Meinung

Wenn wir einmal von dem Auflagengiganten Bastian Sick absehen, sind wohl keine Sprachkritiker berühmter als Karl Kraus und Arthur Schopenhauer.

Die Sprachkritik von Karl Kraus (1874-1936) ist immer noch etwas mehr, nämlich Kritik am Journalismus. Zwar hat er in der nicht nur von ihm herausgegebenen, sondern auch von ihm beinahe allein zusammengeschriebenen „Fackel“ sich mit nur ganz wenigen Zeitungen auseinandersetzt, die aber für den Journalismus insgesamt stehen sollten.

Seine messerscharfe Kritik wird von vielen seiner Bewunderer bis heute als gültig angesehen und mit gewissen Abwandlungen auf den Berufsstand insgesamt bezogen. Und Kraus‘ Glossen und Sottisen galten ja wirklich dem Zeitungsdeutsch seiner Lebenszeit, keinesfalls allein demjenigen Wiens oder Österreichs. Zusätzlich ist es bei der Lektüre von Kraus niemals falsch, seine Polemiken als Angriffe auf eine Person zu verstehen: Die „Schmöcke“, fand er, „sprechen so corrupt, wie sie denken“. Die in den Siebzigern von einem in studentischen Kreisen sehr beliebten Versand herausgegebene Gesamtausgabe der „Fackel“ – das waren zwölf voluminöse Bände in feuerrotem Leinen! – verkaufte sich trotz der Ferne der Wiener Verhältnisse zu diesem Jahrzehnt ziemlich gut. Einige Jahre lang war Kraus geradezu Mode.

Anders als Klemperer war Kraus nie verfolgt, sondern er hatte während seines ganzen Lebens großen Erfolg beim Publikum und war dazu ohnehin finanziell unabhängig. Da fiel es ihm natürlich leicht, Moralapostel zu sein. Er war mit der halben Welt verfeindet (mindestens!), hielt die Psychoanalyse für Blödsinn, sich selbst aber für ein Genie und benahm sich entsprechend. Im Vergleich zu ihm war Schopenhauer, dessen Sprachkritik er fortzuführen versuchte, ein Gemütsmensch. In unserem Zusammenhang ist Kraus wichtig, weil er wie der große Philosoph im Journalisten seinen Feind sah. Beileibe nicht seinen einzigen, aber doch wohl den Lieblingsfeind. Dabei ging es ihm zunächst um die Korruptheit, die er den Wiener Zeitungen eins ums andere Mal nachweisen konnte. „Corrupt“ will dabei in zweierlei Sinn verstanden werden: Die „Schmöcke“ hielten die Hand auf, und sie konnten außerdem nicht richtig denken. Über jeden Sprachschnitzer, er mochte so klein wie auch immer sein, regte sich Karl Kraus auf.

 

Zusätzlich ging es ihm um die Doppelmoral des Spießers, die besonders in der Verurteilung der Prostitution zu Tage trat, endlich um die journalistische Phrase, die er in seinen sarkastischen Glossen und messerscharfen Aphorismen unerbittlich bekämpfte. „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können - das macht den Journalisten.“ Als er schrieb, jeder Ladenschwengel beherrsche die Sprache, aber es komme darauf an, dass die Sprache uns regiere, formulierte er in aller Kürze die Tendenz seiner Äußerungen: „Er beherrscht die deutsche Sprache – das gilt vom Kommis. Der Künstler ist ein Diener am Wort.“ Hier bietet sich der Übergang zur Sprachkritik Schopenhauers an, denn der große Philosoph hat (von Kraus zustimmend zitiert) ganz ähnlich über die Sprachbeherrschung geschrieben: „Jeder Lumpenhund ist Herr über die Sprache, z. B. jeder der Schreibstube oder dem Ladentisch entlaufene und in den Dienst eines Zeitungsschreibers übergegangene Bursche. Am tollsten treiben es die Zeitungen, zumal die süddeutschen, so daß man bisweilen zu glauben anfängt, sie persiflierten und parodierten die grassierende Sprachverbesserung. Allein sie meinen’s ehrlich.“

 

Wer Arthur Schopenhauers „Über Schriftstellerei und Stil“ aus seinen „Parerga und Paralipomena“ liest (einem zweibändigen Werk, das einige kleinere, bis dahin unveröffentlichte Arbeiten zusammenfasst), der stößt auf einen Fanatiker der Sprache, der getreu seinem Motto „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes.“ ganz ungeniert von der Sprache auf Verstand und Moral eines Menschen schließt. Zunächst aber geht es ihm, der doch vor allem Philosoph war, um die „formelle Beschaffenheit aller Gedanken eines Menschen“, also um die Fähigkeit eines Autors, klar, sauber und übersichtlich zu argumentieren. Der Hauptpunkt für Schopenhauer sollte auch für uns eine blanke Selbstverständlichkeit sein: dass nämlich der Autor „wirklich etwas zu sagen habe, wann er spricht“.

 

Schopenhauer Buchcover Portrait

Arthur Schopenhauer: Buchumschlag (Insel Bücherei), Portrait, 1859. Foto: J.- Schäfer, Gemeinfrei

 

Nur in einer toten Sprache, schrieb Ortega y Gasset einmal, seien Fehler grundsätzlich verboten – eine lebendige Sprache verändere sich, und das, was einmal falsch war, sei dann eben richtig. Oder es werde richtig. Wahrscheinlich stimmt das, aber ist es nicht trotzdem fragwürdig, bei sämtlichen Fehlern nur die Schulter zu zucken und zu sagen, es handle sich um Sprachwandel? Man sollte bedenken, dass Veränderungen, die früher Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte in Anspruch nahmen, sich heute in wenigen Wochen vollziehen – dank des Fernsehens, des Internets und anderer Multiplikatoren.

 

Bevor es das alles gab, beschrieb Schopenhauer den Vorgang, der im Charakter der „Sprachsudler“ gründet: Auf Widerstand – diese Bemerkung findet sich in seinem handschriftlichen Nachlass – stoße die „Sprachschändung“ nie, „sondern Jeder, in schaafischem Nachahmungstrieb und urtheilsloser Bewunderung des Absurden, beeifert sich ein Mitarbeiter an derselben zu seyn. Kaum bin ich über eine neue grammatische oder orthographische Eselei erschrocken, so sehe ich auch schon Andere Schreiber sie eifrig adoptiren und nachschreiben: denn jeder dieser Esel ist dem andern eine Autorität.“ Als Beispiel aus unseren Tagen könnte man das inflationäre Gendern nehmen, das einem musikalischen Menschen die Ohren klingeln lässt, aber ebenso gut scheint ein anderes Beispiel, eine über viele, viele Jahre anstandslos korrekt gebrauchte Vokabel wie „Expertise“. Dieses Wort bedeutet keinesfalls Qualifikation, Sachkenntnis oder dergleichen, wofür es seit neuestem genommen wird, sondern „mündliches oder schriftliches Gutachten“ und findet sich genau mit dieser Bedeutung in sämtlichen Fremdwortlexika – sogar immer noch online, obwohl diese sich doch so schnell anzupassen wissen. Warum also wird es heute massenhaft falsch gebraucht? Muss man wirklich jeden Käse mitmachen?

 

Insbesondere die Linguisten gehen mir in ihrer Toleranz viel zu weit. Sie zucken die Schulter und finden alles Neue völlig in Ordnung. Ja, das sei alles Sprachwandel, vor tausend Jahren habe man anders gesprochen, Sprache sei nichts Statisches und verändere sich auch weiterhin. Was hätte Schopenhauer zu all dem gesagt? Typisch für ihn ist eine radikale Ablehnung aller Sprachveränderung. Er wollte, dass alles so blieb, wie es war, und hätte es gewiss nicht bei einem stillen Stirnrunzeln belassen, sondern furchtbar und wortgewaltig geschimpft. „Bekanntlich sind die Sprachen“, schreibt er in Paragraph 298a der „Paralipomena“, „desto vollkommener, je älter sie sind, und werden stufenweise immer schlechter“. Nicht alle Sprachkritiker denken so. Wilhelm von Humboldt, vielleicht der erste wirklich große Philosoph der Sprache, hätte ihm am Anfang seiner Arbeit zugestimmt, denn er war ein großer Freund der Flexion, aber später stand er den abgeschliffenen Sprachen wie dem Englischen freundlicher gegenüber.

 

Gegen den Wandel der Sprache ist wirklich nichts zu sagen, und dass das Dativ-e zusammen mit dem Genitiv verschwunden ist – dagegen ist eben nichts zu machen. (Schade finde ich es trotzdem…) Man mag sich die skandinavischen Sprachen oder das Englische anschauen, um zu sehen, wohin auch das Deutsche treibt. Aber deshalb ist es trotzdem eine Torheit, statt Fachkenntnis oder Ahnung „Expertise“ zu sagen.

 

Es steht außer Zweifel, dass Schopenhauer besser, sogar viel besser schreiben konnte als die übergroße Mehrzahl nicht allein seiner philosophischen Kollegen – temperamentvoll, farbig und anschaulich in übersichtlich gegliederten Perioden. Und oft emotional, wenn er gegen seine zahlreichen, nein seine zahllosen Feinde wütet oder das Leiden von Tier und Mensch schildert. So ist die Lektüre seiner Bücher selbst dort ein schieres Vergnügen, wo man seine Argumentation falsch findet. Noch heute kann und sollte uns seine Prosa als Vorbild dienen, auch wenn sie manchmal die Schwierigkeiten eines Themas dank seiner rhetorischen Künste überspielt. Eben weil Schopenhauer ein solcher Meister der Sprache war, eine solche rhetorische Urgewalt, gerade deshalb ist seine Argumentation nicht selten simplifizierend und damit unzureichend. Es gibt, obwohl der Meister das mit nichts zugegeben hätte, gute Gründe dafür, dass solche Giganten wie Kant, Hegel oder Husserl sich gelegentlich undeutlich oder sogar unverständlich ausdrückten – es war eine Folge der unerhörten Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten.

 

Schopenhauer liebt die Kürze, aber sie darf natürlich niemals auf Kosten der Deutlichkeit gehen: „Den Ausdruck eines Gedankens schwächer oder gar den Sinn einer Periode verdunkeln oder verkümmern, um einige Worte weniger hinzusetzen, ist beklagenswerter Unverstand.“ Schon in der Einleitung zu seinen handschriftlichen Notizen für das sprachkritische Kapitel nennt er die Verkürzung der Sprache als den ihm wichtigsten Punkt: „sie wollen die deutsche Sprache zusammenziehn, sie abkürzen, sie kompakter, konciser machen.“ Ich weiß nicht, ob dieser Wunsch tatsächlich das Motiv für die von Schopenhauer bemängelten Marotten gewesen sind – allenfalls bei Überschriften in Zeitungen kann ich mir dergleichen vorstellen. Aber dass man nicht zu kurz formulieren darf, dass Konjunktionen nicht der Kürze wegen weggelassen werden dürfen, wie es in der Presse immer wieder geschieht, das steht völlig außer Frage.

 

Schopenhauer wütet auch gegen „das Ausmerzen aller doppelten Vokalen“ – das können wir weglassen – und gegen die Zurückdrängung von Perfekt und Plusquamperfekt. Wir denken heute anders (in diesem Punkt wie in anderen), denn die Frage, ob die Vokale kurz oder lang ausgesprochen werden wollen, wird in den verschiedenen Teilen Deutschlands eben verschieden beantwortet, und das Plusquamperfekt erlebte in den letzten zwanzig Jahren eine merkwürdige Blüte, die bei Schopenhauer großes Stirnrunzeln hervorgerufen hätte. Überhaupt ist ihm im Detail keineswegs immer zuzustimmen, denn viele seiner Kritikpunkte sind sehr subjektiv; und über viele ist die Zeit hinweggegangen.

 

Aber mit einem hatte Schopenhauer recht: Das Wichtigste ist immer die Klarheit des Gedankens – alles andere kommt später. Ein Verb für zwei Subjekte – vielleicht gar eines im Singular, das andere im Plural –, das findet sich in aller Schärfe kritisiert. Man muss, so lautet seine Lehre, immer so ausführlich sein, dass ein Gedanke scharf und deutlich hervortritt. Und das ist ein sehr guter Grundsatz: „Eine Sprache soll den Gedanken ausdrücken; nicht uns überlassen, ihn zu rathen.“ Was hätte er zu der lästigen Angewohnheit gesagt, irgendein Faktum anzusprechen und diesem ein lakonisches „von daher …“ folgen zu lassen? Er hätte es unverschämt gefunden und natürlich recht gehabt.

 

Sprachverhunzung COVERDie Überschrift seiner im handschriftlichen Nachlass aufgefundenen Notizen – „Ueber die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der deutschen Sprache“ – habe ich von Schopenhauer übernommen, denn seine Vorstudien zu dem sprachkritischen Kapitel in den „Parerga und Paralipomena“ sind eben damit überschrieben. In dem veröffentlichten Buch heißt es dann nur noch „Über Schriftstellerei und Stil“. Schon in diesem Kapitel ist er ja auch nicht gerade eine schnurrende Katze, aber in seinen Notizen ist er so sackgrob, dass es selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich ist.

 

Schopenhauers Zorn gilt bekanntlich „den unverschämtesten aller Sterblichen“, also den Universitätsphilosophen, „hundert elende nicht nennenswerte Strohköpfe“; aber ebenso unsympathisch sind ihm „diese unwissenden Tintenkleckser“ der Tagespresse, diese „Alltagsköpfe“. Nein, ein Freund der Journalisten war er so wenig wie ein Bewunderer der Professorenschaft. Die Zeitungen, schreibt er plastisch, seien „der Sekundenzeiger der Geschichte. Derselbe aber ist meistens nicht nur von unedlerem Metalle als die beiden anderen, sondern geht auch selten richtig.“ Auch wir finden heute eine Fülle von Fehlern und Irrtümern in den Zeitungen oder überhaupt in den sogenannten „Medien“, und der journalistische Sprachmissbrauch wird im Mittelpunkt unserer nicht immer gutgelaunten Anmerkungen stehen.

 

Ich ziehe es vor, von der Presse zu sprechen, auch wenn es um Funk und Fernsehen geht. Denn was soll ein Medium sein? Ist das einfach nur ein Mittleres, das man sich zwischen dem bloßen unverfälschten Faktum auf der linken und dem interessierten Zeitgenossen auf der rechten Seite vorstellen soll? Nein, diese Art von Medien gibt es nicht. Der Journalist ist kein „Transportarbeiter“, als den ihn Elisabeth Noelle-Neumann einmal apostrophierte, und er ist keinesfalls jemand, „der die verschiedenen Meinungen der Politiker neutral“ wiedergibt. Medien und ihre Angestellten – die „Medienschaffenden“ – sind Akteure, sei es im lokalen Bereich, sei es in der großen Politik, und überall sonst natürlich auch. Solange Fernsehanstalten und die ihnen angeschlossenen Blätter ungeheure Summen dafür ausgeben, grauenhafte Schlagerevents oder die Spiele einer sogenannten „Knallerliga“ zu übertragen oder ihrer Sonntagsausgabe bunt illustrierte Reiseteile hinzuzufügen, die Werbung für ihre eigenen Reisebüros machen, sind sie selbst am finanziellen Erfolg interessierte Veranstalter und damit alles Mögliche, aber keine zur Neutralität verpflichteten, keine der Neutralität verpflichteten Berichterstatter. Und was für den Fußball, den deutschen Schlager und den Urlaub am Mittelmeer gilt, gilt natürlich erst recht für die Politik und überhaupt für alle anderen Bereiche noch: Irgendwie stecken sie immer mit drin. Und irgendwie verfolgen sie immer ihre eigenen Interessen. Vielleicht tun das nicht alle, aber doch immer noch genug.

 

Aber das zuzugeben, würde bedeuten, sich zu seiner Verantwortung zu bekennen, und wohl nichts tut der Journalist weniger gern. Man kann das an einer seiner bevorzugten, fast immer und fast überall völlig sinnlosen Vokabel sehen, an dem Wort „vermeintlich“. Das ist das Wort mit dem er sich absichern möchte; wenn er ein „vermeintlich“ davor schaltet, denkt er, kann er ungestraft die dollsten Sachen raushauen.

 

Vokabeln wie „angeblich“ oder „vermeintlich“ beziehen sich immer auf eine Einsicht, die eine Korrektur eines Irrtums darstellt, und man darf sie deshalb nur mit dem Präteritum benutzen, niemals mit dem Präsens. Selenskyi, lese ich am 5. September, feiere „angebliche Geländegewinne“. Ganz gewiss nicht! Er wäre ein Idiot, wenn er das täte. Ein richtiges Beispiel bietet dagegen mein „Universalwörterbuch“: „Der vermeintliche Verbrecher entpuppte sich als harmloser Tourist.“

 

Niemand wird, wie es immer wieder in der Zeitung heißt, eines „vermeintlichen“ Verbrechens beschuldigt, sondern erst später wird das Gericht feststellen, dass gar kein Verbrechen vorlag oder der Betreffende unschuldig war. Trotzdem war er natürlich ein Angeklagter, nicht etwa ein „vermeintlicher“ Angeklagter. Warum also „Medienschaffende“ dieses Wort so gern gebrauchen? Damit man sie später nicht festnageln kann! Schon bei und mit der Auswahl ihres Vokabulars lehnen sie jede Verantwortung ab.


Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

 

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Teil 3 folgt am 21. Oktober 2022

 

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