Ein Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion. Deutsche Fernsehzuschauer, die älter als fünfzig sind (oder die redselige Eltern besaßen) denken beim Wort ‚Seewolf’ keineswegs an Jack London, sondern reflexartig: ‚Raimund Harmstorf, Kartoffel’.
Diesen Tatbestand machte sich SPIEGEL-ONLINE-Kultur zunutze mit einer Ankündigung oder eigentlich einer Kritik zum neuen ZDF-Zweiteiler mit Sebastian Koch.
Bereits in der Überschrift brachte man die Sache auf den erdigen Punkt: ‚Drückeberger statt Kartoffeldrücker’ hieß es. Beklagt wurde die Blässe des Remakes sowie vor allem, die Fehlbesetzung der Hauptrolle. Der alte Harmstorf mit seinem Comic-haften Machismo sei der Figur letztlich näher gekommen. Durch Kochs nuancierteres Spiel würde dieser Larsen zu einem zynischen Grübler, dessen Vitalität sich in ein paar unglaubwürdigen Prügeleien erschöpfe.
Anschließend war zur Diskussion aufgerufen: Ihre Meinung ist gefragt!
Es handelte sich, wie gesagt, um eine Vorab-Kritik, der erste Teil sollte ja erst am gleichen Abend gesendet werden. Insofern konnten die Leser sich nicht zum Zweiteiler selbst äußern, sondern nur zu der Kritik. Da sich Menschen selten durch Unkenntnis davon abhalten lassen, eine Meinung zu haben, gab es bald etliche Beiträge, die man überwiegend bündeln und ins selbe Fach stecken konnte: Ja, an Harmstorf kommt keiner ran, nein, Sebastian Koch kann nicht halb so kartoffelig sein.
Ich konsumierte am Abend, neugierig geworden, den ersten Teil des neuen Seewolfs, ging mit gesträubten Haaren zu Bett und las am nächsten Tag noch neugieriger, was für Beiträge denn nun im Spiegel-Blog stehen würden.
Zu meiner Überraschung hatte sich kaum etwas geändert. Es ging mehr oder weniger immer noch um den Männlichkeits-Vergleich zwischen Koch und Harmstorf. Wem zauselte der Bart wilder?
Mit keiner Silbe wurde erwähnt, was mich schockiert hatte: die Gewaltszenen im neuen Seewolf.
Zum einen das Abschießen und Schlachten der Robben; doch das lässt sich relativieren. Die quiekenden, blutenden, sich bäumenden Tiere waren sicher überwiegend computeranimiert (welche Produktion würde es riskieren, sich mit Tierschützern anzulegen!) und außerdem mag es sinnvoll sein, zu zeigen, wie grausam das aussieht und wie überflüssig es ist, untermauert durch eine Bemerkung des Kapitäns, dies geschehe, um die Eitelkeit der Frauen zu befriedigen.
Vor allem und viel mehr jedoch erschreckte mich das, was der SPIEGEL-Kritiker ‚ein paar unglaubwürdige Prügeleien’ nannte.
Vor fast vierzig Jahren hat sich auch Raimund Harmstorf ja durchaus nicht nur am Erdapfel ausgetobt, sondern bei Bedarf etwa Mr. Johnson oder den Smutje zusammen gedroschen. Nur hatte das damals eine ganz andere Qualität.
Den neue Zweiteiler gibt es bereits als Blue-ray oder DVD und er wird als ‚zeitgemäße Inszenierung’ angepriesen.
Genau das ist es. Eine zeitgemäße Inszenierung.
Mag Sebastian Koch noch so intellektuell-sensibel wirken, er schlägt seine Gegner sadistisch, kaltschnäuzig, unendlich brutal zusammen. Da ist noch lange nicht Schluss, wenn der Verlierer blutend und laut stöhnend am Boden liegt, der Seewolf tritt ihm, völlig zeitgemäß, immer wieder mit aller Kraft ins Gesicht oder in den Leib. So macht man das nämlich derzeit. Das gehört, bei fast jedem Krimi, immer da, wo Prügeleien inszeniert werden, obligatorisch dazu. Findet das abschließende Getrete auf ein am Boden liegendes Opfer nicht statt, dann ist das Machwerk älter.
Vielleicht sind die Zuschauer anfangs noch zusammengezuckt. Inzwischen dürften sie sich daran gewöhnt haben. Deshalb wird die gezeigte Brutalität natürlich kontinuierlich ärger, man will ja dem Publikum was bieten. Wenn im Film gefoltert wird, beispielsweise im -zeitgemäßen -‚James Bond’, in der Serie ‚24’ oder in ‚Kill Bill’, fliegen die Backenzähne, werden Augen eingedrückt oder Finger abgesäbelt.
Lustig eigentlich, dass wir uns darüber wundern, weshalb unsere knospende Jugend auf Bahnsteigen hin und wieder Mitbürger nicht nur vermöbelt, sondern die blutend und ohnmächtig Daliegenden auch noch kräftig zusammentritt. So macht man das nun mal.
Und deshalb ist es letztendlich durchaus begreiflich, warum sich sowohl der Spiegel-Kritiker als auch die Diskutierenden im Blog nicht an diesen Selbstverständlichkeiten stießen, sondern sich nur darüber aufregten, wie man ihre Gebührengelder verschleudert, indem man den sowieso nie zu übertrumpfenden Seewolf Harmstorf durch den Seewolf Koch zu übertrumpfen versucht.
Ihre Dagmar Seifert
(Dagmar Seifert ist stellvetrende Chefredakteurin von Kultur-Port.De, Autorin zahlreicher Romane, Drehbücher, Rundfunk-Features und Theaterstücke.)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment