Kant befand sich in einem philosophiehistorisch vermittelten Dreifachdilemma.
Das erste Dilemma ist das einer Ontologie, die aus reinen Begriffen Probleme zu lösen sich anschickte, die aus reinen Begriffen, so Kant, unlösbar sind. Bestenfalls liefert diese – metaphysische – Ontologie Begriffserläuterungen, indem sie, je nach vorweg eingenommenem Standpunkt, verkündet, was sie sich beispielsweise unter dem Begriff der Unendlichkeit, Gottes etc. zu denken vorgenommen hat. Und liefert nichts weiter als Leerformeln, indem von Gott unter anderem seine Allweisheit, Allgüte, Allgegenwart etc. prädiziert wird. Derart zugespitzte Abstraktionen – das steckt bereits in dem Präfix All drin – sagen, ihrer Unbedingtheit wegen, schlechterdings nichts Bestimmtes aus. Wer das Unbedingte oder Absolute prädiziert, prädiziert nichts. Ein Alles ist so wenig wie ein Nichts.
„Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, dass, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Object) abstrahirt, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und dass also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Raymund Schmidt (Hrsg.), Hamburg 1971, A 58f, B83) Unterstehe man sich, dieser eingesehenen Unmöglichkeit zum Trotz, dennoch, das Unmögliche in die Tat umzusetzen, dann gebe man den „belachenswerthen Anblick (…), dass einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andere ein Sieb unterhält“. (Ebd., A58, B82 f.) Besonders aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch folgende Passage: „Denn alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als nothwendig anzusehen, vermittelst des Worts: Unbedingt, wegwerfen, macht mir noch lange nicht verständlich, ob ich alsdann durch einen Begriff eines Unbedingtnothwendigen noch etwas oder vielleicht gar nichts denke.“ (Ebd., A593, B621)
Das zweite Dilemma war für Kant selbst zunächst keines. Denn es war der Empirist David Hume, der ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ (Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Karl Vorländer (Hrsg.), Hamburg 1969, S. 260, nach der Paginierung der Akademieausgabe) – damit ist das erste Dilemma gemeint – geweckt hat. Hume hatte den Schwerpunkt seiner Argumentation daraufgelegt, dass sämtliche Begriffe der Wissenschaft – mit Ausnahme der Logik und der Mathematik – aus „der Erfahrung abgeleitet“ (Ebd.), folglich von lediglich empirischer Gültigkeit sind. Das aber bedeutet, dass stets bloß bedingterweise geurteilt werden kann, dass etwas sich so oder so verhält. Die nächste empirisch fundierte Wahrnehmung belehrt einen eventuell eines Besseren. So dass wissenschaftliches Urteilen, als empirisch rückgekoppeltes, stets bloß vorbehaltlichen Charakter hat. Folglich wäre es ein kardinaler Fehler, eine lediglich subjektiv-empirisch „entspringende subjektive Notwendigkeit, d.i. Gewohnheit, für eine objektive aus Einsicht“ (Ebd., S. 258) auszugeben.
Titelblatt von Immanuel Kants „Critik der reinen Vernunft", Riga 1781 und Titelblatt von Immanuel Kants „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", Riga 1783.
Daraus resultiert das dritte Dilemma. Wenn weder aus reinen Begriffen (der das – eine klassische contradictio in adjecto – unbestimmt Unbedingte bestimmen wollenden Ontologie) noch auf der Grundlage empirischer, also stets bloß vorbehaltlich gültiger, Wahrnehmungen wissenschaftliche Urteilsbildung im Sinne der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zu leisten sind, dann bleibt womöglich nur der Bereich der formalen Logik übrig, in der, und das ist die nächste Crux, lediglich auf dem Satz des Widerspruchs beruhende Erläuterungs- und keine Erweiterungsurteile gefällt werden können. Und das sind keine wissenschaftlichen Urteile. Weil sie keinen Erkenntnisgewinn zur Folge haben. Sondern stets bloß im Prädikat, das über das Subjekt aussagen, was in diesem per se enthalten ist. Es handelt sich also um identische Aussagen oder um Tautologien.
„Alle analytischen Urteile beruhen gänzlich auf dem Satze des Widerspruchs und sind ihrer Natur nach Erkenntnisse a priori (…). Denn weil das Prädikat eines bejahenden analytischen Urteils schon vorher im Begriffe des Subjekts gedacht wird, so kann es von ihm ohne Widerspruch nicht verneint werden (…).“ (Ebd., §2b) Kant ist im übrigen ein begrifflicher Missgriff an dieser Stelle unterlaufen. Denn im Zusammenhang von tatsächlich stets tautologischen Erläuterungs-Urteilen von Erkenntnissen zu sprechen, widerspricht seiner Grundvoraussetzung, dass lediglich synthetische Erweiterungsurteile den Ehrentitel der Erkenntnis im Schilde führen können.
Hier nun setzt Kants Gegeninitiative an. Wenn Wissenschaft auf genau diesen Erkenntniszugewinn angewiesen ist, dann bedarf sie einer Instanz, die ihr das zu Erkennende zuführt: die reinen Formen der Anschauung. Empirisch dürfen diese Formen nicht sein, da sie sonst dem Humeschen Generalvorbehalt ausgesetzt wären. Kant will sagen, jede sinnlich unterlegte Anschauung setzt immer schon die reine Form des Raumes oder Zeit voraus. Lediglich unter Voraussetzung dieser beiden Formen kann sinnlich basierte Wahrnehmung in ein wissenschaftlich vollgültiges Erfahrungsurteil überführt werden. Und zwar dadurch, dass die sinnlichen Formen der Anschauung, die das zu synthetisierende Material bereitstellen, unter das diskursive Verstandesvermögen subsumiert werden.
Was im Einzelnen man empirisch wahrnimmt, ist, seiner Unendlichkeit halber, nicht ausschöpfbar. Egal aber, was man wahrnimmt, man nimmt Dinge, Vorkommnisse etc. stets nebeneinander im Raum und nacheinander in der Zeit wahr. Wobei allerdings hinzuzufügen ist, dass die Zeit einen höheren Grad der Allgemeinheit besitzt. Schlechterdings alles, was dem Menschen in seinem Kontakt zur empirisch gegebenen Welt begegnen kann, spielt sich in der Zeit ab. Für den Raum stimmt das so nicht, weil beispielsweise seelische Vorgänge keine Raumdimension besitzen, bzw. nicht im Raum angeschaut werden können.
Genaugenommen ist Kants Lösung des Dreifachdilemmas verblüffend einfach. Wenn pure Empirie nicht für wissenschaftliche Urteilsbildungen genügt, wenn gleichfalls rein diskursives Denken mit bloßen Begriffen entweder zu unbelegbaren Unbedingtheitsaussagen oder zu formallogischen Tautologien führt, dann bleibt, wie es scheint, nur der eine Weg zu gehen übrig: Stellen wissenschaftliche Urteile einen Erkenntnisgewinn bereit, und ist das die conditio sine qua non des (natur-) wissenschaftlichen Urteilens, was weder die Ontologie noch die Logik und lediglich sehr bedingt der Empirismus zustande bringen, dann bedarf es einer Instanz, die, zwar selbst nicht empirischen Ursprungs ist – aus der empirischen Wahrnehmung abstrahiert –, gleichwohl jede Art empirischer Wahrnehmung überhaupt erst ermöglicht: das Apriori der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit.
Unter Berücksichtigung der diskursiven Funktionen des urteilenden Verstandes liest sich das in summa wie folgt: „Wie stimmt aber dieser Satz, daß Erfahrungsurteile Notwendigkeit in der Synthesis der Wahrnehmungen enthalten sollen, mit meinem oben vielfältig eingeschärften Satze: daß Erfahrung als Erkenntnis a posteriori bloß zufällige Urteile geben könne? Wenn ich sage: Erfahrung lehrt mir (sic!) etwas, so meine ich jederzeit nur die Wahrnehmung, die in ihr liegt. (…).“ (Ebd., §23) Aus dieser jederzeit subjektiv restringierten Wahrnehmung wird eine wissenschaftlich haltbare Erfahrung nur dadurch, dass, vor dem Hintergrund der reinen Raum- und Zeitanschauung, der diskursive Verstand das in diesen Anschauungsformen Dargebotene synthetisiert. Diese doppelte Vermittlungsleistung „lerne ich nicht durch Erfahrung, sondern umgekehrt, Erfahrung wird allererst durch diesen Zusatz des Verstandesbegriffs (…) zur Wahrnehmung erzeugt.“ (Ebd.)
Es existiert allerdings ein Restproblem. Kant wird den Subjektbezug bei den reinen Anschauungsformen (und den Verstandesbegriffen) nicht nur nicht los, sondern, gerade umgekehrt, nur der Subjektbezug der reinen Anschauungsformen (und der Verstandesbegriffe) soll überhaupt die wissenschaftlichen – synthetischen – Erweiterungsurteile ermöglichen. Bestünde er nicht, so Kants Überlegung, dann hätte das erkennen wollende Subjekt schlechterdings nichts, das es synthetisieren könnte. Dann wäre es dazu verdammt, lediglich analytische Urteile ohne jeden Erkenntniszugewinn formulieren zu können. Das aber heißt, dass das fundiert urteilende Subjekt, aller empirischen Unterfütterung zum Trotz, sozusagen in seiner eigenen Wahrnehmungswelt, die sich im Raum und der Zeit abspielt und verortet ist, gefangen ist. „Ich sehe also den Begriff der Ursache als einen zur bloßen Form der Erfahrung notwendig gehörigen Begriff und dessen Möglichkeit, als einer synthetischen Vereinigung der Wahrnehmungen in einem Bewußtsein überhaupt, sehr wohl ein; die Möglichkeit eines Dinges überhaupt als einer Ursache sehe ich gar nicht ein, und zwar darum, weil der Begriff der Ursache ganz und gar keine den Dingen, sondern nur der Erfahrung anhängende Bedingung andeutet, nämlich, daß diese nur eine objektiv-gültige Erkenntnis von Erscheinungen und ihrer Zeitfolge sein könne (…).“ (Ebd. §29)
Immanuel Kant, 1791 (Gemälde von Gottlieb Doebler. Zweite Ausführung für Johann Gottfried Kiesewetter, 1795). Ostpreußisches Landesmuseum mit Deutschbaltischer Abteilung, Lüneburg
Anders: Gerade dadurch, dass der Anspruch besteht – der ja auch in den Naturwissenschaften und der reinen Mathematik eingelöst wird – synthetisch a priori zu urteilen oder in der Mathematik zu konstruieren, ist der oben entwickelte Subjektbezug in Gestalt der reinen Anschauungsformen die unabdingbare Voraussetzung. Und das heißt, dass, aller angestrebten Objektivität und Allgemeingültigkeit zum Trotz, nach Kant der wissenschaftlich Urteilende nie über das subjektiv-Formale der Anschauungsformen und der Kategorien hinauskommt. Kants Antwort auf das Dreifachdilemma hat das finale Dilemma zur Folge: die Aporie, dass das Subjektiv-Formale trotzdem von objektiv-allgemeiner Relevanz sein soll.
Hinsichtlich der Zeitanschauung ist dieser Grundwiderspruch von Kant in der Kritik selbst auf engstem Raum formuliert worden: „Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung, (welche jederzeit sinnlich ist, d. i. sofern wir von Gegenständen affiziert werden,) und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichtsdestoweniger ist sie in Ansehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung vorkommen können, notwendigerweise objektiv. Wir können nicht sagen: alle Dinge sind in der Zeit, weil bei dem Begriffe der Dinge überhaupt von aller Art der Anschauung derselben abstrahiert wird, diese aber die eigentliche Bedingung ist, unter der die Zeit in die Vorstellung der Gegenstände gehört (Eigentlich muss es umgekehrt lauten: dass die Vorstellung der Gegenstände unter die reine Form der Anschauung der Zeit gehört, bzw. auf sie als notwendige Bedingung, ohne die sie gar nicht stattfinden kann, angewiesen ist, F.-P.H.). Wird nun die Bedingung zum Begriffe hinzugefügt, und es heißt: alle Dinge, als Erscheinungen (Gegenstände der sinnlichen Anschauung), sind in der Zeit, so hat der Grundsatz seine gute objektive Richtigkeit und Allgemeinheit a priori. (Kant, Kritik, ebd., A35, B51f.)
Was wie ein der Voraussetzung – das Subjektive unbedingt objektiv zu machen, oder ihm den Anstrich der Objektivität zu geben – geschuldeter Gewaltstreich oder eine petitio principii anmutet.
Das Fazit: Kant stand vor drei Schwierigkeiten: Bei dem Versuch, die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlichen Urteilens zu eruieren, musste er sich gegen drei Varianten zur Wehr setzen, die, jede auf ihre Weise, das gesetzte Ziel entweder nicht erreichten oder es ganz prinzipiell hintertrieben oder für unmöglich erklärten.
Die klassische Ontologie mit ihrem jede mögliche Erfahrung transzendierenden Anspruch darauf, das Unbedingte und Absolute einer wissenschaftlichen Erklärung zuzuführen, scheiterte an genau diesem nicht einzulösenden Anspruch auf Unbedingtheit. Indem sich dieser Ansatz in all seinen Spielarten über die Empirie hinwegsetzt, sind alle von ihm aufgestellten Behauptungen bestenfalls genau dieses: Behauptungen oder durch nichts zu fundierende Luftschlösser einer ‚rasenden Vernunft‘.
Die formale Logik, die ausnahmslos und bestenfalls widerspruchsfreie Sätze zu formulieren sich anschickt, vermag zwar, ihrem Regelwerk konforme gültige Erläuterungsurteile zu fällen, die sich aber gleichfalls, ihres rein formalen Charakters wegen, an ihrer supponierten Inhaltslosigkeit ‚verheben‘, bzw. als selbstreferentielle leerlaufen. Analytische Sätze können richtig, nie jedoch wahr sein. Da Wahrheit ohne einen Bezug auf empirisch verifizierbare Inhalte eine contradictio in adjecto ist.
Rein sinnlich basierte, also ausschließlich empirisch fundierte, Wahrnehmungsurteile sind allenthalben bloß vorbehaltlich wahr, genügen also auch nicht dem Anspruch auf objektive Notwendigkeit und Allgemeinheit; wie sie für wissenschaftliches Urteilen unverzichtbar ist. Der reine Empirismus eines Hume etwa impliziert einen universellen Skeptizismus, womit der Kehraus der Wissenschaft besiegelt wäre.
Kant löste das Dreifachdilemma, indem er die Formen der Anschauung, also den Raum und die Zeit, nicht aus der empirischen Wahrnehmung ableitet, sondern, umgekehrt, jede Wahrnehmung überhaupt nur dadurch möglich sein lässt, dass sie sich in den reinen Formen der Anschauung (Raum und Zeit) abspielt, bzw. ausschließlich durch sie ermöglicht wird. Durch diesen Apriori-Ansatz hat er sich die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit gesichert, und zwar als eine empirisch verifizierbare – das ist der notwendige Gegenstandsbezug jeglichen auf Erkenntniszugewinn abgestellten wissenschaftlichen Urteilens –, da vermittels dieser Anschauungsformen das empirisch Wahrgenommene sozusagen in eine notwendige Ordnung überführt oder strukturiert wird.
Das Dilemma, das er sich dadurch, von ihm selbst wohl nicht bemerkt, eingehandelt hat, besteht darin, dass diese Objektivität ermöglichen sollenden Formen der reinen Anschauung (und des diskursiven Verstandes) trotz allem stets subjektiven Ursprungs sind und ohne diesen subjektiven Ursprung auch nicht gedacht werden können. So dass das Fazit lautet, dass Objektivität und Allgemeingültigkeit bei Kant trotz allem ausnahmslos einen subjektiven Hintergrund haben, weil er der Meinung war, lediglich so die zwingend notwendige Objektivität und Allgemeingültigkeit vor den Ausweglosigkeiten der anderen drei Theoriebildungen retten zu können.
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