Heinrich Maiers, wenn man so will, Zweieinhalbteiler „Philosophie der Wirklichkeit“ ist ein sonderbares, zwiespältiges Buch von sage und schreibe ungefähr 2.000 Seiten Umfang.
Das hat offenbar auch Nicolai Hartmann so empfunden, wenn er in der 1938 in der „Phil-hist.-Klasse der Sonderausgabe der Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften“ erschienenen ausführlichen Besprechung dieses systematischen Hauptwerkes Maiers doch immerhin eine Kategorialanalyse mit ontologischem Hintergrund ausgemacht wissen wollte.
Denn Kategorien sind laut Hartmann nie etwas anderes als Prinzipien des realen oder idealen – beispielsweise der reinen Mathematik – Seins. Ob er mit dieser Einschätzung wirklich richtig lag, oder nicht eventuell doch das Original ein wenig zu sehr mit seinem ureigenen Arbeitsvorhaben zusammengezwungen hat, mag dahingestellt bleiben. Immerhin, und das ist die sich in dieser Rezension des kritischen Ontologen durchhaltende Reserve, ist ihm Maiers Systementwurf dann doch zu idealistisch geraten, oder soll man sagen: zu zirkulär?!
Was damit gemeint ist, davon sogleich. Zuvor jedoch, im Sinne einer Vorablegitimierung, weshalb ich diesen ‚Wälzer’ dennoch in diese Reihe aufgenommen habe, ein an Hartmann sich anschließendes Statement. Denn es stimmt, ein „ungeheures Material positiven Wissens ist in dieses Werk hineingearbeitet; alle Forschungsgebiete der Natur- und Geisteswissenschaften kommen hier zu Worte, nicht nur in ihrer letzten Phase, sondern ebensosehr auch in ihrer reichen Geschichte.“
Heinrich Maier? War da nicht etwas? Ja, da war etwas. Heinrich Maier ist der Verfasser des in dieser Serie bereits belobigten Buches Die Syllogistik des Aristoteles. Belobigt wurde es nicht zuletzt deswegen, weil es mit reichem historischen Hintergrundwissen aufwartet. So auch hier, beispielsweise gelegentlich der durchaus kritischen Diskussion der Einsteinschen Relativitätstheorie oder der historisch-systematischen Ableitung des, man höre und staune, Positivismus und Idealismus aus dem Nominalismus. Darauf wird, als auf zwei beliebig vermehrbare Beispiele, am Ende dieser Auseinandersetzung zurückzukommen sein. Vorher allerdings ist, zusammen mit Hartmann, ein, freilich zentraler, kritischer Einwand angebracht, der sich auf die erkenntnistheoretische Grundposition des Verfassers dieser verhinderten Ontologie bezieht. Denn verhindert ist sie allerdings, mehr vielleicht, als selbst Hartmann anzuerkennen bereit war. Und zwar aus folgendem Grund.
Es geht, einmal mehr, um das Verhältnis des Wahrheitsanspruchs von Urteilen zur, wie Maier es irreführender und irrtümlicher Weise nennt, Wirklichkeit. Denn gemeint ist vielmehr, generell, etwas empirisch Gegebenes, das selbstredend auch unter dem Gesichtspunkt der Modalbestimmung in Augenschein genommen werden kann, ohne von Hause aus mit ihr identisch zu sein. Die Wirklichkeit des empirisch Gegebenen besteht dann nämlich darin, dass es erst in dem Augenblick real ist, wenn sämtliche hierfür nötigen Bedingungen vorhanden sind. Dann kann ein x-beliebiger Gegenstand, ein x-beliebiges Vorkommnis nicht nur real sein, sondern es/er muss es auch sein, indem er/es wirklich ist. Mit anderen Worten, in Realzusammenhängen ist für den Zufall, d. i. ein ursachloses, aus jeglichem Zusammenhang herausgelöstes bloßes Zutreffen kein Platz. Dieses hier nur en passant. Ohnehin hat Hartmann im zweiten Teil seiner ontologischen Reihe mit dem Titel Möglichkeit und Wirklichkeit hinsichtlich der Modalproblematik des Seins ausführlich zu diesen Fragen Stellung genommen.
Zentral aber ist zusammen mit Hartmann das Folgende festzuhalten und dann allerdings noch zuzuspitzen. Was nämlich ist für Maier eigentlich die Wirklichkeit? „Und da zeigt sich: sie ist keineswegs eine absolute, ist nicht ‚Wirklichkeit an sich‘, sondern durchaus nur eine solche ‚für uns’, relativ auf menschliche Auffassungsformen. Oder auch: sie ist bloße ‚Erscheinungswirklichkeit‘. Das bedeutet zwar keineswegs, daß sie etwas bloß Subjektives wäre; denn in den Erkenntnisgegenständen steckt stets ein ‚transzendent Gegebenes’ (das Zeugnis der Sinne). Aber wir empfangen dieses Gegebene nie anders als in den Apprehensionsformen unseres Bewußtseins, und diese haften ihm in der Gegebenheit“, die eben laut Maier ausdrücklich kein „Bestehen“ ist, „an. Darum ist die Wirklichkeit, deren Formen die Kategorien sind, nur Erscheinungswirklichkeit. Der Standpunkt ist der eines ‚transzendentalen Phänomenalismus‘. Soweit reicht doch bei M. der Einschlag Kantischen Denkens. Er ist ein ausgesprochener Gegner alles Ansichseins. Er hält an der These Kants fest, daß das ‚Ding an sich‘ unerkannt ist und bleibt. Und insofern bleibt auch sein Erkenntnisbegriff ein idealistisch eingeschränkter.“
Weil es sich genauso verhält, ist es allerdings unstatthaft, von den „Gegebenheitselementen der Erfahrung“ zu behaupten, sie hätten nach Maier „echte Transzendenz“, denn genau das ist in Wahrheit sein Anliegen, die Transzendenz nur als ab ovo assimilierte gelten zu lassen. Hartmann hätte eben auf Grund der unten noch genauer zu analysierenden Formulierung stutzig werden müssen, dass die Objektivität der Kategorien ausgerechnet darin ihren Grund haben soll, dass sie von den „gegebenen Elementen gefordert sind“. Denn zum einen sind sie die ohnehin schon gegebenen und zum anderen sollen diese jene auch noch – voluntaristisch – fordern. Diese doppelte Absicherung ist verräterisch. Oder, um es kurz zu machen und hier bereits auf den Punkt zu bringen: der von Maier beschrittene mittlere Weg „sowohl zwischen Idealismus und Realismus als auch zwischen Positivismus und Rationalismus, Empirismus und Apriorismus (vgl. I, 83)“ ist trotzdem und schlussendlich ein idealistischer. Das sieht auch Hartmann so, um es gleich anschließend zu bestreiten, wenn er sich wie folgt äußert: „Es ist ein korrelativistisches Grundmotiv, auf dem alles basiert ist: es gibt eine Grundkorrelation zwischen Denken und Sein, zwischen Denkformen und Wirklichkeitsformen. Auf ihr beruht die objektive Gültigkeit der Kategorien. Fragt man aber weiter, wodurch sie denn verbürgt ist, so lautet die Antwort ebenso wie oben: durch die logische Notwendigkeit. Es sieht also fast so aus, als hätte sich der Gedanke im Kreise gedreht. Aber dem“, so wird jetzt irrtümlicherweise behauptet, „ist nicht so. Denn wir finden bei M. noch eine ganz andere – und auf das gegenwärtige Problemstadium sehr genau zutreffende – Antwort auf die obige Frage, was ‚logische Notwendigkeit‘ sei. Sie liegt in dem Satz der ‚Geltungsvoraussetzung’. Dieser Satz steht noch diesseits aller besonderen Kategorienlehren und lautet so: ‚Jede vollkommen logisch notwendige Denkfunktion ist durch Gegebenes gefordert‘“, was bis in die Formulierung hinein mit dem oben referierten Passus zusammenstimmt. Kurz, es gibt hier nichts gegeneinander auszuspielen.
Warum, so ist auf eine etwas anders orientierte Art zu fragen, sind Maier eigentlich die eingliedrigen einfachen Urteile so immens wichtig? Warum müssen sie unbedingt den zweigliedrigen Urteilen vorausgeschickt werden, also denen, die an eine Subjektvorstellung eine diese bestimmende Prädikatvorstellung anknüpfen? Das hat damit zu tun, dass Maier den Eintritt eines Bewusstseinsfremden in ein Bewusstsein, ohne jegliche Rücksichtnahme auf ein bewusstseinsfremd Bestehendes durchzuführen entschlossen ist. Das Bewusstseinsfremde hat von daher immer schon ein Gegebenes zu sein, also eines, das dem Bewusstsein vorbehaltlos angepasst ist, bzw. an das sich das logisch urteilende Denken anzupassen hat, weil es (?!) durch jenes gefordert ist. Das vorgeblich Fremde ist stets schon, seiner Bewusstseinstranszendenz zum Trotz, ein Gegebenes, das dann, sozusagen noch einmal, durch den Urteilsakt zum Eigentum des Bewusstseins gemacht wird, weil es ja ohnehin schon dieses, nämlich das logisch notwendige Urteil, fordert, wie es immer wieder heißt. „Das urteilende Denken ist nach seinem eigensten Wesen kategoriale Formung eines bewußtseinstranszendent Gegebenen“ (Erster Teil, S. 121; nachfolgend immer I oder II). Und diese Formung durch die eingliedrigen einfachen Urteile von der Art „es leuchtet“, „ein Baum“ oder „die Sonne“ etwa lässt erst gar nicht den Eindruck aufkommen, als könnten die anzugleichenden Sachverhalte überhaupt etwas anderes als die der jeweiligen Urteile sein. Anders gesagt: die Inhalte der Urteile sind mit denen ihrer Formen restlos identisch: „die Wirklichsetzung ist ausschließlich Sache des Denkens“ (I, 139).
Und nicht bloß das. Denn die sogenannte logische Notwendigkeit des Denkens soll, wie bereits angedeutet, in einem, wie unermüdlich betont und unzählige Male wiederholt wird, „‚Gefordertsein‘ des Urteils durch bewußtseinsfremd Gegebenes“ (I, 76 u. passim) bestehen. Die Objekte des Urteils sind wahr, wenn sie logisch notwendig, und sie sind logisch notwendig, wenn sie durch transzendent Gegebenes gefordert sind. Auf diese – voraussetzungsvolle, zirkuläre – Weise ist dasjenige als von vornherein geleistet unterstellt, was die Erkenntnisleistung eines Urteils ausmacht. Und das funktioniert eben nur deswegen so reibungslos, weil das vermeintlich Andere des Urteils eben dieses noch dazu „fordern“ soll. „Das Wirklichsein selbst aber tritt uns immer nur als ein Moment unserer Urteilsgegenstände entgegen. Daß ein Urteilsgegenstand überall das Wirklichsein eines Objektes ist, wird sich zeigen. ... Dabei aber bleibt es: als wirklich erscheinen uns die Objekte faktischer oder möglicher Urteile“ (I, 75). Es klingt nämlich nicht nur wie eine Floskel, sondern es ist auch eine, wenn Maier zunächst ein gewisses Entgegenkommen signalisiert, von dem aber ernstlich gar nicht die Rede sein kann: „Hiemit ist noch nicht gesagt, daß diese Beziehung zum Urteilen, zumal zu unserem Urteilen, der Wirklichkeit wesenhaft anhänge, noch nicht gesagt, daß es eine ‚Wirklichkeit an sich‘ nicht gebe. Aber der Ausgangspunkt für unsere philosophische Wirklichkeitsreflexion ist damit allerdings festgelegt. Hier nämlich tritt bereits unzweideutig an den Tag, daß sich für unser Erkennen die Wahrheit unbedingt der Wirklichkeit überordnet. Daß ein Urteilsobjekt wirklich sei, darüber kann uns nur das ans Urteil geknüpfte Wahrheitsbewußtsein Gewißheit geben. Und was die Wirklichkeit selbst ist, worin ihr Wesen besteht, kann uns nur die Besinnung auf das im Urteil mit vollem Wahrheitsbewußtsein gedachte Wirklichsein lehren“ (I, 75 f.).
Das Wirkliche wird ausschließlich sub specie des Urteils, als das Wirkliche des Urteils realisiert. Das muss, richtig verstanden, nicht falsch sein. Denn in der Tat besteht die Leistung der diversen Urteilsformen darin, der Identität von Sachverhalten oder Vorkommnissen mehr oder weniger adäquat auf die Spur zu kommen. Das aber ist nicht dasselbe wie die Unterstellung, dass die Objekte ausnahmslos wirklich oder, besser, real sind als solche des Urteils. Sie sind es im Übrigen auch nicht als solche der Wahrnehmung, der Anschauung, der Empfindung usw., sondern indem ich sie wahrnehme, nehme ich sie einerseits als etwas von mir Unterschiedenes wahr, und setze sie trotzdem als Unterschiedene auf eine je spezifische Art zu mir in eine wie auch immer rudimentär identifizierende Beziehung. Im wissenschaftlich urteilenden Denken schließlich, aber auch nur hier, weiß ich dann womöglich um ihre Identität.
Hinsichtlich der begrifflichen Abstraktion hat Maier selbst eine in diese Richtung weisende Ahnung, wenn er die auf Antisthenes datierende Behauptung, dass die Allgemeinbegriffe nichts weiter „als subjektive Abstraktionserzeugnisse des Denkens“ (I, 181) seien, nicht für überzeugend hält. Die Abstraktionen des Begriffs bedeuten eben nicht automatisch auch eine „Entfernung und Abkehr von der Wirklichkeit“. Denn ob „es nun freilich richtig ist, die Abstraktion überhaupt als Abkehr von der Wirklichkeit und als Umformung derselben zu betrachten, ist von vornherein fraglich“ (I, 180 f.). Versteht man nämlich die Abstraktion auf die Weise, dass das „gemeinsame Wesen der Einzelobjekte“ unter einen „Allgemeinbegriff“ gefasst wird, dann hat man der Gefahr vorgebeugt, diese „Herausarbeitung des Gleichartigen aus einer konkreten Mannigfaltigkeit“ bloß als eine „subjektive Veranstaltung unseres Denkens“ (I, 182) misszuverstehen. Und diesen „dingkategorialen Hintergrund der begrifflichen Notwendigkeiten hat die spätere Logik aus dem Auge verloren“ (I, 191). Nimmt man also „den Satz ‚der Körper (das Körperliche) ist ausgedehnt‘ so wie er dasteht, so wird jeder Unbefangene ihn dahin deuten, daß von dem begrifflichen Objekt ‚Körper‘ die Bestimmtheit ‚ausgedehnt seiend‘ ausgesagt werden soll: was ein Körper ist, hat realiter die Eigenschaft des Ausgedehntseins. Mit anderen Worten: wir haben hier ein normales Begriffsurteil vor uns, ein Urteil, dessen Gegenstand das Sein eines begrifflichen Bestimmtheitsobjekts an einem begrifflichen Substratobjekt ist“ (I, 194).
Allenfalls die Tatsache, dass das Moment des Begrifflichen so sehr herausgehoben und betont wird, lässt mutmaßen, dass auch hier im Hintergrund der doppelt abgesicherte Idealismus der logischen Urteilsnotwendigkeit oder dasjenige lauert, was von Maier allenthalben als das „Gefordertsein der Kategorial- oder Urteilsfunktionen durch empirisch-transzendent Gegebenes“ (I, 197) apostrophiert wird. Mit anderen Worten, der Halt geben sollende Empirismus, auf den noch Hartmann nachdrücklich hingewiesen hat, ist ein durchweg fingierter. Und wie soll es auch anders sein? Denn ein unverstandener Gegenstand kann nun einmal keine Korrekturinstanz für ihn als verstandenen sein, wie auch Maier behauptet: „Die kategorialen Begriffsurteile gründen sich zuletzt auf empirisch Gegebenes. Darum haben sie Anspruch auf Wirklichkeitsgeltung“ (I, 198; vgl. ebenso 270, 308 u. passim). Ein Ungedachtes, selbst wenn es lediglich ein transzendent Gegebenes ist, das Gedachte fordern zu lassen, ist und bleibt ein tollkühner Gedanke, sofern er nicht eine bloße Tautologie ist: „Die logische Urteilsnotwendigkeit ist und bleibt also das zentrale Wesensmoment der Wahrheit. Sie selbst aber ist: Gefordertsein des Urteils durch bewußtseinstranszendent Gegebenes. Und das Bewußtsein des Gefordertseins des Urteils durch transzendent Gegebenes enthält zugleich die Gewißheit, daß das Urteil die adäquate Auffassung des Gegebenen sei“ (I, 255; vgl. ebenso 260 u. passim).
Noch irreführender freilich ist, dass Maier die logische Notwendigkeit auf die sittliche meint zurückführen zu müssen. „Der Wahrheitswille, der logische Drang, der den Urteilenden auffordert, so zu urteilen, daß sein Urteil wahr ist, ist unstreitig ein sittliches Wollen, das in dem Urteilenwollen, wo immer es sich regt, eingeschlossen ist und uns das Wahrheitsuchen als eine sittliche Notwendigkeit erscheinen läßt“ (I, 234; vgl. ebenso 244, 276 u. passim). Mit derlei Formulierungen reiht sich Maier in die Phalanx der an Windelband orientierten Wertphilosophen des Badischen Neukantianismus ein, für die das deswegen auch zu (miß-) billigende Denken zu einer Charakterfrage und Pflichtübung verkam: Denken als zu bewertender Zwang.
Maiers Versuch, das Wirkliche für die logische Notwendigkeit des – wahren – Urteils zu retten, muss also als gründlich verfehlt angesehen werden. In seinen eigenen Worten: „ein Wirklichsein gibt es nur für ein mögliches wirklichsetzendes Denken“ (I, 336). Das ist Idealismus und nichts weiter, auch wenn Maier es als einen „transzendentalen Phänomenalismus“ verstanden haben möchte! Aber was liegt an Titeln und Titulierungen?!
Jedoch, genug der Kritik! Wenden wir uns dem durchaus in Hülle vorhandenen Erhellenden innerhalb dieses Werkes zu. Zuzustimmen ist dem Autor auf jeden Fall schon einmal darin, dass „es immer eine üble Sache“ ist, „in philosophischen Dingen mit Selbstverständlichkeiten, mit absoluter Evidenz und Aehnlichem zu operieren oder ein absolutes ‚Gelten an sich‘ festzustellen, bei dem wir uns eben zu beruhigen haben“ (I, 350). Und auch einer Argumentationsweise „moderner ‚Philosophen‘“ gilt seine berechtigte Kritik, „die durch Berufung auf ‚Erlebnisse‘ alles und jedes beweisen zu können glauben“ (I, 352). Immer wieder „entstehen neue Weltdichtungen, die, zumal wo sie sich in ästhetisch anmutendes Gewand zu kleiden wissen, eines starken Eindrucks immer sicher sein können. Die neuerdings emporgekommene ‚Intuition’ zumeist hat auch der ‚Dilettantenphilosophie’ ein neues Feld eröffnet. Demgegenüber spielt die auf wissenschaftliche Strenge bedachte, die ‚Schul‘-Philosophie – in diesen Namen klingt bereits wieder die ganze Geringschätzung hinein, welche die Hochgestimmten subalterner Beschränktheit zu widmen pflegen –, eine nicht eben beneidenswerte Rolle“ (II, 6).
In inhaltlicher Hinsicht ist von Belang, was Maier zu Einsteins Relativitätstheorie mitzuteilen hat. „Die Aufstellungen der Relativitätstheorie über den Raum wären unmöglich gewesen, wenn man sich nicht daran gewöhnt hätte, die Räumlichkeit in die einseitige Beleuchtung der Quantität zu rücken. Dieselbe Relativitätstheorie läßt übrigens auch erkennen, wie wenig die Mathematik sich um die kategoriale Eigenart der Zeitlichkeit gesorgt hat. Die ‚Raum-Zeit-Union‘, ob man sie nun im Sinn Minkowskis oder Einsteins faßt, ist ein sprechendes Zeugnis dafür, daß die anschauungskategoriale Natur der Zeitlichkeit wie der Räumlichkeit hinter dem quantitätskategorialen Gesichtspunkt völlig zurückgetreten ist“ (I, 444). Dieser Kritik sollte sich übrigens Nicolai Hartmann wenig später anschließen, wenngleich bei ihm, anders als bei Maier, von der Realzeit und dem Realraum im Unterschied von denjenigen der Anschauung die Rede war. Dieses Gebundensein an die Anschauung ist bei Maier letztlich eben der Formungsfunktion bereits des Vorstellens und Anschauens geschuldet, was, erinnert sei an die obigen Ausführungen, nicht unbedingt falsch sein muss, von Maier jedoch vermutlich auch hier falsch gemeint ist. Denn wie in Stein gemeißelt ist die Ansicht, „daß die Objektheit und das Wirklichsein überhaupt an ein objekt- und wirklichsetzendes Denken gebunden seien, daß es ohne ein objekt- und wirklichsetzendes Denken schlechterdings keine Objekte und kein Wirklichsein geben könne“ (II, 128; vgl. ebenso 241, 297, 308 u. passim).
Wie immer es sich hiermit auch verhalten mag, bedenkenswert bleibt der um Differenzierung bemühte Einwand, den Maier etwa wie folgt gegen die Relativitätstheorie vorzubringen weiß: „Nun mag in der Tat nicht bloß der zweckmäßigste, sondern der einzige Weg zu einer physikalischen Bestimmung der relativen Bewegungen die Zusammenfassung des Raums und der Zeit zu dem vierdimensionalen Kontinuum sein, da nur auf diese Weise die erforderliche Bezugnahme der Orts- und Zeitbestimmungen aufeinander vollständig hergestellt werden kann, und sie ist ja schon dadurch nahegelegt, daß im Begriff der Bewegung selbst Raum und Zeit aufeinander bezogen sind. Aber das ist eine lediglich rechnerische Synthese, die das Wesen des Raums und der Zeit nicht berührt: sie bleibt auch dann zu Recht bestehen, wenn man Raum und Zeit sachlich durchaus auseinanderhält. Auch die vollständige Relativierung der Bewegung zwingt uns keineswegs, dem Raum und der Zeit in ihrer besonderen Eigenart die Realität abzusprechen. Das Messen der Bewegungen, auf das für die physikalische Beschreibung das entscheidende Gewicht fällt, ist eine quantitätskategoriale Operation. Und die quantitativen Maßbestimmungen des Raums und der Zeit können aufeinander bezogen und ‚zusammengefaßt’ werden, ohne daß Raum und Zeit darum aufhören würden, besonders geartete Wirklichkeitsformen zu sein. Wenn die Physiker aus der speziellen Relativitätstheorie den entgegengesetzten Schluß ziehen, so beruht dies darauf, daß sie in jenen quantitativen Maßbestimmungen das Wesen des Raums und der Zeit erblicken. Fast scheint es, als stehe im Hintergrund dieses Gedankengangs bereits die denkökonomisch-positivistische Vorstellung, daß Raum und Zeit lediglich begriffliche Mittel, Hilfsbegriffe für die physikalische Bewegungsbeschreibung seien, die als solche ganz den Zwecken der letzteren anzupassen seien. Auf der anderen Seite wird allerdings deutlich genug für die Raum-Zeit-Union Realität in Anspruch genommen – dieselbe Realität, die der Physiker den Bewegungsvorgängen selbst zuzuschreiben pflegt; nur daß die Raumzeitlichkeit nunmehr ganz in diese hinein verlegt wird“ (II, 451).
Schließlich aber weist auch die folgende Überlegung in diejenige Richtung, die in Nicolai Hartmanns Philosophie der Natur ihre Fortsetzung gefunden hat: „Wenn man übrigens von verschiedenen möglichen Zeitarten spricht, so pflegt man den Unterschied in die größere oder geringere, in die gleichförmige oder ungleichförmige Geschwindigkeit des Zeitablaufs zu setzen. Allein Geschwindigkeit ist eine Eigenschaft nicht der Zeit, sondern der Vorgänge, also der Bewegungen und sonstigen Änderungen ..., und von einer größeren oder geringeren Geschwindigkeit des Zeitablaufs kann nach wie vor nicht die Rede sein“ (II, 472 f.).
Und nun noch – zum Ende – die versprochene historisch-systematisch-kritische Ableitung des Positivismus und Idealismus (!) aus dem Nominalismus: „Antisthenes, der große Widersacher Plato’s, ist auch der entschlossenste Gegner des platonischen und jedes Begriffsrealismus gewesen. Er ist nicht bloß der Vater des Nominalismus, er hat diesen so radikal wie kaum einer nach ihm durchgeführt. Wenn er im Namen des gesunden Menschenverstandes den Allgemeinbegriff ablehnte und die Erkenntnis ganz auf die Wahrnehmung einschränkte, so war das nur ein Glied in der Kette des grundsätzlichen Kampfes gegen jede Wissenschaft, zumal eine Wissenschaft, die sich auf dem Begriff aufbaut. So hat er die Verwerfung der Begrifflichkeit selbst bis zur äußersten subjektivistischen Konsequenz getrieben. Der spätere Nominalismus ist zunächst nicht so weit gegangen. Es ist bezeichnend, daß die Stoa, die die nominalistischen Gedanken des Antisthenes zur schulmäßigen Theorie ausgestaltete, es doch nicht gewagt hat, die Wahrheit der Begriffsurteile in Zweifel zu ziehen. Auch der occamistische Nominalismus hat diese, so sehr er, zumal in seinen extremen Spielarten, die Subjektivierung des Begriffs auf die Spitze trieb, geflissentlich festgehalten, hierin bestimmt durch die begriffsphilosophische Tradition, der sich auch er nicht entziehen konnte. Erst der aus dem Nominalismus hervorgewachsene Positivismus hat die Folgerung gezogen. Auch er freilich nur zögernd und nur unvollständig. Die Positivisten übernehmen mit dem nominalistischen Erbe vor allem auch dessen Kernstück, die Meinung von der Subjektivität des Allgemeinbegriffs; ja, sie betonen gelegentlich die letztere mit größtem Nachdruck. Praktisch arbeiten sie dennoch mit dem begrifflich Allgemeinen, ohne das sie am Ende auf die Wissenschaft, wie sie sie festhalten, verzichten müßten. Während sie aber sonst bemüht sind, die hiefür erforderlichen Prinzipien irgendwie zu rechtfertigen, dehnen sie diese Sorge auf das begrifflich Allgemeine nicht, oder doch nicht ausdrücklich, aus, so sehr z.B. die assoziationistische Erweiterung des Grundsatzes der reinen Erfahrung hiezu die Möglichkeit geboten hätte. Im Gegensatz zu dem früheren Positivismus, der den Allgemeinbegriff subjektivierte, das begrifflich Allgemeine aber stillschweigend in irgendeiner Gestalt zuließ, macht E. Mach mit der Subjektivierung des Begriffs wie der übrigen noetischen Erkenntniselemente vollen Ernst. Während er nun aber die ‚Funktion‘ als den subjektiven Hilfsbegriff bezeichnet, der zur Ordnung der ‚Tatsachen‘ unentbehrlich sei, aber auch genüge, hat er doch tatsächlich auch den Allgemeinbegriff in dieser Weise verwendet. Aber er hat dies wieder stillschweigend getan. Man kann aus diesem Schweigen Mach’s keinen Schluß ziehen, da er auch andere noetische Hilfsmittel, deren er sich faktisch bedient, in dieser Weise behandelt. Unverkennbar ist doch, daß die Positivisten sämtlich eine eigentümliche Scheu trugen, dem Allgemeinbegriff, diesem von der nominalistischen Kritik am stärksten belasteten Denkelement, hinterher eine wenn auch noch so eingeschränkte und bedingte Anerkennung ausdrücklich zuzugestehen. Die Kehrseite aber ist, daß sie von ihm durchweg praktischen Gebrauch machen, daß sie ihn auch für den bescheidenen Rest von Wissenschaft, der ihnen am Herzen liegt, nicht entbehren können. – Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß die alte nominalistische Tradition eine moderne Fortsetzung erfuhr, die ihr zugleich die logische Fundierung zu geben suchte. Mußte den Begriffsurteilen trotz der Subjektivität des Begriffs Wahrheit zuerkannt werden, so mußte der subjektive Begriff doch irgendwie Träger dieser Wahrheit sein können, und er schien es dadurch werden zu können, daß an die Stelle der Subjektivität die Apriorität gesetzt wurde. Es ist jenes absolute Apriori, das uns so oft schon begegnet ist. Dem Allgemeinbegriff wurde hiedurch statt des Wirklichseins, auf das er nun einmal keinen Anspruch sollte haben können, ein wirklichkeitsfreies Bestehen zugeschrieben. Die Wahrheit der Begriffsurteile war dann die wirklichkeitsfreie Geltung. So ist der Begriffsabsolutismus (eines Husserl etwa, F.-P.H.) der genuine Vollender des Nominalismus“ (II, 529 f.). Wer hätte das gedacht?!
Das ist doch einmal eine überzeugende, souveräne historisch-systematische Überschau, wie man sie sich deutlicher formuliert nicht wünschen kann. In dieser Art von kritischen Exkursen, die immer wieder, und in der ersten Abteilung des zweiten Teils gehäuft in die laufende Darstellung zwecks Verdeutlichung und historischer Verortung der jeweiligen Problemlage eingestreut werden, liegt ohnehin, wie ich finde, die Stärke von Heinrich Maiers wissenschaftlicher Arbeit.
Heinrich Maier: „Philosophie der Wirklichkeit“
Zu erhalten u.a. im Verlag der Wissenschaften, im Vero Verlag und antiquarisch.
Lesen Sie weitere Texte von Frank-Peter Hansen unter der Kolumne und der Rubrik "Vergessen? Gelesen!" und zu Heinrich Maier auf KulturPort.De.
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