitig mit Newton schuf er die Infinitesimalrechnung als die Grundlage der modernen Wissenschaften. Später bosselte er an einer Rechenmaschine herum, erfand ein paar Kleinigkeiten für die Trockenlegung von Stollen in den Bergwerken des Harzes oder legte die Herrenhäuser Gärten in Hannover an. Von seinen Studien zur chinesischen Geschichte oder zur Genealogie seines Brötchengebers, des Königs zu Hannover, wollen wir schweigen. In jedem Fall war seine Vielseitigkeit erstaunlich. Oder besser: absolut einzigartig.
Enorm wichtig sind die Briefe, die er an zeitgenössische Wissenschaftler schrieb – er führte eine ausufernde Korrespondenz –, und ungeheuer ertragreich ist bis heute das Studium der Notizen, die er für sich selbst niederschrieb, weil er jeden Morgen beim Aufwachen tausend Ideen hatte, die unbedingt festgehalten werden wollten. Immer noch nicht sind Entzifferung und Edition seines schriftlichen Nachlasses abgeschlossen!
Wie wichtig und zukunftweisend seine Philosophie war, kann man daran sehen, dass auch unser Denken von zwei groben Widersprüchen geprägt ist, die sehr leicht in Leibniz‘ Werken auszuweisen sind. Gelegentlich ist man eben nicht nur mit seinen Einsichten, sondern auch mit seinen Irrtümern oder seiner Ratlosigkeit ein Avantgardist, wenn man als erster ein Problem erkennt – oder es vielleicht sogar erst schafft. Leibniz ist über Probleme nicht nur gestolpert, weil sie zufällig auf dem Wege lagen, sondern weil der eigene Weg, der so viel weiter führte als die Wege der Vergangenheit, endlich doch in einer Sackgasse endete.
Auch dieser Widersprüche wegen war Leibniz der Vater der Moderne, vielleicht mehr als jeder andere. Was sich in seinem philosophischen Konzept beißt, das ist die Betonung der Individualität – man kann Leibniz geradezu den Philosophen der Individualität nennen – und die Bedeutung, welche er zugleich der Kontinuität zuspricht. Das drückt sich besonders in seiner Metaphysik aus, denn trotz des von ihm formulierten Kontinuitätsgesetzes sieht er die Welt aus Monaden zusammengesetzt, die er als gegen- und untereinander vollkommen abgeschlossen ansieht. Damit handelt er sich unendlich viele Schwierigkeiten ein, die er mit seinem Konzept der „prästabilierten Harmonie“ zu überwinden versucht. Bis heute stoßen beide Vorstellungen auf Unverständnis und Ablehnung, wenn nicht sogar auf beißenden Spott.
Wer weiß schon, was eine Monade ist? Wer kann sich wirklich etwas darunter vorstellen? Man soll sich darunter die kleinsten, in jedem Fall belebten Einheiten des Universums denken. Obwohl nur ausdehnungslose Punkte, bilden sie dennoch die Substanz dieser Welt, die wir uns doch immerhin ausgedehnt denken. Mit seiner Konzeption der belebten Monaden war Leibniz ein Pantheist oder Panpsychist, denn selbst die für uns leblose Materie schien ihm ein dunkles Bewusstsein zu besitzen. Aber trotz dieser Belebtheit sei jede Monade vollkommen abgeschlossen und bleibe für sich. Schon allein das ist ein gewaltiger Widerspruch. Denn wie lässt sich die Behauptung der prästabilierten Harmonie angesichts der totalen Isolation aller ihrer Teile ernsthaft vertreten? Wie kann ein isoliertes Wesen etwas empfinden?
Wir suchen denselben Widerspruch in einer anderen Einkleidung auf und finden ihn in dem Gegensatz von einer absolut gesetzten Individualität und dem Satz der Kontinuität, den Leibniz insbesondere in seinem Briefwechsel vertrat. In einem Brief an den Kollegen Pierre de Varignon (1654 – 1722) nimmt er eine Kurve an (er benutzt das Vokabular eines Mathematikers…), in der er alle Wesen einordnet: „Die Menschen stehen also mit den Tieren, die Tiere mit den Pflanzen, und diese wiederum mit den Fossilien in nahem Zusammenhang, während diese letzteren ihrerseits wieder mit den Körpern, die uns in der sinnlichen Anschauung erscheinen, zusammenhängen. Das Gesetz der Kontinuität fordert, daß, wenn die wesentlichen Bestimmungsstücke eines Wesens sich denen eines anderen nähern, auch alle sonstigen Eigenschaften des ersteren sich stetig denen des letzteren annähern müssen.“
Schon das Beispiel, das Leibniz für seinen Satz nimmt, die Kette der Lebewesen, weist auf die Bedeutung seines Theorems für die Theorie der Evolution hin: Ohne die Annahmen von Leibniz, ohne die Vorstellungen der Infinitesimalrechnung, ohne den Glauben an Millionen, was sage ich: an Milliarden von unmerklichen Übergängen können sich Biologen die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt unmöglich vorstellen. Ihre Vorstellung von der Evolution schließt jeden Sprung aus. Vielmehr werden alle Entwicklungen als graduell angenommen, als allmählich und fließend. („Extremely slight modifications in the structure or habits of one inhabitant would often give it an advantage over others“, heißt es in Charles Darwins „On The Origin of Species“). So erklärt es sich, dass ein epochales Werk wie die „Stufen des Organischen“ Helmuth Plessners auf eine entschiedene Ablehnung vieler Biologen trifft: Es trägt bereits den falschen Titel. Stufen können keinesfalls akzeptiert werden. Und deshalb lesen sie das Buch lieber erst gar nicht.
An dieser Stelle wird der Gegensatz von Idealität und Realität wichtig. Nehmen wir einen beliebigen Gegenstand. Er besitzt Eigenschaften, und je mehr Eigenschaften er hat, desto mehr unterscheidet er sich von allen anderen Gegenständen; und je mehr er sich unterscheidet, desto realer wird er. Der Stuhl, auf dem ich sitze, besitzt eine unendliche Anzahl von Eigenschaften, ganz anders als der logische Begriff des Stuhls, für den der Gegenstand nicht mehr als vier Stuhlbeine und eine Sitzfläche braucht. Das erste ist der reale Stuhl, der zweite der ideale, was hier nur bedeutet: der ideale Stuhl steckt in allen realen, aber alle realen Stühle unterscheiden sich voneinander.
Leibniz hat aus dieser einfachen Überlegung das „Indiscernibilienprinzip“ extrahiert (in den Paragraphen 8 und 9 seiner „Monadologie“) – dieser ganz einfache und eben deshalb so elementare Satz ist das notwendige Gegenstück zu seiner Kontinuitätsthese. Alles Reale, so Leibniz‘ Behauptung, sei unmerklich voneinander unterschieden; und weil es unmerklich voneinander unterschieden ist, kann es auch unmerklich ineinander übergehen. Diese Überzeugung ist die Basis der Infinitesimalrechnung, die ja auch mit Unterschieden, die gegen Null gehen, arbeitet, und deshalb sind Kontinuitätsthese und Indiscernibilienprinzip nicht allein die Zentren der Leibniz’schen Philosophie, sondern zugleich (oder mit ihr) die Leitthesen der modernen Wissenschaft – bis zu Einstein, denn die Einsichten der Relativitätstheorie und die Vorstellungen der Atomphysik vertragen sich mit diesen Überlegungen überhaupt nicht mehr.
Zuvor kannte man eine „infinitesimale Realität“ (Hermann Cohen), aber heute ist die Vorstellung der Wissenschaft von der Realität eine ganz andere: ist man Physiker oder kennt sich aus, stellt man sich die Realität „granuliert“ oder „körnig“ vor, also nicht mehr kontinuierlich. Es gibt dann eine Realität hinter der Welt, in der wir leben, und in dieser Welt herrschen ganz andere Gesetze. Vorgänge in ihr lassen sich vielleicht berechnen, aber verstehen lassen sie sich nicht mehr – auch deshalb, weil Physiker sie sich nicht mehr als kontinuierlich vorstellen können. Wir anderen dagegen – wir Nicht-Physiker – leben nach wie vor in der „infinitesimalen Realität“ des Hermann Cohen; und eben deshalb ist es wichtig, sich mit den Überlegungen von Leibniz auseinanderzusetzen.
Bereits 1758 hat Immanuel Kant in einer kleinen Schrift auf einige problematische Punkte in der Konzeption der Kontinuität durch Leibniz hingewiesen. Der geschickte Billardspieler Kant diskutiert in seinem Essay den Zusammenstoß zweier Kugeln, also ein ganz einfaches mechanisches Problem, und zeigt, dass das Prinzip der Kontinuität hier versagt. Nach Leibniz (nach der Methode der Infinitesimalrechnung…) nimmt man für die Begegnung beider Körper immer kleinere Einheiten an, immer kleinere Grade, damit der Übergang fließend und kontinuierlich bleibt. Nur: Die Entfernung zwischen den beiden Kugeln, so lautet Kants Einwand, mag noch so klein sein – er wird in dieser Rechnung niemals Null, sondern ist in jedem Fall unendlich viel größer, so dass die Impulsübertragung gar nicht anders als plötzlich vorgestellt werden kann: „Denn es mag noch so ein unendlich kleines Moment sein, womit er in einem Augenblick wirkt, und welches sich in einem bestimmten Zeittheilchen zu einer gegebenen Geschwindigkeit häuft, so ist dieses Moment immer eine plötzliche Wirkung, die nach dem Gesetze der Continuität erstlich hätte durch alle unendliche Grade der geringeren Momente durchgehen sollen und auch können“. Deshalb ist „das Moment der Wirkung beim Stoße plötzlich und dem Gesetze der Continuität zuwider.“ Mit anderen Worten: Die Welt, in der wir leben, ist entgegen den Vorstellungen von Leibniz nicht kontinuierlich, auch wenn wir sie so erleben mögen.
Wichtig ist es, dass wir eine Kontinuität annehmen müssen (wir müssen sie „heimlich annehmen“, schreibt Kant und spricht von einem „Denkgesetz“), denn eine kontinuierliche Welt und nur sie allein entspricht unseren Erkenntnisvoraussetzungen. In einer nicht-kontinuierlichen Welt würden wir die Orientierung verlieren. Ob diese Welt in Wahrheit kontinuierlich ist oder nicht – für uns, für unser Denken wird sie es immer sein.
Das Kapitel über die „Postulate der Wahrnehmung“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ beschreibt Regeln, denen sich jede Wahrnehmung fügen muss, wenn sie vor sich selbst nicht als Trug dastehen will. Damit sie uns als real erscheinen kann, muss eine Wahrnehmung stetig sein, sich also in eine Kontinuität einfügen – in eine Kontinuität, die so zunächst bloß als eine Forderung formuliert wird, nicht etwa als eine Beschreibung des Seins der Welt. Besser als vielleicht jeder andere hatte Kant die Probleme verstanden, welche die Infinitesimalrechnung begleiten, die zwar selbst das Kontinuitätsprinzip fordert, dieses aber im entscheidenden Punkt verfehlt.
Besonders deutlich werden die Widersprüche und Absurditäten der Infinitesimalrechnung, wenn es sich um die Darstellung der Geschwindigkeit handelt. Im Grunde geht sie vor wie der Film, der uns eine Reihe von starren Bildern vorführt, aus deren schneller Abfolge die Illusion der Bewegung resultiert. Entsprechend nimmt die Mathematik kleinste Einheiten an – Paul Natorp sprach in den „Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften“ von „Stillständen“ –, in denen sich ein Körper also nicht bewegt und entsprechend die Zeit nicht mehr fließt. Die Stillstände folgen aufeinander in Abständen, die gegen Null tendieren und doch nicht Null sind. Diese Aufeinanderfolge von Momenten der Unbeweglichkeit soll zur Bewegung führen? Berechnen kann man Bewegung in dieser Weise auf jeden Fall, aber lässt sich Bewegung damit beschreiben oder verstehen?
Ludwig Klages begann sein Hauptwerk „Der Geist als Widersacher der Seele“ mit einer Widerlegung dieser Ansichten, welche die klassische Mechanik bestimmen. Und hatte er nicht recht, sind die von Leibniz angenommenen Voraussetzungen nicht wirklich merkwürdig und unserem Erleben widersprechend? Für uns ist besonders der von Klages aufgezeigte logische Widerspruch entscheidend. Er zeigt, dass sich auf diese Weise weder Bewegung eines Körpers noch Übergänge von einem Status in den anderen beschreiben lassen. Aber auch keine Entwicklung, wie man sie offensichtlich in der Evolution der Lebewesen vor sich hat. „Der Übergang von Größe zu Größe ist ein Sprung, das Geschehen aber fließt“, resümiert Klages. Nur: Wir haben tatsächlich Sprünge vor uns, zum Beispiel in den Arten oder auch in den Geschlechtern. Und wenn Elektronen in den Atommodellen von einer Bahn auf die andere springen, dann erscheint uns eben dieser Vorgang irreal; er ist nicht fließend, nicht kontinuierlich, und deshalb verstehen wir ihn nicht.
Man muss sich immer wieder vor Augen führen, wie widersprüchlich viele der Infinitesimalrechnung zugrunde liegenden Vorstellungen sind. Wie könnten aneinandergereihte ausdehnungslose Punkte je zu einer Linie führen? Wie könnte es möglich sein, dass sich eine Bewegung aus starren Bruchstücken zusammensetzt? Klages sprach deshalb von „Bewegungsleugnung“ und erklärte: „Wandlung und Sein schließen sich aus.“
In Wahrheit ist es so, dass Differential- und Infinitesimalrechnung nicht die Bewegung leugnen, sondern nur so tun als ob. Natürlich wussten und wissen Mathematiker, dass es Bewegung gibt, aber die Mathematik als eine ideale Wissenschaft diese nur annäherungsweise erfassen kann. Für Natorp war die Mathematik „die Wissenschaft des Unwandelbaren“. Und wenn eine solche Wissenschaft auf das fließende Leben und seinen ständigen Wandel projiziert wird, muss es notwendig zu Widersprüchen kommen. Oder zu Irrtümern, wenn man nämlich denkt, dass die Voraussetzungen der Rechnung tatsächlich die Wirklichkeit (das Sein) beschreiben. Hermann Cohen und Paul Natorp, die beiden Häupter der Marburger Schule, die ganz von der infinitesimalen Philosophie durchzogen war, sprachen deshalb von dem „Denkgesetz“ der Kontinuität – wie Kant wussten sie, dass es sich um Leitsätze der Erkenntnistheorie handelte, also um Gesetze, die allein für den Menschen und seinen Blick auf die Welt gelten. Man wollte ein kontinuierliches Geschehen beschreiben, konnte aber „Änderung nur ruckweise, also diskontinuierlich zum Ausdruck“ bringen.
Wenn unsere eigenen Denkgesetze nicht geeignet sind, das Sein abzubilden – muss man dann die Notwendigkeit zwei verschiedener Kategoriearten annehmen, solchen, die den Strukturen der Welt entsprechen, und den unsrigen, in denen sich unsere eigenen Beschränktheiten spiegeln? Nicolai Hartmann hat eben diesen Vorschlag gemacht, als er Seins- und Erkenntniskategorien voneinander unterschied; und in meinem Buch über „Die Vielfalt des Seins“ versuche ich zu zeigen, wie fruchtbar diese Unterscheidung ist.
Stefan Diebitz: Die Vielfalt des Seins. Warum jeder Monismus scheitern muß
Der blaue Reiter, Verlag für Philosophie
411 Seiten, gebunden
ISBN: 3933722748
VÖ: 2.6.2021
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