Film

„Morgen ist auch noch ein Tag“ eroberte die Herzen des italienischen Publikums im Sturm. Die feministische Tragikomödie im Schwarz-Weiß des Neorealismus entwickelte sich mit fast 5,5 Millionen verkauften Tickets in Italien zu einem sozialen Phänomen, überrundete internationale Erfolge wie „Oppenheimer“ und „Barbie“.  

 

„C’é ancora domani“, so der Originaltitel, ist das Regiedebüt der Schauspielerin und Drehbuchautorin Paola Cortellesi. Sie spielt die Hauptrolle, Delia, eine Mutter und Ehefrau nach Kriegsende in Rom, unterdrückt, gedemütigt, ausgenutzt. Gewalt prägt ihren Alltag, und doch würde sie die Familie nie verlassen. Dann trifft ein Brief ein, der alles verändert. 

 

1946 ist das für die politische Zukunft des Landes entscheidende Jahr, in wenigen Tagen soll über die Abschaffung der Monarchie abgestimmt werden. Die alten Machtstrukturen aber sind noch tief verwurzelt und der Faschismus spukt noch in den Köpfen. Delia ist Ehefrau von Ivano (Valerio Mastandrea), Hausfrau und Mutter von drei Kindern, in dieser Rolle geht sie auf. Die Familie lebt in einer ärmlichen Kellerwohnung. Rom- eine Stadt im Umbruch zwischen dem Neubeginn durch die Alliierten und dem Elend des grade beendeten Krieges. Auf den Straßen patrouillieren amerikanische Soldaten, verschenken Süßigkeiten an die Kinder, nicht allen sind jene Befreier willkommen. Der bettlägerige Schwiegervater Ottorino vermisst seine „eleganten Faschisten" und Delias freundliches „Guten Morgen“ wird vom Ehemann mit einer Ohrfeige quittiert, so beginnt ihr Tag. Sie zeigt sich unbeeindruckt, versucht gegenüber der Tochter (Romana Maggiora Vergano) die Brutalität des Vaters als psychische Folgen der Kriege zu entschuldigen, Marcella kann nicht verstehen, weshalb ihre Mutter diesen brutalen egoistischen Macho nicht verlässt. Das muss eigentlich noch mehr schmerzen als die Schläge selbst. Die Verachtung, mit der Ivano seine Frau behandelt, vergiftet das Klima daheim, die Kinder sind längst infiziert.

 

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Fürsorge, Freundlichkeit, Verständnis gehören wie Putzen, Kochen, Waschen, Einkaufen und die Krankenpflege des ständig ungnädigen Schwiegervaters zu den alleinigen Aufgaben Delias. Und weil das Geld nie reicht, nicht reichen kann, denn der modisch aufgeputzte Gatte verbringt seine Zeit weniger mit Arbeiten sondern lieber mit Freunden, Kartenspiel und Prostituierten, hastet Delia von einem Aushilfsjob zum nächsten: Reparieren von Strümpfen, dem Verabreichen von Spritzen und dem Montieren von Regenschirmen. Als sie ihren Chef fragt, wieso der ungeschickte Neuling, dem sie mit viel Geduld erst das Montieren der Speichen beibringen muss, mehr verdient als sie nach drei Jahren, lautet die lapidare Antwort: „Weil er ein Mann ist“. Das Geld muss sie abliefern bei dem angeblichen Ernährer der Familie, und doch gibt man ihr zu verstehen, dass sie wertlos ist. War damals so etwas wie Liebe zwischen den Beiden? Delia konzentriert sich auf die Zukunft ihrer Tochter, hofft auf deren Glück, eine Ehe basierend auf Vertrauen und Harmonie, den Vater beeindruckt allein, dass es sich bei dem Verlobten von Marcella um eine finanziell gute Partie handelt. Die steht derweil Todesängste aus, sollen doch die Schwiegereltern zum offiziellen Antrittsbesuch in der tristen Kellerwohnung empfangen werden. Warum nicht auf neutralen Boden in einem Restaurant?

Paola Cortellesi erzählt von den vielen kleinen Schritten auf dem langen Weg zur Emanzipation. Im Genre wechselt sie dabei immer wieder zwischen Drama und Komödie. Es ist ein lakonischer, schulterzuckender Humor, mit dem die Frauen in diesen repressiven Zeiten unter dem Radar tyrannischer Männer zusammenhalten, eine leichte, gradezu beiläufige weibliche Solidarität angesichts der Übermacht des Patriarchats mit seinen überkommenen Rollenvorstellungen. Vorstellungen, die sich bis heute halten. 

 

Respekt hat Ivano nur vor seinem despotischen Vater Ottorino (Giorgio Colangeli). Dieser hält sich zugute, seinen Sohn zu einem Mann erzogen zu haben, indem er ihn lehrte, wie man sich die Schuhe zubindet, sich rasiert- und wie man ins Bordell geht. Ottorino hat sein Haus beim Spiel verloren und lebt nun zusammen mit der Familie in der engen Kellerwohnung und schwadroniert von besseren Zeiten, den Sohn ermahnt er, Delia nicht ständig zu schlagen, um den Gewöhnungseffekt zu vermeiden. Das Ergebnis sei zufriedenstellender, wenn man die Ehefrauen nur ab und zu verprügle. Komödiantische Pointen, damit uns das Lachen vergeht. Paolo Cortellesi (Jahrgang 1973) entschied sich für das Schwarz-Weiß des Neo-Realismus, so hatte sie sich schon als Kind die Geschichten ihrer Großmütter und Tanten immer vorgestellt. „In diesen Geschichten gab es Freud und Leid, das ihnen widerfahren war, oder den Verwandten, den Nachbarn, den Kindern auf der Straße. Dramatische, lustige, paradoxe, manchmal tragische Geschichten, in jeder von ihnen gab es Frauen, die ein Leben voller Missbrauch akzeptiert hatten. Ich wollte davon erzählen – von einer Zeit, in der es so gut wie keine Frauenrechte gab – und gleichzeitig von der Geburt eines Bewusstseins im Leben einer ganz normalen Frau.“ Es ist der Anfang vom Ende des Patriarchats. 

 

Als Ivano das erste Mal zuschlägt, ertönt Fiorella Binis beschwingte Cover Version von dem Fünfziger Jahre Hit „Aprite le fenestre“. Den Frühling kann die Gewalt nicht zerstören, und auch nicht den Willen dem Machtmissbrauch zu trotzen, Singen als Widerstand und für Gleichberechtigung- und sei es mit geschlossenen Lippen wie am Ende des Films. Vielleicht eines der schönsten Finale der Kinogeschichte. Die Gewalt vollzieht sich meist außerhalb der Kamera, zeigt nicht die skrupellose Härte der Fäuste oder die entstandenen Wunden. Gewalt als voyeuristischer Selbstzweck ist tabu, das Leid, der Schmerz spiegelt sich in Mimik und Bewegung. Gewalt mutiert zur Metapher: Welch makabre Choreographie, wenn Delia und ihr Peiniger sich mit wohl vertrauten Tanzschritten zum Pas de deux des alltäglichen Grauens drehen, ein Circulus vitiosus von Täterschaft und Akzeptanz, blaue Flecken verschwinden, die Gewalt bleibt, Blut fließt und fließt zurück- und das auch nur hier. 

 

Roberto Rossellini („Roma, cittá aperta“, 1945), Vittorio de Sica („Sciuscià“, 1946) und Luchino Visconti („La terra trema“, 1948) nahmen Abschied von den klassischen Helden und Heldinnen. Paola Cortellesis bezieht sich in ihrem Film aber auch „gern", wie sie sagt, „auf den rosa Neo-Realismus, der realistische Fakten und Charaktere erzählte, aber in einem romantischen Kontext, in dem der Motor am Ende des Tages eine Liebesgeschichte war (ich denke da zum Beispiel an „Campo de' Fiori“ (1943) von Mario Bonnard oder „Abasso la miseria!“ (1945) von Gennaro Righelli). In diesem Zusammenhang habe ich das 4:3 Format für die Sequenz verwendet, die den Film eröffnet. Ich wollte in den ersten Minuten die Atmosphäre dieses Kino wiedergeben und dann sowohl das Format als auch den Diskurs „erweitern“. Die gebürtige Römerin bleibt der Arbeiterwelt des Neo-Realismus treu, nur ist ihre Perspektive eine andere, die Protagonistin eine Frau, zum Besitz erklärt, der Radius erzwungenermaßen enger. Ein Gefängnis kann abstumpfen oder die Sinne schärfen wie in diesem Fall: Eine Frage des Überlebens, Gelegenheiten wittern, eine Nische, die richtige Kurve nehmen, den Vorteil ergaunern, um ein paar Lira für das Hochzeitskleid der Tochter beiseitezulegen. Ihre Geheimnisse sind anderer Art als die der Männer, aber das hat nun ein Ende. Wir lauern darauf, dass Delia mit dem attraktiven Automechaniker durchbrennt. Wir liegen total falsch.

 

paola cortellesi c adolfo franzoCortellesi ist eine meisterhafte Erzählerin, den Übergang zur Gegenwart signalisieren Songs wie „Calvin“ von The Jon Spencer Blues Explosion aus dem Jahr 1998. Gefühle und Gedanken überstürzen sich, mitreißend die Feinheiten der verschiedenen Charaktere. Anfangs hatte die Autorenfilmerin sich den despotischen Ivano mit einer schon körperlich offensichtliche Härte vorgestellt: „Aber als das Schreiben fortschritt, erschien es natürlicher, Ivano als einen gewöhnlichen Mann zu entwickeln, gewalttätig und manchmal erschreckend, aber auch unwissend, ungeschickt, lächerlich. Kein Monster also, sondern ein gewöhnlicher Mensch, der in einer „Normalität“ lebt, die unsägliche und gewohnheitsmäßige Gewalt zulässt. Tochter Marcella dagegen ist immer wütend, nur wütend, hat nie gelernt andere Gefühle zu entwickeln. Liebe als einziger Ausweg aus der heimischen Misere. Erst ganz am Ende bekommt Delia jenes Lächeln von ihr, für das sie alle die Qualen auf sich genommen hat. Und doch wir müssen sie mögen diese Marcella, sagt Cortellesi, sonst funktioniert ihre Rolle nicht, diese herzlose Ungeduld gegenüber der Mutter: „Bevor ich so ende wie Du, bringe ich mich um." Der Satz rutscht ihr, natürlich bereut sie ihn, und doch es kommt nie einen Entschuldigung, niemand in der Familie, hat je gelernt sich zu entschuldigen. Delias einziger Trost ist ihre Vertraute und Freundin Marisa (Emanuela Fanelli), eine witzige und optimistische Frau, die sich keine Vorschriften machen lässt und harmonisch mit ihrem Mann zusammenlebt. 

 

Eines Tages lernt Delia den afroamerikanischen Soldaten William (Yong Joseph) kennen, der ihr Hilfe anbietet, nachdem er die Spuren häuslicher Gewalt an ihr bemerkt.  Ein nützliches Angebot, als ihre Tochter ebenfalls Gefahr läuft, eine Ehe einzugehen, in der sie regelmäßig misshandelt und gedemütigt wird. Aber entscheidend für Delias Leben ist jener mysteriöse Brief, den sie so sorgsam versteckt. 

 

Am 25. November 2023, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wurde im italienischen Senat „C’è ancora domani“ gezeigt.  Allein im Jahr 2023 sind in Italien mehr als 100 Femizide begangen worden. Auch bei uns in Deutschland stirbt im Durchschnitt jeden dritten Tag eine Frau, nur deshalb, weil sie eine Frau ist. Und der statistisch gefährlichste Ort für sie ist das Zuhause, die größte Gefahr geht vom Partner oder Ex-Partner aus. Wohl auch aus diesem Grund löste Paola Cortellesi in Italien Debatten quer durch alle Generationen aus. Doch das Thema haben viele Regisseurinnen vor ihr im Zuge von #MeToo auf die Leinwand gebracht, doch einzigartig war hier die ungeheure emotionale Wirkung. Paola Cortellesi war überwältigt von der Reaktion, die ihr Film hatte. Wenn die Frauen nach der Vorstellung im Saal die Hand hoben, erzählten sie aus ihrem Leben, Privates, Brutales, sie waren zutiefst gerührt, sie sprachen mit der Regisseurin, aber eigentlich wollten sie es allen erzählen, ihr Schicksal teilen.

Grazie di cuore, Paola. 

 

 

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Morgen ist auch noch ein Tag

Originaltitel: C’è ancora domani 

Regie: Paola Cortellesi

Drehbuch: Paola Corellesi, Furio Andreotti, Giulia Calenda

Darsteller: Paola Cortellesi, Valerio Mastandrea, Romana Maggiora Vergano, 

Emanuela Fanelli, Giorgio Colangeli

Produktionsland: Italien

Länge: 118 Minuten

Kinostart: 4. April 2024

Weitere Informationen und Verleih: Tobis Film GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Tobis Film GmbH

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