Kolumne

Sayaka Shoji schafft das bei Licht besehen Unmögliche, also genau das, was die Musik wie keine andere Kunst vermag: Disparateste Stimmungslagen, womöglich gleichzeitig (s.u.), in den emotionalen Raum der selbstverlorenen Befangenheit des unverhofften Sich-gefunden-habens zu stellen.

Oder das Dunkel des erlebten Augenblicks, wenn auch für Momente nur, real werden oder aufscheinen zu lassen. Also dort – in diesem Sehnsuchtsland – angekommen zu sein, von dem Ernst Bloch ganz am Ende von Das Prinzip Hoffnung sagt, es entstehe „in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

 

„Die Virtuosität solcher Beseelung“ besteht darin, „sich in diesem Elemente (der Komposition, F.-P.H.) mit vollständiger Freiheit zu bewegen – so, wie in geistiger Rücksicht die Genialität nur darin bestehen kann, die geistige Höhe des Komponisten wirklich in der Reproduktion zu erreichen und ins Leben treten zu lassen… Denn ein dürftiger Kopf kann keine originellen Kunststücke hervorbringen, bei genialen Künstlern aber beweisen dieselben die unglaubliche Meisterschaft in ihrem und über ihr Instrument, dessen Beschränktheit die Virtuosität zu überwinden weiß und hin und wieder zu dem verwegenen Beleg dieses Siegs ganz andere Klangarten fremder Instrumente durchlaufen kann. In dieser Art der Ausübung genießen wir die höchste Spitze musikalischer Lebendigkeit, das wundervolle Geheimnis, daß ein äußeres Werkzeug zum vollkommen beseelten Organ wird, und haben zugleich das innerliche Konzipieren wie die Ausführung der genialen Phantasie in augenblicklichster Durchdringung und verschwindendstem Leben blitzähnlich vor uns.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

 

Es ist natürlich ein verwegener, um nicht zu sagen, verstiegener Anachronismus, die Behauptung aufzustellen, dass diese Sätze aus den Vorlesungen zur Ästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf die japanische Geigerin Sayaka Shoji gemünzt sind. Viel eher könnten sie auf den Virtuosen dieses sehr speziellen Instruments der damaligen Zeit zielen, also auf Niccolò Paganini (1782-1840). Aber auch dieser Bezug ist allenfalls für immerhin möglich zu halten, da bekannt ist, dass Hegel besonders für die Kompositionen italienischer Tonsetzer – speziell die südländische Oper – geschwärmt hat.

 

Wie auch immer. Entscheidend ist, dass diese Sätze wie in einem Brennglas, übertragen gesprochen, die durch die Konvexlinse gebündelte Energiedichte des Lichts so stark erhöhen, dass brennbares Material Feuer fängt. Und das brennbare Material ist, erneut im übertragenen Sinne, das atembenehmende Geigenspiel – hier sind „die tiefste Innigkeit und Seele als der strengste Verstand (als, F.-P.H.) zwei Extreme in sich vereinigt“ (Derselbe) – der japanischen Geigerin Sayaka Shoji. So dass die hymnischen Worte Hegels dann eben doch (auch und vor allem) diese Violinistin über die Jahrhunderte hinweg zu ihrem Adressaten haben.

 

In ihrem Spiel breitet die Musik sich „zum Ausdruck aller besonderen Empfindungen auseinander, und alle Nuancen der Fröhlichkeit, Heiterkeit, des Scherzes, der Laune, des Jauchzens und Jubelns der Seele, ebenso die Gradationen der Angst, Bekümmernis, Traurigkeit, Klage, des Kummers, des Schmerzes, der Sehnsucht usf. und endlich der Ehrfurcht, Anbetung, Liebe usf. werden zu der eigentümlichen Sphäre des musikalischen Ausdrucks.“ (Derselbe)

 

Soll freilich dieser alle Gefühlslagen umfassende musikalische Ausdruck erreicht werden, darf der „ausübende Künstler (…) nicht nur nichts von dem Seinigen“ hinzutun, „sondern er darf es sogar nicht, wenn nicht der Wirkung soll Abbruch geschehen. Er muß sich ganz dem Charakter des Werks unterwerfen und nur ein gehorchendes Organ sein wollen. In diesem Gehorsam jedoch muß er auf der anderen Seite, wie dies häufig genug geschieht, nicht zum bloßen Handwerker heruntersinken, was nur den Drehorgelspielern erlaubt ist. Soll im Gegenteil noch von Kunst die Rede sein, so hat der Künstler die Pflicht, statt den Eindruck eines musikalischen Automaten zu geben, der eine bloße Lektion hersagt und Vorgeschriebenes mechanisch wiederholt, das Werk im Sinne und Geist des Komponisten seelenvoll zu beleben.“ (Derselbe)

 

Dass exakt hierin Sayaka Shoji ihre Aufgabe erblickt, die zu erfüllen – dies ihre hyperkritische Selbsteinschätzung – ihr eventuell auf Immer verwehrt sein wird, was sie freilich nicht daran hindert, dieser sich selbst gestellten Aufgabe – und sei’s lediglich approximativ – zu genügen, macht die ungeheure Seriosität dieser ungemein feinfühligen Violinistin aus. Die dadurch noch überhöht wird, dass sie sich, laut eigenem Bekunden, bei der spielenden Aneignung je neuer Kompositionen intensiv mit dem geistigen und kulturgeschichtlichen Umfeld befasst, in dem die jeweilige Komposition entstanden ist.

Solche mit kulturellem Wissen unterfütterte, sich ganz und gar ihrer selbst entäußernde „Virtuosität beweist, wo sie zu ihrem Gipfelpunkte gelangt, nicht nur die erstaunenswürdige Herrschaft über das Äußere, sondern kehrt nun auch die innere ungebundene Freiheit heraus, indem sie sich in scheinbar unausführbaren Schwierigkeiten spielend überbietet, zu Künstlichkeiten ausschweift, mit Unterbrechungen, Einfällen in witziger Laune überraschend scherzt und in originellen Erfindungen selbst das Barocke genießbar macht.“ (Derselbe)

 

Abschließend noch dies: Sayaka Shojis Mimik, ihr, wenn man es so sagen kann, Augenausdruck sind gerade in ihrer Reduziertheit von größter, ich möchte sagen kindlich-unverbildeter, hellstrahlender Grundaussagekraft hinsichtlich dessen, was musikalisch jeweils gerade hochdifferenziert thematisiert wird. Das von ihr von Moment zu Moment zum Ertönen Gebrachte ist ihr, so unaufdringlich wie prägnant, ins Gesicht geschrieben, das von innen her erleuchtet ist oder – Ausdruck tief empfundener Freude – so wirkt.

 

Es gibt sie nämlich, die Paradoxie: das Glück der Trauer und die Trauer des Glücks. Überwältigt zu sein von dem emotionalen Aufruhr, der in beide Richtungen geht, und zwar simultan. Was in die Tat umzusetzen tatsächlich nur die (relevante) Musik vermag. Die den ergriffenen Rezipienten oder, wie in diesem Fall, die ausübende Künstlerin „alle Nuancen der Fröhlichkeit, Heiterkeit, des Scherzes, der Laune, des Jauchzens und Jubelns der Seele, ebenso die Gradationen der Angst, Bekümmernis, Traurigkeit, Klage, des Kummers, des Schmerzes, der Sehnsucht usf. und endlich der Ehrfurcht, Anbetung, Liebe usf.“ (Derselbe; s.o.) erleben und jeweils zu sich selbst finden lässt. Und exakt dieses mehrschichtige, immer wieder auch paradoxe Empfinden, sieht einen aus den Augen dieser außergewöhnlichen Violinistin an. Die all diese Gefühlslagen in ihrem Blick und ihrer gesamten Haltung vereint, wenn sie sich der Musik, wie es heißt, mit Haut und Haaren, auf Gedeih und Verderb, hingibt.

Weil in diese Waagschale alles zu werfen jedes Risiko lohnt, weil es das ist, was nach Ernst Bloch der erfüllte Augenblick mit all seinem zu verwirklichenden, ungeheuren Potenzial impliziert.


YouTube-Videos:

- Sayaka Shoji plays Paganini : Violin Concerto No.1 in D major, Op.6 ( 42:15 Min.)

- Sayka Shoji - Tchaikovsky : Violin Concerto in D major op.35 (37:47 Min.)

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

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