Leipzig im März 2019, Donnerstag und Freitag. Rechtzeitig aufgewacht, rechtzeitig losgefahren, keine wesentlichen Staus, denn es ist noch früh. (Früh ist gut, dann sollte es nicht nur auf den Straßen, sondern auch in den Messehallen noch ‚relativ leer‘ sein.) Viele andere sind jedoch ebenfalls früh. Autoschlangen wälzen sich auf die Parkplätze der Leipziger Buchmesse, sorgfältig geteilt und dirigiert von gelbgekleideten Personen und rotweißgestreiften Hütchen auf den Wegen.
Aus den Autos ergießt sich der Publikumsstrom auf die Halleneingänge zu. Davor steht das Wachpersonal in kleinen weißen Pavillons und durchwühlt Taschen, Rucksäcke und Köfferchen. Das ist ja einsehbar: ich möchte schließlich auch nicht gern mitten in einem literarischen Gespräch von einer kulturfeindlichen Bombe hinweggefegt werden.
Im Flugzeug weiß ich, was verboten wäre – hier eigentlich nicht. Wie ist das mit Flüssigkeiten? Wird mein restliches Lieblingsparfum mir weggenommen? Hätte ich die Nagelfeile im Hotel lassen sollen? (Hätte ich, lese ich später. Gemeint sind da wohl jedoch harte Feilen mit Spitze. Meine harmlose aus Sandpapier hat wenig kriegerisches Potenzial.)
Ein Schirm mit Metallspitze beispielsweise hätte nicht mitgedurft. Wäre also der Platzregen des Jahrhunderts auf mein Haupt geprasselt, um mein Makeup hinwegzuschwemmen – keine Gnade. Oder vor Gebrauch die Schirmspitze abbrechen. Doch über Leipzig räkelt sich ein wolkenlos blauer Himmel, strahlt die Sonne und erspart mir jede Schirmproblematik.
So findet der freundliche Wächter mit dreimal geknotetem Bart nichts, was ihn stört. Ein Mann neben mir murmelt, er hätte das Taschenmesser in die Hosentasche stecken sollen. In der Tat: eine Leibesvisitation findet nicht statt und niemand hat durch einen elektrisch verklingelten Türrahmen zu klettern. Wäre ich ein Attentäter, würde ich einfach mein Kampfgerät unter dem Pullover am Hals tragen. Aber ich will niemanden auf dumme Ideen bringen. Es ist völlig in Ordnung, wenn die Bösen weiterhin ihr Schießeisen gut sichtbar in der Handtasche transportieren. Oder gar nicht.
Ab zehn Uhr öffnen sich die Türen. Erscheint man überaus pünktlich, dann bietet sich ein erstaunlicher Anblick: Verlagsstände und kleine Cafés, deutlich zu erkennen, dazwischen etwas wie schmale Gänge oder Straßen! Sitzplätze – und Bücher. Es gibt natürlicherweise viele, viele, viele Bücher auf der Messe. Das einzige, was noch zahlreicher anzutreffen ist, sind Menschen. Die füllen nun schnell, wie nachströmende Flüssigkeit, alle freien Stellen. Bald sind kaum noch Zwischenräume zu erblicken. Schilder in wünschenswerter Höhe erklären, wo man sich befindet: Halle 2 etwa, Gang E, Stand 108. Jetzt erklingt ein gleichmäßiges, dumpfes Summen durch die Messehallen, manchmal unterbrochen von Gelächter. Kurze Zeit später kommen hier und da Ansagen dazu und noch etwas später, ebenso hier und da, Applaus in unterschiedlichem Format. Über all dem dieses Summen. Die Hallen als gigantischer Bienenkorb.
Hätte ich einen kleinen grünen Freund vom anderen Planeten und er würde mich bitten, ihm die Einwohner unserer Welt zu zeigen, dann wäre es praktisch, mit ihm auf die Buchmesse zu gehen. Hier kann er Menschen betrachten, bis er satt ist. Und darüber hinaus.
Außerdem würde er nicht weiter auffallen, da alle glauben müssten, er sei ein weiterer Cosplayer.
Die sorgfältig Verkleideten, die notfalls sogar die passenden Kontaktlinsen tragen, wuseln überall dazwischen. Sie sind es, meiner Beobachtung nach, die in den Durchsuchungspavillons das meiste auszustehen haben. Wie gefährlich ist eine silberne Hellebarde aus festem Pappmaché und wer weiß, ob die Laserkanone nicht wirklich vernichten kann? Da steht ein Obi-wan Kenobi neben einem Klingonen und beide tauschen verzweifeltes Augenrollen, weil ihr Zubehör gedreht, geschüttelt und bezweifelt wird.
Halbtiere laufen umher, reizend bis kitschig, plüschige Einhörner, ein Tintenfisch mit wippenden Tentakeln, Kaninchen mit wackelnden Ohren, Galaxie-verteidigende Schönheiten, Vampire, Zombies, der schwarzgekleidete Tod und sein Zwillingsbruder, Arm in Arm. Dazwischen gerüschte und beschleifte „Lolita“-Figuren, ein Mittelding aus der Mode des Biedermeier und des Rokokos, manchmal mit nur knielangen, wogenden Röcken, manchmal bodenlang mit Drauftretgefahr – „Oh, Entschuldigung!“
Claudius Nießen, Autor, Herausgeber und Geschäftsführer des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, hat auf MDR Kultur im Internet schlüssig erklärt: „Darum gehört Cosplay nicht auf die Buchmesse!“ Eigentlich, weil er findet, da rennt schon genug People rum – außerdem hatte eine der Phantasiegestalten das Pech, dem Mann die Brille von der Nase zu hauen.
Was mich angeht, ich empfinde das anders. Vor allem zum Schluss hin, nach zwei Tagen Buchmesse, mit einigermaßen fadenscheinig gewordenem Nervenkostüm und beginnendem Menschenhass, wirkten die bunten optischen Knüller auf mich erfrischend wie ein Schluck Wasser in der Wüste.
Der Rest des Publikums sieht irgendwie gleich aus. Es scheint höchstens zehn bis zwölf Kategorien zu geben. 97% aller Anwesenden, egal welchen Alters oder Geschlechts, tragen Jeans (ich immer mit) und 99,2% Brillen. Die Mädels sind, vernünftigerweise, auf flachen Tretern unterwegs. Anzug- und Krawattenträger gibt’s beinah gar nicht, höchstens aus Versehen, ebenso Weibchen im Kleid oder Kostüm. Ab und an türkis- oder lilagefärbtes Haar, überwiegend jedoch zweifarbiges nach dem Muster rausgewachsen oder ganz doll rausgewachsen. Immer noch viele Zwiebeln auf dem Scheitel zusammengesteckt. Immer mehr teilrasierte oder gestoppelte Köpfe. Asiatinnen vor allem unter den Manga-Figuren. Ansonsten erstaunlich wenig andere Hautfarben, wenn man von den blauen und weißen und silbernen und schwarzen Gesichtern der Cosplayer absieht. Mein kleiner grüner Freund würde wirklich nicht auffallen. Figuren nahezu jeden Alters gleichmäßig verteilt, vom vor dem Bauch hängenden Neugeborenen bis zum etwas mühsam watschelnden, eifrig um sich blickenden Hundertjährigen. Der Säugling übrigens ohne Brille. Etliche Schulklassen (eher am Donnerstag als am Freitag) mit aufgeregten, kichernden, sich schubsenden, Handyfotos knipsenden Kindern. Es ist nicht unbedingt klar, ob die Kids Bücher lieben. Auf jeden Fall lieben sie den Ausflug und den schulfreien Vormittag.
Es gibt Präsentationen und Signierstunden und Gespräche, Umarmungen und Sekt. Und natürlich gibt es Lesungen, jede halbe Stunde und auch gleichzeitig in den verschiedenen Hallen. Es macht Spaß, sich das Besondere herauszusuchen.
Mir gefiel unter anderem die Buchvorstellung der jungen Journalistin und Psychologin Jana Hauschild (Im Messe-Katalog mit einem s zu viel geschrieben, aber das kann ja vorkommen.) Sie las aus ihrem Sachbuch „Übersehene Geschwister, Das Leben als Bruder oder Schwester psychisch Erkrankter“, erschienen im Beltz-Verlag. Jana Hauschild erzählte, dass sie selbst betroffen war. Als „noch nicht mal wirklich Jugendliche“ erlebte sie mit, wie der sehr geliebte, sechs Jahre ältere Bruder Sven eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt und wie ihr eigenes Leben darum herum weiterwächst. Sven Hauschild sitzt im Publikum, kommt jedoch gern nach vorn, um sich bei seiner Schwester zu bedanken – und man merkt die tiefe Freundschaft zwischen den Geschwistern.
Ebenfalls ungewöhnlich und in diesem Fall ganz besonders vergnüglich fand ich die Lesung von Benedikt Feiten aus seinem Roman „So oder so ist das Leben“, Verlag Voland & Quist. Der Held Anton Lobmeier ist Stammhalter einer ganzen Dynastie von Verlierern, er lebt das Verlieren im Einklang mit sich selbst. Der Autor, mit Wollmützchen und gemäßigter Hängehose, liest ernsthaft und fast etwas betulich die Katastrophen vor, die Anton erleidet. Egal, ob er nur eine Brezel in der Bäckerei kauft oder in seiner Firma eine gelungene Performance bieten will: Es geht daneben, es geht fantasievoll und pointiert daneben. Das ist nicht nur höchst humorvoll, es ist dazu in einer wunderbar klaren, angenehmen Sprache geschrieben. Anton Lobmeier, der Loser, ist einfach liebenswert. Dieses Buch möchte ich selbst lesen und gern verschenken.
Was wäre noch zu erzählen? Das kulinarische Problem.
Ich nehme gern, gerade, wenn der Stress um mich tobt, mittags einen leichten Salat zu mir. Das sollte wohl kein Problem sein im Jahr 2019 und unter erklärtermaßen kultivierten Menschen? Tagtäglich umzingelt von Vegetariern und Veganern?
Tja.
Was ich sehe, überall und immerzu, sind fetttriefende Würstchen und Hühnerbeine und Fleischklopse und panierte Schnitzel und Rippchen. Von pflanzlicher Seite: Pommes. Es ist anzunehmen, dass die aus einem Pulver stammen, das unter anderem mal aus Kartoffeln gewonnen wurde. Dampfenden Rotkohl in Zuckersauce hätten wir.
Wo, bitte, gibt es Salat?
Am Donnerstag helfe ich mir einigermaßen durch ein asiatisches Pappnäpfchen mit gebratenen Nudeln, zwischen denen sich immerhin einige frische Sojabohnensprossen verlieren, neben Streifchen von rohen Möhren.
Am Freitag finde ich ein Restaurant mit fetttriefenden Würstchen, Hühnerbeinen, Fleischklopsen, panierten Schnitzeln und Rippchen, die eine Art Büffet mit Salatangebot haben! Doch, ganz richtig, Tomatenstücke und Rukola und Salatgurke und Römerherzen kleingeschnipselt und so weiter. Man kann das auf einen kleinen flachen Teller häufen, mit Vinaigrette aus einer Karaffe begießen und zahlt für einen „kleinen Salat“ von etwa 80 Gramm sechs Euro…
Also, was das angeht war ich kulturell etwas enttäuscht. Sollte ich jedoch die Krippen für Veganer übersehen haben, bitte ich um Entschuldigung.
Und dann natürlich das blaue Sofa! Else Buschheuer wird von Luzia Braun interviewt zu ihrem neuen (Sach-) Buch: „Hier noch wer zu retten?“, Heyne-Verlag. Da sitzen zwei Damen gemeinsam auf dem blauen Möbel, nicht zu dicht beisammen, Gesichter zum Publikum, und fragen und antworten ein wenig aneinander vorbei. Hinter ihnen schwimmen auf einer Leinwand ständig kleine Partikel nach unten wie bei einer Glaskörpertrübung – was sicher keine Anspielung sein soll auf Buschheuers Augenkrankheit.
Beide, Braun wie Buschheuer, tragen im weitesten Sinne das, was man vor Angela Merkel ‚Hosenanzug‘ nannte. Beide haben kurzes blondes Haar und geräumige Brillen. Beide sind Medienmenschen und Profis, Luzia Braun Moderatorin, Filmemacherin und Redakteurin, Else Buschheuer Journalistin, Fernsehmoderatorin und natürlich Schriftstellerin. Und doch liegen weite Flure zwischen ihnen. Die eine weißblond und ratzekurz, in leuchtendem Orangerot, die andere mittelblond und mit Löckchenkranz über den Ohren, in gedecktem Rosa. Die eine intensiv und radikal ehrlich, die andere mit zurückhaltender Ironie. Brauns Fragen sind keineswegs dumm, aber Buschheuer muss sich sehr bücken oder hochrecken, um sie zu fangen und zu beantworten. Manchmal ist sie schon weit voraus und muss ein Stück zurückkommen. Manchmal hört man sie innerlich mit den Fingern trommeln. Das ist fast amüsanter als der tatsächliche Inhalt des Interviews.
Im Übrigen geht es bei dieser Frau wie eigentlich immer um ihre Selbstbeobachtung, ihre intensive Selbstentwicklung und um ihr Helfersyndrom. Sie fühlt sich hingezogen zu den Alten, den Sterbenden, Gestrandeten, Obdachlosen. Sie setzt sich auch ein. Und dann fragt sie sich, wieso eigentlich. Was steckt dahinter, wenn der Mensch dem Menschen helfen will? Beinah schmerzhaft ehrlich, wie immer, voller Selbstironie und mit viel Witz. So erbringt ihre Selbstdiagnose vielleicht auch für den Leser hilfreiche Erkenntnisse…
Zwei Tage lang haben wir uns auf den Leipziger Buchmesse herumgetrieben, mein kleiner grüner Freund und ich. Inzwischen hinken wir ein bisschen. Die ganze Zeit herrschte draußen das feinste Frühlingswetter. Um die Messehallen herum sitzen erschöpfte Besucher in der Sonne, einige liegen sogar platt auf dem Rücken, nahezu alle mit dem Smartphone vor der Nase. Es heißt, auf der Frankfurter Buchmesse machen sie die Geschäfte, hier in Leipzig die Kontakte.
Bevor am Wochenende „Das Publikum“ eingelassen wird – also jeder – machen wir uns aus dem Staube. Ich nach Nordwesten, Richtung Hamburg. Und er auf seinen Heimatplaneten…
Leipziger Buchmesse 2019
das nächste Mal 12.-15. März 2020Weitere Informationen
Abbildungsnachweis:
Header: Foto PR/Leipziger Buchmesse UK
Galerie:
01. Foto PR/Leipziger Buchmesse TS
02. und 03. Cosplayer. Fotos: Dagmar Schneider
04. Jana Hauschild und ihr Bruder am Messestand. Foto: Dagmar Schneider
05. Else Buscheuer auf dem blauen Sofa. Foto: Dagmar Schneider
06. Bis zum nächsten Jahr auf der Messe... Foto PR/Leipziger Buchmesse UK
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