Nigel Kennedy hat mich sehr ermüdet. Sehr. Sitze nun, nach dem Konzert –inzwischen ist es 23 Uhr – im Café Paris mit einem „cortado très vite“ und einem „eau gazeuse“.
Ja, ja, ja – die Laeiszhalle. Gott wie langweilig, jetzt, da es die Elbphilharmonie gibt! Wie soll man jemals noch einmal glücklich sein in einem anderen Konzertsaal, nachdem man die Elphi kennt – geht nicht – unmöglich!
Gott sei Dank sind wahrscheinlich, sogar höchstwahrscheinlich nicht alle wie ich – ich bin ‚très sensible’: wenn ich mich nicht 100% wohlfühle, dann fühle ich mich nicht wohl – leider. Da kann ich nichts machen und da kann auch Nigel Kennedy nichts machen – leider. Ganz ehrlich fand ich das Konzert, obschon selbstredend Nigel Kennedy großartig spielt: rein technisch gesehen und so wahnsinnig schnell und er ist auch witzig und bemüht sich witzig zu sein; allerdings erinnert er mich an diesen „Edelitaliener“ direkt beim Café Paris um die Ecke: alles scheint irgendwie perfekt und doch hat man nicht, und zwar gar nicht, das Gefühl von Authentizität – ‚mince alors’ – und die „Artigkeiten“ des Chefs beim Italiener in Parallelität zu den „Witzigkeiten“ des Nigel Kennedys wirken irgendwie schal, da man sich vorstellen kann, dass er sie immer und immer gleich abspult und gar nichts von Herzen kommt; allerdings – das muss ich zugeben, habe ich eine Dame im Publikum, selbst Geigerin, vernommen, die sehr wohl vom Variantenreichtum des Nigel Kennedy-„Vortrags“ bei seinen selbst komponierten Stücken sprach – je nach dem auch mit wem er als Gegenüber sie darbieten würde. Also glaube ich ihr und auch mir selbst, da ich schon auch selbst gespürt habe, dass Nigel beim Spielen selbst mit geschlossenen Augen, wenn er diese dann auch zuließ und nicht ins Publikum luscherte, wenn er also vollständig bei der Sache, bei seiner Musik tatsächlich blieb, in Momenten, in denen er wahrhaft versunken war, da war und ist er echt und ich glaube ihm. Ansonsten spielt er eben auch wirklich wie ein richtiger Berserker, hat einen irren Brighton- oder London-Slang, sieht aus wie Karlsson vom Dach, nur ohne Propeller auf dem Rücken und nicht ganz so dick insgesamt, obwohl auch Nigel schon (darf er in seinem Alter auch) Bauch zeigt, vor allem unter dem wirklich nicht sehr kleidsamen braunen T-Shirt mit dem gelben Aufdruck „Klassenlotterie“, das er zu Beginn des zweiten Parts angezogen hatte – statt des graphitgrauen langen weich fallenden Hemdes, ich schätze aus Viskose oder Seide, das er im ersten Part unter seiner zerschlissenen glänzenden, fast schwarzen „Glücks“-Jacke mit unterhalb des Ellenbogens abgerissenem rechten Ärmel angehabt hatte. Warum denn hatte er außer diesem wirklich extrem hässlichen – weil sehr Bauch-betonten- Klassenlotterie T-Shirts kein anderes Wechselhemd dabei? Hat er das T-Shirt hinten in seiner Garderobe etwa zufällig gefunden und spontan übergestreift, weil sein schönes Hemd vom ersten Part durchgeschwitzt war, das schöne graphitgraue Hemd, das so gut zu seiner hellgrauen, gemütlich wirkenden Cargo-Hose in Jogginghosen-Anmutung gepasst hatte?! Wir wissen es nicht – ich konnte nicht fragen, denn Nigel Kennedy gibt im Moment keine Interviews. Deshalb wohl sind im für 5 Euro erhältlichen Programm des Abends einige Interviewfragen und Nigels Antworten darauf abgedruckt. Dieses Interview finde ich allerdings ziemlich gut, deshalb zitiere ich daraus:
„Interviewer: Beschreibe den Brexit mit zwei Worten!
Nigel Kennedy: Dumm und egoistisch.
Interviewer: Wie ist „My World“ entstanden? (Anmerk.: „My World“ ist die neue CD von N.K., deren Kompositionen gut die Hälfte des Konzerts in der Laeiszhalle ausmachten).
Nigel Kennedy: Bei „My World hatte ich das Gefühl, selbst Musik schreiben zu wollen. Ich hatte viele Ideen, aber ich war die ganze Zeit damit beschäftigt, irgendwo in der Welt die Musik anderer Leute zu spielen. Ich hatte einfach keine Zeit, mich hinzusetzen und meine eigene Musik zu schreiben. Darum traf ich ganz bewusst eine Entscheidung: Ich werde eine Weile keine Musik von anderen Leuten spielen, sondern meine eigene Musik schreiben. Dafür braucht man ein bisschen Ruhe, und das funktioniert nicht, wenn man aus dem Koffer lebt. Zum Beispiel brauche ich ein Klavier, wenn ich Musik schreibe. Auf Reisen und in Hotels habe ich darum immer ein Keyboard oder eine Klaviertastatur dabei, damit ich sofort loslegen kann, wenn mir etwas einfällt.
Interviewer: Was ist dein Geheimnis für die Inspiration?
N.K.: Ein wenig Freiraum.
Interviewer: Wer ist dein Friseur?
Nigel Kennedy: Ich selbst. Das spart viel Geld.
Interviewer: Was denkst du über die gleichgeschlechtliche Ehe?
N.K.: Wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen wollen, dann sollten sie auch heiraten dürfen. Verheiratet zu sein ist keine einfache Sache; ich habe es schon ein paar Mal probiert."(1)
Ich bitte die geneigten Leser nicht aus diesem Interview Sätze zu verwenden, sondern als kenntlichgemachtes Zitat mit Quellenangabe (so wie wir das hier am Ende geschehen ist) höchstens daraus zu zitieren. Amen.
Was mir auch noch gut gefallen hat: wie Nigel Kennedy zu Beginn des Konzerts auf die Bühne „gehüpft“ kam wie ein Teenager; man hätte den 60jährigen vom Parkett Reihe 19 ausgesehen, locker für einen 20jährigen halten können – vital, lustig, witzige Frisur, witzige Klamotten, energiegeladen. (Leider kein Foto von mir davon, da ich auf dem Weg mit dem Fahrrad längs der Alster im lauen Sonnenhimmellicht des Abends zu viele Fotos von unserer schönen Stadt geschossen hatte – v.a. einige mehrere von einem kleinen Spielzeug-Holzlastanhänger, Din A 4 Größe, der neben einer Schaukel an der Alster –vergessen worden wohl- stand; rot,-blau,-grün- schön vor den Bäumen und der sonnenbeglitzerten Wasseroberfläche. Aber ich schweife ab! Ach ja, wollte sagen, habe leider kein Foto von diesem überaus inspirierenden Auftritt Nigel Kennedys um 20 Uhr am Samstag in der Laeiszhalle machen können (Speicher voll!), als er also quasi gehopst kam wie ein übermütiger 20jähriger Popper, der als Punk gelten will. Zugegeben witziger Haarschnitt, joggingähnliche hellgraue Cargo-Hose (beidseitig je in Oberschenkelhöhe aufgesetzte Seitentaschen, das im Text bereits erwähnte graphitgraue langärmelige Hemd unter der Lieblingsauftrittsjacke. Das „Lieblings...“ folgere ich aus dem Zustand des Verschleißes dieser Jacke: großer weißer, rot-schwarz beschrifteter kreisförmiger Flicken auf dem rechten Oberarm, ab dem Ellenbogen abgerissener, verfranster Ärmel; linker Arm knapp unter der Schulter mit einem Riss; insgesamt schlechter Allgemeinzustand von vorne – von hinten tadellos! Aus der unten etwas kurzen hellgrauen Hose, zwischen Hosenende und den neongelben Sportschuhen lugen unterschiedlich ‚besockte’ Knöchel hervor. Der linke Fuß steckt in einer türkis-farbenen Socke, der rechte in einer Bordeaux-farbenen (soweit ich mittels Fernglas von Reihe 19 aus die Farben beurteilen kann). Und voller Elan stampft Nigel Kennedy während des gesamten Konzerts immer wieder rhythmisch und sehr laut, wenn es gerade von Rhythmik und Intensität des Stückes dazu passt mit diesen unterschiedlich ‚besockten’ Füßen auf. Dadurch und durch die Art wie Nigel mit Bach umgeht und wie er seine eigenen Stücke gesetzt hat, fühle ich mich eigentlich einen Großteil des Konzerts über an die Stimmung in einem irischen Pub erinnert, wie der kleine Kerl kraftvoll und ein wenig mich eben an Karlsson vom Dach erinnernd, hier energetisch explodiert und mit ihm die technisch auf Augenhöhe schwebenden hervorragenden Mitmusiker Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg. Aber für mich über weite Strecken des Konzerts eben „nur“ energetisch. Leider – und ich weiß nicht warum – werde ich von der Musik, von der technischen Perfektion, von der Klasse des präzisen, auch kreativen dialogischen Zusammenspiels der Musiker emotional fast nie berührt. Doch das Publikum applaudiert frenetisch, spendet Standing Ovations, ist begeistert und deshalb liegt es wahrscheinlich an mir, dass der wirklich brillante (auf zwei Seiten gleichzeitig streichende und somit quasi mit sich selbst sogar zweistimmig spielende) Nigel Kennedy nicht mein Herz erobert. Hochachtung vor seiner musikalischen Leistung und der der anderen: ja, durchaus und sehr, aber emotional berührt bin ich nicht; bin ich nicht, bin ich nicht: Das tut mir nicht nur für die Musiker leid, sondern auch für mich. Ja, so egoistisch bin ich schon, wenn ich ein Konzert besuche, ich will bitte sehr gut – auch und gerade emotional unterhalten werden. Aber: Bin ermüdet, verlange nach dem Konzert sofort nach einem Kaffee, stark, im Café. Mein Herz berühren, das muss wohl jemand anderer machen. Mit diesem Konzert ist die Sehnsucht danach auf jeden Fall nicht gestillt. Also heißt es wieder warten: Wie immer. Aber nach dem Konzert ist vor dem Konzert – es ist eben wie im richtigen Leben.
(1) alle Zitate genehmigt von und aus: Tour-Programm Nigel Kennedy Violine und Leitung Russische Kammerphilharmonie St. Petersburg, Premium Event GmbH, 22587 Hamburg.
Abbildungsnachweis:
Header: Nigel Kennedy. Foto: Nicolas Hudak. PR Counter Production, Sony Classical
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