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Wenn es eine Konstante in der Biografie Vanessa Wagners gibt, dann ist es wohl ihre Vielseitigkeit.

Zum einen verfolgt sie eine Karriere als Musikerin, die ein großartiges Solo-, Kammer- und Konzertrepertoire auf internationalen Bühnen aufführt und für das „La Dolce Volta“-Label aufnimmt.

 

„Le Monde“ bezeichnete sie als „die wunderbarste Solo-Pianistin ihrer Generation“ und „Libération“ nannte sie „eine der neugierigsten und fesselndsten Pianistinnen der französischen Szene“.

Zusammen mit dem Label „InFiné“ erkundet Wagner aber auch Pfade, die sicher genauso persönlich und doch intimer sind. 2016 erschien „Statea“, ein Duett mit dem Elektro-Musiker Murcof, und 2019 ihr Soloalbum „Inland“ – diese Reise setzt sie nun mit „Study of the Invisible“ fort. Eine Reise, für die sie zunächst den ersten Spatenstich tätigen musste, ist sie doch in Frankreich und sogar Europa praktisch die einzige „klassische“ Pianistin, die ein solches Unterfangen in Angriff nimmt: mit einem zeitgenössischen und zeitlosen Repertoire, das als minimalistisch umschrieben werden kann, aber doch eine Vielzahl einzelner Universen abdeckt, ungewöhnliche Musikerpersönlichkeiten einschließt und dabei alle Generationen zusammenführt.

Um dieses Programm zu kuratieren, hat Vanessa Wagner die aufregende Entdeckungsreise fortgeführt, die sie bei „Inland“ begann: das Zusammenstellen seltener Stücke, zwischen denen sich eine mysteriöse Geschichte entspinnt. Von den 15 Stationen, die diese brillante Reise ansteuert, liegt der Großteil in den USA.

 

Vanessa Wagner Study of the Invisible COVERAngeführt von Moondog, dem blinden und visionären Vikinger, dessen sehr an Bach erinnernde „Prelude in A major“ aus dem Jahr 1961 das älteste Stück auf dem Album bildet. Über die Ikonen des Minimalismus: Philip Glass natürlich oder Harold Butt, der sich keinem festen Genre zuordnen lässt und als Papst der Ambient-Musik gilt. Es folgen VertreterInnen der ersten Generation von Post-Minimalisten: Peter Garland, David Lang oder Julia Wolfe, alle geboren in den 1950ern. Und dann die Junge Garde: Bryce Dessner, Nico Muhly und Timo Andres, alle geboren zwischen 1976 und 1985. Und nicht zuletzt gibt es noch ein paar ausgewählte Außenseiter: Suzanne Ciani, besser bekannt als Pionierin der elektronischen Musik, oder die atemberaubende Caroline Shaw, die 2013 mit 31 Jahren die jüngste Gewinnerin des Pulitzer Preises war und deren Universum sich frei zwischen „gelehrter“ und „populärer“ Musik bewegt. Ebenso genreübergreifend sind die Werke und Karrieren des Italieners Ezio Bosso, des Franzosen Melaine Dalibert und, natürlich, der Brüder Brian und Roger Eno, die ebenso zu den Musikern zwischen den Welten zählen.

 

Die einzige Eigenkomposition „Gustave Le Gray" (Nr. 8) ist das zentrale Stück des Albums im Hinblick auf seine Länge. Extrem intensiv von der ersten bis zur letzten Note, verfügt Caroline Shaw über einen sehr persönlichen Stil, während sie musikalische Erinnerungen perfekt integriert.

„Es ist, als würde man ein altes Fotoalbum öffnen, in dem verblichene Farben durch das Anschauen wieder lebendig werden. Der Tribut an Chopins Mazurka in der Mitte ist des Stückes ist überhaupt nicht akademisch, die Freiheit und der harmonische Einfallsreichtum, den sie im Verlauf des Werks entfaltet, ist faszinierend“, so Vanessa Wagner.

 

Die dazugehörigen Partituren, die auf den ersten Blick technisch simpel erscheinen mögen (wobei die Etüden von Philip Glass oder Nico Muhly außerordentliche Geschwindigkeit erfordern) verlangen in der Realität denjenigen, die sie aufführen, viel mehr ab als bloße Virtualität: ein Innenleben, eine authentische Stimmung der Seele. So wie Erik Saties Musik ist es eine Musik, die jeder/m Interpret/in innewohnen muss, ohne dass sie zerstört wird. Deshalb ist die Beschäftigung Wagners damit auch eine Suche: „Nach dem inneren Selbst ­– das ist es, was ich mehr und mehr in Musik mag. Nachdem ich Scriabin, Rachmaninov oder Ravel gespielt habe, bin ich fasziniert davon, Intensität, ohne eine Sintflut an Noten zu ergründen, durch Einfachheit als Mittel des Ausdrucks. Für den Interpreten geht es darum, eine echte Atmosphäre zu betonen, das Tempo zu atmen, eine Sinnlichkeit des Klangs zu erzeugen, Intensität in jedes Vorhaben zu packen und die Räume zwischen den Tönen zum Leben und Schwingen zu bringen. Das ist keine leichte Musik, sondern emotional sehr intensive, die tief geht und einen zum Teil der Geschichte von jemandem werden lässt.“

 

Diesen Grad der Intensität mit Kontrolle von Berührung und Klang sowie Hingabe zu verbinden, ist nicht allen Instrumentalisten vergönnt. Darin liegt die Bedeutung von „Study of the Invisible“: die mysteriöse Welt aufzusuchen, die hinter der Partitur liegt, die unmerklichen Verbindungen zwischen diesen Pausen und Harmonien, aber auch die inneren Ressourcen aufzuspüren, die diese Musik ans Tageslicht zu befördern vermag. Mit diesem Album, dieser Reise und der merklichen Melancholie, die sich als kraftvoll tröstend entpuppt, gibt Vanessa Wagner ihren Adelsbrief fortlaufend an eine Musik weiter, die, anstatt brillant zu sein, vor allem strahlend und leuchtend erscheint.


Vanessa Wagner: Study of the Invisible

Label: InFiné

Digital, CD & Vinyl

VÖ: 25.03.2022

Weitere Informationen (Homepage InFiné)

 

Album Tracklist:

1. Suzanne Ciani - Rain

2. Harold Budd - La Casa Bruja

3. Bryce Dessner - Lullaby

4. David Lang - Spartan Arcs

5. Brian Eno & Roger Eno - Celeste

6. Phillip Glass - Etude n°16

7. Julia Wolfe - Earring

8. Caroline Shaw - Gustave Le Gray

9. Moondog - Prelude n°1 in A minor

10. Timo Andres - Wise Words

11. Peter Garland - Nostalgia

12. Philip Glass - Etude n°6

13. Nico Muhly - Etude n°3 Running

14. Ezio Bosso - Before 6

15. Melaine Dalibert - Epilogue

 

YouTube-Video:

Vanessa Wagner - Gustave Le Gray [Caroline Shaw]

Vanessa Wagner: Ezio Bosso - Before 6 (Official Music Video)

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