Meinung

Es hat stets etwas Erfreuliches, wirklichen Kennern ihres Fachs auf etwaigen literarischen Streifzügen zu begegnen. Zwar, auch das ist richtig, stellt sich bei ihrer Lektüre immer wieder das Gefühl der Beschämung ein, da man sich plötzlich seiner eigenen Schranken und Unzulänglichkeiten ganz deutlich bewusst wird; sie führen einem unerbittlich vor Augen, wie wenig man doch eigentlich, allem angestrengten Bemühen zum Trotz, weiß. Aber dieses bohrende Gefühl weicht dann meistens doch dem anderen des Ansporns und der Entdeckerfreude, ihnen nachzustreben, sich zu bereichern an ihrem Reichtum, indem man sich ihn denkend, so gut es geht, aneignet.

 

Heinrich Maiers Die Syllogistik des Aristoteles in zwei Teilen ist mit ihren ungefähr 1100 Seiten ein Werk, das vielleicht beschämen, ganz bestimmt jedoch anspornen kann. Die Diktion ist, wie die Gedankenführung, klar, besonnen und souverän. Und wenn die Aufmerksamkeit des Lesers vielleicht auch immer wieder, speziell in den langatmig-genauen Passagen über die möglichen und unmöglichen Variationen in den verschiedenen Schlussfiguren des zweiten Teils zu erlahmen droht, dann ist dies doch nicht Maier anzulasten, sondern geht auf Kosten der Akribie des Urhebers der logisch-ontologischen Syllogistik. Maiers Aristoteles jedenfalls scheint mir, soweit ich dies zu beurteilen vermag, authentisch zu sein, so dass der Leser nach beendeter Lektüre hinsichtlich nicht nur der logischen Teile des Systems des Stagiriten historisch und systematisch gescheiter geworden ist. Und auch wenn es sich um ein mehr als 1000seitiges Werk handelt, das noch einmal zu lesen eventuell Überwindung kostet, ich empfehle es trotzdem; denn der Einsichten sind so extrem viele, dass ein womöglich sogar wiederholter Anlauf fürs vorrückende Begreifen auf jeden Fall hilfreich sein wird.

 

Wer war Heinrich Maier? Er wird, liest man, dem realistischen Flügel des Neukantianismus zugerechnet, muss also vermutlich Friedrich Schleiermacher, Adolf Trendelenburg, Friedrich Ueberweg, Friedrich Albert Lange und auf jeden Fall Alois Riehl und Christoph Sigwart gedanklich nahegestanden haben. Das bestätigt sich, wenn man die Logik Sigwarts konsultiert. Denn Heinrich Maier hat die dritte, durchgesehene Auflage dieses erstmals 1873/1878 erschienenen zweibändigen Buches mit in der fünften Auflage sogar maßgeblich erweiterten und inhaltlich ausgreifenden Anmerkungen und einer liebe- und pietätvollen Biographischen Einleitung versehen, die, dies sei nebenbei vermerkt, mit einigen beachtlichen philosophiehistorischen Ein- und Durchblicken aufwartet, und die zu lesen sich deswegen ebenfalls verlohnt. Was er dort über den Vortrag Sigwarts mitteilt, lässt sich mit Fug und Recht ganz genauso hinsichtlich seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit sagen: Sie ist „lebendig, klar, durchsichtig aufgebaut, unerbittlich scharf im Gedankengang, ..., stilistisch fein und vornehm, in der Adäquatheit des Ausdrucks geradezu vorbildlich...“

 

Geboren ist Heinrich Maier am 5. Februar 1867 in Heidenheim an der Brenz. Ab 1900 hatte er eine außerordentliche Professur in Zürich inne, wechselte anschließend nach Tübingen und Göttingen. Seit 1918 lehrte er in Heidelberg. 1922 wurde Karl Jaspers sein Nachfolger auf dem Heidelberger Lehrstuhl. Maier lehrte zuletzt in Berlin, wo er am 28. November 1933 verstarb. Abgesehen von der Syllogistik hat er beispielsweise 1908 die Psychologie des emotionalen Denkens, 1913 Sokrates: sein Werk und seine geschichtliche Stellung und 1926 die Philosophie der Wirklichkeit in zwei Bänden publiziert.

 

Der Mitteilung wert sind mir, um nur einige und die aus meiner Interessenslage wichtigsten zu nennen, folgende Einsichten der Syllogistik. Zur Orientierung vorneweg allerdings noch dies: Das Buch besteht aus drei Teilen, dessen erster die Aristotelische Lehre vom Urteil entwickelt. Im zweiten, dem mit Abstand sprödesten der drei, wird die Lehre vom reinen Syllogismus behandelt, und im dritten wird die Anwendung des Syllogismus in der Apodeiktik, dem wissenschaftlichen Beweis der Zweiten Analytik, und der auf Plato zurückgehenden Dialektik zur Sprache gebracht.

 

Aus dem ersten, Die logische Theorie des Urteils bei Aristoteles überschriebenen Teil kommt der im Vorwort geäußerten programmatischen Erklärung eine für die Gesamtorientierung maßgebliche Bedeutung zu. Es heißt: „Schon ein flüchtiges Studium der logischen Schriften des Aristoteles lässt erkennen, wie wenig begründet die herkömmliche Identifizierung der Aristotelischen Logik mit der traditionellen, besonders mit der formalen Logik Kant’s und Herbart’s ist. Die Absicht der ersteren ist nicht, die Normen und Grundfunktionen des auf sich bezogenen Denkens aufzusuchen; sie will vielmehr die typischen Formen herausheben, auf welche sich alles wahre Urteilen und Schliessen zurückführen lassen muss. Die Wahrheit aber ist kein Begriff, der ausschliesslich der Sphäre des subjektiven Denkens angehörte und von jeder Beziehung zum Wirklichen losgelöst wäre. ‚Wahr‘ ist wohl ein Prädikat, das nur auf Denkfunktionen angewandt werden kann; allein ein Prädikat, das nichts Geringeres besagt als die Uebereinstimmung des Gedachten mit einem wirklichen Thatbestand. Darum sind auch die logischen Gesetze in ursprünglicher Weise Gesetze des Seins; und die logischen Formen, die Formen des wahren Denkens, wollen Nachbildungen realer Verhältnisse sein. Das ist die erkenntnistheoretische Grundanschauung, auf welcher die Aristotelische Logik ruht“ (IV; vgl. ebenso 2).

 

Nach Maier steht also Aristoteles auf dem Boden des erkenntnistheoretischen Realismus, so dass alle späteren Versuche, ihn für formal-analytische Begriffsentwicklungen zu reklamieren, als in hohem Maße fragwürdig und verfehlt angesehen werden müssen (vgl. 100). – Die Übereinstimmung des Gedachten, des Denkinhalts mit einem realen Tatbestand, also die sachliche oder objektive Wahrheit, kann nicht in einem isolierten Begriff, nicht in einer Vorstellung oder einer einzelnen Wahrnehmung liegen, sondern muss das Ergebnis des urteilenden Denkens sein. Umgekehrt folgt daraus, dass die subjektive Auffassung des Wahrheitsbegriffs nicht diejenige des Stagiriten gewesen sein kann. Nichts ist Aristoteles fremder als die ganz und gar moderne Einstellung, dass „die wahre Ueberzeugung des denkenden Subjekts der (Real-) Grund des wirklichen Seins“ sei. Aristoteles hält vielmehr dafür, dass „das wirkliche Sein der Grund der Wahrheit unserer Aussagen ist“. Damit ist „nicht bloss aller idealistische Schein aus dem Aristotelischen Wahrheitsbegriff entfernt, es ist zugleich ein objektives Kriterium der Wahrheit gewonnen: das reale Sein ist für dieselbe ebensowohl Realgrund, als Massstab, mit dessen Hülfe Wahrheit und Falschheit festgestellt wird“ (16). Identifiziert man hingegen das im Urteil gedachte und ausgesprochene Sein mit dem realen, so ist die Tatsache des Irrtums ein unlösbares Rätsel (vgl. auch 70 f.). Aristoteles jedenfalls ist, so erfährt man, in der Auseinandersetzung mit der Skepsis die Verschiedenheit des im Urteil gedachten und des realen Seins klar geworden. Aber nicht bloß die Verschiedenheit. Denn die realistische „Fassung seines Wahrheitsbegriffs“ besagt, dass „eine Synthese“ dann „wahr“ ist, „wenn das durch sie hergestellte Verhältnis einem realen adäquat ist“ (34; vgl. ebenso 38, 42, 62 u. passim, spez. jedoch 102 ff.): Adaequatio rei et intellectus. Wahrsein ist also „nicht eine besondere Art des realen Seins, sondern es setzt ein Gedachtes mit einer der Arten des realen Seins in Verbindung“ (36).

 

Es ist überhaupt auffallend, wie sehr die Überlegungen des Stagiriten, seines Lehrers Plato und bereits die des Sokrates durch intellektuelle Erscheinungen des skeptischen und sophistischen Zeitgeistes, insbesondere der zeitgenössischen Eristik bestimmt und in eine Richtung gelenkt worden sind, die einem begründeten, da aus Prinzipien abgeleiteten Urteilen und Schließen, mithin unanfechtbarem Wissen den Weg bereiten half. Unverzichtbar hierfür war die Einsicht, dass Wörter zwar in der Regel mehr als bloß eine Bedeutung haben, dass aber ihre Zahl auf jeden Fall begrenzt und „jede derselben festbestimmt“ sei und sich entsprechend „durch ein besonderes Wort bezeichnen lassen“ müsse. Wären nämlich „der Bedeutungen eines Wortes unbestimmt viele, so hätte es überhaupt keine bestimmte Bedeutung; keine bestimmte Bedeutung haben ist aber so viel als gar nichts bedeuten. Bedeuten jedoch die Worte nichts mehr, so ist jede Unterredung mit andern, in Wahrheit aber auch die Unterredung des Menschen mit sich selbst unmöglich. Denn Denken ist nur möglich, wenn etwas Bestimmtes gedacht wird. Wird aber etwas Bestimmtes gedacht, so wird dasselbe auch durch ein bestimmtes Wort benannt“ (48; vgl. ebenso 50, 61, 65, 88 u. passim). – Logik lässt sich allerdings nicht auf Sprache und Grammatik reduzieren. Aristoteles habe vielmehr in den „vorhandenen Sprachformen die logisch wertvollen“ aufgesucht. „Immerhin“, so fährt Maier fort, „liegt auch so noch die Gefahr nahe, dass Sprachliches und specifisch Logisches (und Ontologisches) vermischt, dass das, was nur der Sprache angehört, auf das Gebiet des Logischen und des Realen übertragen werde, dass sprachliche Verschiedenheiten als logische und reale betrachtet und andererseits über einer sprachlichen Gleichheit logische und reale Unterschiede wesentlicher Art übersehen werden ...“ (109).

 

Es ist im Übrigen frappierend; in all den soeben resümierten Überlegungen kritisiert Maier, gut zwanzig Jahre vor Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus von 1921, die zentralen formal-analytischen Statements dieses 100-Seiten-Buches.

Das Fazit des ersten Teils aber lautet: „Auf dem Weg der logischen Empirie, die von dem sprachlich Gegebenen ausgieng und in den sprachlichen Formen den logischen Gehalt aufsuchte, haben sich die logischen Hauptformen des Urteils ergeben. Diese Formen sind zugleich Darstellungen realer Verhältnisse: darin liegt ihre Wahrheit und ihr logischer Wert. ... Die verschiedenen Urteilsarten sind die dem Denken und Sprechen zur Verfügung stehenden Formen und zugleich, da der Aristotelischen Erkenntnistheorie zufolge der logische Gehalt des Urteils ein adäquates Abbild eines realen Seins ist, die allgemeinen realen Schemata, in welche sich das Seiende in seinen verschiedenen Abstufungen muss einfügen lassen können“ (213).

 

Die Syllogistik des Aristoteles COVERDie Ausführungen der die Formenlehre und Technik des Syllogismus betreffenden ersten Hälfte des zweiten Teils sind, wie bereits erwähnt, ausgesprochen spröde und können entsprechend als zäh und immer wieder auch quälend langatmig empfunden werden. Dennoch hat sich Maier der Mühe einer akribischen Darstellung unterzogen, da ihm nämlich daran gelegen war, in dieser grundlegenden Arbeit kein Stückwerk abzuliefern. „Die Ausführlichkeit, mit der ich den Gegenstand behandelt habe, werde ich nicht zu rechtfertigen brauchen. Meine Absicht war, die Arbeit, nachdem sie einmal aufgenommen, möglichst vollständig zu thun. Wer die logischen Schriften des Aristoteles kennt, der weiss, mit welchen Schwierigkeiten der Interpret hier zu kämpfen hat. Ich konnte mich nicht dazu verstehen, denselben auszuweichen. Mit einer Gesamtdarstellung, die sich nicht auf die genaueste Durchforschung auch des Einzelnen gründet, ist niemand gedient. Erquicklich war das Geschäft wahrlich nicht immer. Aber ich glaube, mit meiner Untersuchung nicht allein Licht in einen etwas missachteten Winkel der griechischen Philosophie gebracht zu haben, sondern zugleich einen Beitrag zur Lösung der aktuellen Aufgabe der Logik geben zu können. Es ist nämlich nach wie vor meine Überzeugung, dass die moderne Logik gut thun wird, sich an der logischen Theorie des Stagiriten zu orientieren“ (III).

 

Und zwar, wie hinzuzufügen überflüssig erscheinen könnte, wüsste man nicht um das scheinbar unverwüstliche Aktualisierungsanliegen der modernen Hermeneutik, einer authentischen und nicht formal-analytisch angepassten. Ist also der Syllogismus auch eine Denkfunktion, die in der Sprache ihren charakteristischen Ausdruck findet, dann hat er zugleich in einem realen Verhältnis sein adäquates Urbild. Ist in der modernen Logik der Syllogismus ein reiner und formaler, dann hat derjenige des Aristoteles immer auch eine ontologische Bedeutung. Hinsichtlich dieser Bedeutung gilt es vor allem zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei der Prämisse der ersten Analytik nicht um ein lediglich subjektives Gebilde handelt. „Der bejahende oder verneinende Satz besagt und repräsentiert ein reales Zukommen oder Nichtzukommen. Sprachliches, Logisches und Ontologisches ist auch hier ineinander“ (6). Genauer: „Der Ausdruck logos (Satz) fasst die Prämisse vom sprachlichen Gesichtspunkt auf. Hiparchin tini bezeichnet ein logisch-begriffliches Verhältnis, aber unmittelbar zugleich ein reales, ontologisches“ (ebd.).

 

Grundsätzlich handelt es sich nach Aristoteles bei dem Syllogismus um eine Unterordnung des besonderen Unterbegriffs (= des Subjekts) unter den allgemeinen Oberbegriff (= das Prädikat), beziehungsweise um die Prädikation des letzteren vom ersteren. „Der Syllogismus ruht seinem Wesen nach immer und überall auf dem Verhältnis des Ganzen zum Teil“ (320). Die Aufgabe der Aristotelischen Schlusstheorie aber ist es, alle überhaupt erreichbaren Schlussformen zusammenzustellen. Die Schlusskraft des Syllogismus liegt im Mittelbegriff. Stets gründet sich „der syllogistische Gedankenfortschritt ... auf objektiv gültige logische Gesetze“, wohingegen „sich der Uebergang vom eingesetzten Satz zu dem zu beweisenden in der hypothetischen Folgerung auf eine subjektive Vereinbarung zwischen dem Schliessenden und seinem Gegner im dialektischen Redekampf“ stützt (255).

 

„Im Bereich des wissenschaftlichen Denkens selbst hat man es in den weitaus meisten Fällen mit specifischen Prämissen zu thun, mit obersten Sätzen, die der einzelnen Wissenschaft eigentümlich angehören.“ Mit dieser Einsicht ist der Methodenwillkür von beliebig einzunehmenden Sichtweisen ein Riegel bereits durch den Stagiriten vorgeschoben worden. Jedenfalls ist es ihm zufolge eine „Sache der Erfahrung (empiria) ..., das jeweilige Prämissenmaterial zu beschaffen. So liefert z.B. die astronomische Beobachtung die ersten Vordersätze, die Prämissen für die astronomische Wissenschaft: nachdem einmal die sinnliche Wahrnehmung eine genügende Erfahrungsbasis geschaffen hatte (...) liessen sich auch die astronomischen Deduktionen ausführen. Aehnlich ist es in den übrigen Wissenschaften und Künsten. In jedem Fall sind zuerst die Thatsachen zusammenzustellen. Ist das geschehen, so können wir die andere Aufgabe in Angriff nehmen, die wissenschaftlichen Beweise zu führen“ (304). „Die Erfassung des allgemeinen Gesetzes ist immer und überall – auch da, wo dasselbe durch die Induktion neu entdeckt wird – die Voraussetzung einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Besonderen ... Wir sehen: das Wissen um das Allgemeine verleiht zwar der Kenntnis des Singulären den Rang einer wissenschaftlichen Erkenntnis, schliesst jedoch das singuläre Wissen selbst nicht unmittelbar in sich (...). Darum verträgt sich ein Irrtum hinsichtlich des Besonderen mit der Kenntnis des Allgemeinen“ (363 f.).

 

Ein ausgebildeter Mediziner beispielsweise ist auch dann noch einer, wenn er sich bei der Behandlung eines oder mehrerer Patienten irrt und einen sogenannten Kunstfehler begeht, eben weil sich sein Wissen nicht aus der äußerlich-additiven Kenntnisnahme sämtlicher Einzelfälle herschreibt, sondern eines um das Warum und die Gründe der Erkrankung(en) ist. Wissen der anderen Qualität ist lediglich eines häufig gemachter Erfahrungen: bei irgendeinem körperlichen Übel schaffte in der Regel dieses oder jenes Mittel Abhilfe. „Die wissenschaftliche Forschung“ hingegen „beschäftigt sich mit dem Einzelnen doch nur, um in ihm das Allgemeine aufzusuchen“ (377).

 

Dieser Aufstieg zum Allgemeinen ist nach Aristoteles die Aufgabe der Induktion. Die epagogische Funktion hat zwei Aufgaben. „Sie hat einerseits an den einzelnen Fällen einen allgemeinen Satz anschaulich demonstrierend, sinnlich-empirisch nachzuweisen, andererseits von einzelnen Vorstellungen zum Allgemeinen abstrahierend aufzusteigen“ (379). Dabei trennt Aristoteles, im Unterschied zu seinem Lehrer Plato, „die wissenschaftliche Forschung, deren Methode die Apodeiktik festlegt, und die disputatorische Unterredung, deren Technik die dialektische Methodenlehre entwickelt. Ist das Ziel der apodeiktischen Beweisführung in erster Linie die Erzeugung objektiven Wissens und erst in zweiter die Erweckung subjektiver Evidenz im Bewusstsein des Erkennenden, so ist das Interesse der dialektischen Argumentation ausschliesslich auf die Erreichung von Augenscheinlichkeit, auf die Gewinnung der Zustimmung des dialektischen Gegners, auf überredende Ueberzeugung gerichtet“ (382 f.). Die Apodeixis hingegen „geht auf die Realgründe ihrer Objekte zurück ..., sie leitet die wissenschaftlichen Sätze aus objektiv bekannteren (...) ab, d. h. aus solchen, die mehr wissenschaftliche Geltung haben, sofern sie der obersten Ursache näher liegen. ... Der wissenschaftlichen Argumentation, welche ein Wissen erzeugen, ihre Gegenstände objektiv bekannt machen, die Methode der Forschung, des strengen Lehrens und Lernens sein will und nicht in erster Linie subjektive Ueberzeugung zu wecken bestimmt ist, ja überhaupt um die subjektive Evidenz sich in keinem Falle zu kümmern hat ... steht ... die dialektische und rhetorische Beweisführung“ gegenüber (383).

 

Das Ergebnis der Induktion befindet sich allerdings nicht auf demselben Niveau mit dem apodeiktisch begründeten Satz. Die Epagoge leitet lediglich auf das Dass hin. Die apodeiktische Deduktion dagegen erklärt die Tatsachen aus ihren Ursachen. Die Induktion bereitet den allgemeinen Sätzen der Apodeixis den Boden. Es ist aber „die sinnliche Wahrnehmung, welche dem Denken den Stoff liefert, aus dem die Prinzipien abgeleitet werden. Die methodische Funktion aber, die in den sinnlichen Erscheinungen die allgemeinen Sätze aufsucht, ist, wie wir wissen, die Induktion“ (406). „Die Induktion geht ... immer und überall auf die Wahrnehmung zurück. Ohne Wahrnehmung keine Induktion“ (407). Es gibt eben keine Apodeixis ohne Induktion und keine Induktion ohne Wahrnehmung und folglich auch kein Wissen ohne Wahrnehmung. Die durch die Induktion bereitgestellten allgemeinen Sätze schließlich bilden den Ausgangspunkt des apodiktischen Abstiegs zum Besonderen.

 

In summa: „So gewiss die sinnliche Wahrnehmung die unumgängliche Vorbedingung für die Ausführung einer Epagoge ist, so wenig erreicht doch die Wahrnehmung selbst, zumal die einmalige, das Allgemeine. Die Wahrnehmung hat durchweg konkret-individuelle Dinge oder Vorgänge, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort befinden bezw. abspielen, zum Gegenstand, während das Allgemeine immer und überall ist. ... : allgemeine Gesetze lassen sich nicht sehen. Die methodische Induktion setzt mehr als einmalige Wahrnehmung voraus. Wiederholte Beobachtung (...) allein setzt uns in den Stand, das allgemeine Gesetz zu entdecken. Sie führt uns zunächst auf die allgemeine Thatsache, auf ein regelmässiges Sein und Geschehen. Aber das thatsächlich Allgemeine hat darum bedeutenden Erkenntniswert, weil es uns auf den Realgrund, auf das Kausalgesetz hinweist. Das freilich dürfen wir auch jetzt nicht vergessen: nicht die Wahrnehmung selbst, auch nicht die wiederholte, die exakte Beobachtung liefert der Forschung die Gesetze. Der Wahrnehmungsstoff ist lediglich die Quelle, aus welcher das Allgemeine abzuleiten ist. ... In dem Fortschritt von der Thatsache zum Gesetz wirken zwei Funktionen zusammen: einmal die wiederholte Beobachtung des Vorgangs; dazu kommt aber die Thätigkeit des Nus (die Tätigkeit des Verstandes ist gemeint, der die Quelle aller Wissenschaft und das Prinzip jeder Deduktion ist, indem er im Beobachtungsstoff das Begrifflich-Allgemeine ergreift, F.-P.H.), der das Ergebnis der Wahrnehmung dahin ergänzt, dass die beobachtete Erscheinung (unter gleichen Bedingungen) in allen Fällen in gleicher Weise eintreten werde, – eine Synthese also, durch die aus dem Allgemeinen der Erfahrung ein unbedingt allgemeines Gesetz wird“ (410 f.). Die Wahrnehmungen, so wie Aristoteles sie im Unterschied zu Plato versteht, „sind nicht mehr bloss die Ansatzpunkte, von denen aus die Seele sich zur mystischen Schauung der Ideen erheben, sondern sie sind der Stoff, in dem die Forschung das Allgemeine aufsuchen muss“ (417).

 

In der zweiten Hälfte des zweiten Teils schließlich handelt Maier von der Entstehung der Aristotelischen Logik. Das klingt konkreter, weil es genetisch angelegt ist, und ist es auch, wenn, gleich zu Beginn, souverän mit philosophiegeschichtlichem Hintergrundwissen über die philosophische Lage im 4. Jahrhundert aufgewartet wird. Über Antisthenes, den, cum grano salis, Hume der Antike, erfährt man beispielsweise folgendes: „Auch Antisthenes geht aus von dem Wissensideal des Sokrates. Und zwar fordert er Definitionen, welche das begriffliche Wesen der Dinge zum Ausdruck bringen sollen. Aber diese Norm dient ihm doch nur zum Massstab der Kritik. Zunächst schliesst er sich auch im wissenschaftlichen Verfahren an Sokrates an: wie der Unterricht, so muss die Untersuchung, die zum definitorischen Wissen führen soll, an die in der Sprache gegebenen Wörter anknüpfen. ... Allein was ist das Wort? Es ist der Ausdruck für eine Vorstellung, für eine Wahrnehmung. Jede Wahrnehmung aber ist individueller Art. Ich sehe einen bestimmten Menschen, ein konkretes Pferd, nicht die Menschheit, nicht die Pferdheit. Art- und Gattungsbegriffe haben keine Realität. Plato’s Ideen sind blosse Gedankendinge (...). Es ist also nichts mit dem begrifflich-allgemeinen Wissen. Ueber die Stufe der Vorstellung kann sich die Erkenntnis und darum auch die Definition nicht erheben. Die Definition kann sich nur auf die individuelle Vorstellung richten und richten wollen. Wissen ist ‚wahre Vorstellung mit Definition‘“ (12).

 

Das Fazit lautet, dass „der Geist des 4. Jahrhunderts ... von skeptischen Reflexionen der verschiedensten Art durchtränkt“ ist. „Dieselben laufen alle darin zusammen, dass sie den im Bewusstsein sich ankündigenden Anspruch des Erkennens auf allgemeine, objektive Geltung als Illusion betrachten – freilich ohne den Gedanken der objektiven Geltung selbst der erkenntnistheoretischen Beurteilung zu unterziehen“ (21).

 

Die Logik des Aristoteles antwortet auf diese skeptische Grundeinstellung des Zeitgeistes. Das Denken soll aus dem Labyrinth der Eristik und Skepsis herausgeführt werden. In diesem Zusammenhang bringt Aristoteles wieder die „disputatorischen Diskussionen ... zu Ehren, indem er der eristischen eine ernsthafte Dialektik entgegensetzt. Zugleich geht er dem Gegner in seine geheimsten Schlupfwinkel nach. Es hat etwas Bedrückendes, dem Sophisten in seiner eigensten Kunst den Meister zu zeigen. Die Dialektik entwirft eine systematische Theorie der Trug- und Fangschlüsse, freilich nur um dieselben aufzudecken und zu entkräften“(69). Im übrigen ist Aristoteles derjenige, der den logischen Charakter der syllogistischen Funktion als erster begriffen hat und auf Grund dieses Begriffs Syllogismen bewusst zu bilden in der Lage war, auch wenn es selbstverständlich wahr ist, dass Syllogismen bereits lange vor der Entdeckung des Syllogismus gebildet worden waren. Denn auch hier gilt der Hegelsche Satz, dass die Eule der Minerva erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt.

 

Unstrittig ist darüber hinaus auch, und damit schließt sich der hier gezogene kleine Kreis, „dass die syllogistischen Begriffe keine rein logischen Gebilde von zunächst bloss subjektiver Geltung sind. Ein Begriff, der nicht zugleich Abbild eines Realen ist, ist in der aristotelischen Logik ein Unding. Und ein Syllogismus, dessen hori lediglich das fertige Resultat einer subjektiven, von der Wirklichkeit gänzlich abgewandten Denkthätigkeit wären, dessen Gültigkeit darum auch nicht über die Sphäre des reinen Denkens hinausreichen würde, und dessen Aufgabe nur die Analyse und Entfaltung subjektiver Abstraktionsprodukte sein könnte, ist dem Philosophen völlig unbekannt. Das aristotelische Schlussprinzip hat nicht bloss logische Geltung. Der Mittelbegriff hat eine dem Wirklichen zugewandte Seite, und das Verhältnis des Ganzen zum Teil hat zugleich reale Bedeutung“ (164).

 

Aristoteles ist folglich derjenige unter den Philosophen der Antike, der sich als erster darum verdient gemacht hat, die begrifflichen Prinzipien wissenschaftlich in das individuelle Geschehen einzuführen und das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten. „Es ist, wie man sieht, eine fundamentale Wandlung, welche die Idee erleidet, wenn sie im Ernst in die Natur eingeführt wird. Indem sie sich zum aristotelischen Realbegriff umbildet, verliert sie den mystisch-unbestimmten Charakter des abstrakten Gedankendings, dessen Verhältnis zum konkreten Sein nur bildlich auszudrücken war. Sie tritt in klare, wissenschaftlich fassbare Beziehungen zur thatsächlichen Wirk-lichkeit. Damit erhält sie gleichsam handgreifliche Realität. Und sie wird in der That eine wirksame Macht im Naturgeschehen, ein fruchtbares Prinzip für die Naturerklärung“ (195). Diese Einsicht ist auch noch für die heutigen (Natur-) Wissenschaften die allein maßgebliche, denn man ist davon überzeugt, „dass die auf das Allgemeine gerichtete Wissenschaft das Reale ergreife. Und doch sieht man auch heute die volle Wirklichkeit in den konkreten Erscheinungen“ (218), wie Aristoteles sie in dem konkret-individuellen Sein der zweiten Substanzen ausfindig gemacht hatte. Darin liegt, weder damals noch heute, ein unauflösbarer Widerspruch.

Damit mag es hier sein Bewenden haben. Die drei Bände dieses Werks bergen so ungeheuer reichhaltiges Material und eine Vielzahl an hier unerwähnt gebliebenen Einsichten, die sich nur einer aufmerksamen und womöglich mehrmaligen Lektüre des Originals erschließen werden. Sollte es mir mit dieser flüchtigen Skizze gelungen sein, auf die Syllogistik des Aristoteles Heinrich Maiers neugierig gemacht zu haben, so hätte ich mein eigentliches Ziel schon erreicht.


Heinrich Maier: Die Syllogistik des Aristoteles

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