Kopf-Hörer 19 - für den Advent geeignet
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Überirdisch strahlend: Jarousskys Händel-Arien. Faszinierende Klangwelt: Olga Pashchenko spielt Beethoven-Sonaten auf dem Hammerklavier. Frühes Schauermärchen: Cornelius Meister dirigiert Mahlers "Klagendes Lied". Seong-Jin Cho lässt Debussys "Images" flirren. Und Philippe Herreweghe präpariert heraus, auf wessen Schultern Schubert bei seiner 2. und 5. Symphonie steht.
Philippe Jaroussky singt Händel. Eigentlich seltsam, dass Philippe Jaroussky bisher seine glockenklare Counter-Stimme bisher nie mit einem Händel-Album präsentiert hat. Wo er doch in dessen Rollen große Erfolge feiert. Nun aber ist es soweit: Mit seinem eigenen Ensemble Artaserse strahlt Jarousskys hohe Stimmlage, kann sich virtuos in Koloraturkaskaden austoben oder in Melancholie und Trauer dahinschmelzen. Händel ist ein Meister der musikalischen Darstellung sämtlicher Gemütslagen - bebender Zorn, ungestüme Racheschwüre, Hoffnung, Betrogenwerden, Eifersucht, zarte Liebe, Verwirrung. In zehn von Händels mehr als 40 Opern ist Jaroussky für sein Händel-Album als Perlentaucher unterwegs und wird dabei auch in weniger bekannten Werken fündig wie in Imeneo, Serse, Giustino, Ezio oder Amadigi di Gaula, kann sich aber auch einen ausführlichen Ausflug zum bekannteren Radamisto nicht verkneifen. Etliche der Arien sang der Superstar der Händel-Zeit, der Kastrat Senesino. Jaroussky braucht keinen Superstar-Bonus, seine Stimme betört immer wieder bis weit hinauf in die Sopranlage, durch fein dosierten Umgang mit dem Vibrato, durch geradezu vorbildlich klare Artikulation und durch eine gehörige Portion sternflammendes Drama, wenn es sein muss. Ein Muss für Händel-Fans und alle, die es werden wollen.
Philippe Jaroussky: The Händel Album
Mit dem Ensemble Artaserse
1 CD Erato/Warner Classics
0190 2957 74455
Beethoven auf historischem Fortepiano. Wie kann man ganz nah herankommen an Beethovens pianistische Klangwelt? Vielleicht, indem man ein Originalinstrument spielt aus seiner Zeit. So wie die junge (Jahrgang 1986) russische Pianistin Olga Pashchenko, die für eine neue Aufnahme das dreichörige Hammerklavier des Wiener Instrumentenbauers Conrad Graf aus dem Jahr 1824 nutzt, das im Geburtshaus Beethovens in Bonn steht. Ein Instrument, das nicht die Homogenität des Klangs und das Volumen heutiger Konzertflügel besitzt, das uns aber eine Ahnung davon erlaubt, wie viel Klangfarbenreichtum bei der Optimierung zum modernen Hochleistungsflügel auf der Strecke blieb. Pashchenko, gebürtige Moskauerin, ist Professorin für Hammerklavier am Amsterdamer Konservatorium und hat sich in den historischen Klang verliebt. Und sie nutzt die Finessen des Hammerklaviers. Die kürzere Schwingdauer der Saiten, die eine angenehm natürlich perlende Trennschärfe bei kurzen Tönen ermöglicht, ohne dass man pointiert Staccato spielen muss. Den silbrig glitzernden Diskant der damals dünneren Saiten, die eher zurückhaltenden Bässe. Und die Möglichkeiten, den Klang durch Pedale mit den Namen Moderator oder Fagott, Dämpfung und Verschiebung nicht nur in der Lautstärke zu verringern, sondern zu verändern. Geheimnisvoll der Beginn des zweiten Satzes der Waldstein-Sonate, im dritten steigt das Thema wie aus Nebeln hervor - und fast immer entsteht ein dezenter, intimer Klangeindruck. "Waldstein", "Appassionata" und "Les Adieux", Pashchenko spielt die oft Gehörten in einer faszinierenden Mischung aus zart und explosiv, immer transparent und darauf bedacht, die Vorzüge und Eigenheiten des historischen Instruments ins rechte Licht zu stellen. Ein ungewöhnliche, interessante Hörerfahrung.
Beethoven: Appassionata, Les Adieux, Waldstein
Olga Pashchenko, Fortepiano
1 CD Alpha
Alpha 365
Cornelius Meister und Mahlers ”Klagendes Lied". Gerade mal 20 Jahre jung reichte Gustav Mahler die Partitur seiner symphonischen Kantate "Das klagende Lied" für den Beethoven-Preis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ein. Und wurde bereits im Vorfeld abgelehnt. Das gewaltige Werk in drei Teilen und 22 Strophen war vorerst unaufführbar - es erfordert vier Solisten, dazu Knabensopran und Knabenalt, großes Orchester und Fernorchester. Mahler revidierte und kürzte, die so verstümmelte Fassung hatte nach 20 Jahren Premiere. Die ursprüngliche Fassung wurde erst 1997 in Manchester uraufgeführt. Eine Mischfassung aus beiden (komplette Geschichte, etwas reduziertes Orchester) hat sich im Konzertleben eingebürgert und ist auch in dieser Aufnahme zu hören. Den Text des Schauermärchens hatte Mahler selbst geschrieben, nach Motiven von Ludwig Bechstein und der Brüder Grimm. Er selbst bezeichnete das Werk als sein Opus 1. In der aktuellen Aufnahme präsentiert das Wiener Radio-Symphonieorchester mit seinem Chefdirigenten Cornelius Meister Mahlers erstaunliches Frühwerk mit hohem Sinn für die kompositorische Revolution, die am Anfang von Mahlers Komponistenkarriere steht und in der er bereits alle seine persönlichen Stilmittel einsetzt, von den virtuosen instrumentalen Klangfarbenspielen und grotesken Brechungen der spätromantischen Musiksprache bis zu den feinsten Gefühlsregungen, vom gewaltigen Orchesterdonner und markerschütternden Ausbrüchen bis zur anrührendsten Innerlichkeit, zur himmelblauen Hoffnung und dunkelsten Verzweiflung. Die Live-Aufnahme aus dem Wiener Konzerthaus offenbart hin und wieder leichte Unschärfen vor allem im Chor, der Wiener Singakademie, aber auch Cornelius Meisters vollen Einsatz, wenn es darum geht, den hochkomplexen Mahler-Sound so packend wie möglich zum Klingen zu bringen.
Gustav Mahler: Das klagende Lied - für Soli, Chor und Orchester
Wiener Singakademie, ORF Vienna Radio Symphony Orchestra, Dirigent: Cornelius Meister
1 CD Capriccio
C5316
Seong-Jin Cho mit grandiosem Debussy. Kann man komponieren und Klavierspielen ganz so, wie Maler malen? Debussy konnte das, besonders in seinem Zyklus "Images", dessen zwei mal drei Stücke klingen, als hätte er sie erst durchs intensive Studium der Impressionisten aufs Notenpapier tupfen können. Entstanden 1904 bis 1907 spürt er darin den Lichtreflexen auf dem Wasser nach, dem Hauch einer raschen Bewegung oder dem Glockenklang, der durch das Laub gebrochen wird. Er lässt den leisen Mondschein in einen verfallenen Tempel leuchten und Goldfische mit schnellen Flossenschlägen im Wasser plantschen. Pianistisch eine große Herausforderung, die der junge Koreaner Seong-Jin Cho mit großer Ausdrucksfähigkeit meistert, und dabei immer leicht mit den Fingern über die Tasten geleitet, um feinste Nuancen bemüht und ohne der Virtuosität Übermacht zuzugestehen. Fein gesponnenes Klanggewebe. "Children's Corner" schrieb Debussy gleichzeitig mit der zweiten Folge der "Images"; sechs der sieben Stücke beziehen sich auf Spielsachen seiner Tochter Chouchou, sind aber keine Kinderstücke. Cho spielt sie mit delikatem Witz und viel Gefühl - ihm gelingt brillant die Veralberung von Wagners "Tristan"-Akkord im finalen Ragtime-Hit "Golliwog's Cake-Walk". Und dann noch die "Suite Bergamasque" mit einem überirdischen, betont langsam interpretierten "Clair de Lune". Und mit "L'Isle joyeuse", das Debussy dann doch nicht in diese Suite hineinnahm. Cho hat die gemalten Impressionisten gut studiert im Pariser Musée d'Orsay und im Musée de l'Orangerie. Er macht mit seinem Spiel die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen von Debussys Musik transparent und lässt die Noten elegant tanzen, elegisch träumen und manchmal überirdisch flirren. Und flirren - das müssen sie oft bei Debussy.
Debussy: Images - Children's Corner - Suite bergamasque - L'isle joyeuse
Seong-Jin Cho, Piano
1 CD Deutsche Grammophon
479 8308
Herreweghe und die Wurzeln Schuberts. Das klingt doch wie... Beethoven, Mozart, Haydn. Und man möchte meinen, Philippe Herreweghe mit dem Antwerp Symphony Orchestra legt es geradezu darauf an, die Verbindungslinien zwischen den drei Klassikern und dem jungen Schubert, Jahrgang 1797, herauszupräparieren und die Schultern sichtbar zu machen, auf denen Schubert einmal stehen wird. Dessen 2. Symphonie entstand 1814/15 und erinnert im Kopfsatz überdeutlich an Beethovens Ouvertüre "Die Geschöpfe des Prometheus", im zweiten Satz, einem Andante mit Variationen, an ähnliche Stücke von Haydn, während Schubert im dritten und ausgedehnten vierten Satz eigene Wege einschlägt. Die 5. Symphonie, kurz vor seinem 19. Geburtstag vollendet, in kleinerer Besetzung, ohne Pauken, Trompeten, Klarinetten und mit nur einer Flöte, lässt immer wieder an Mozart denken, nicht nur im ersten Satz, sondern auch im Andante und im Menuetto. Während im abschließenden Allegro vivace noch einmal Haydn grüßen läßt - Anklänge, aus denen Schubert dann immer wieder seine eigene musikalische Sprache entwickelt. Herreweghe lässt das durchgängig ganz klar spielen, nur selten mit Beethovenscher Wucht oder Mozarts Leichtigkeit, sein Schubert sammelt mit großem Ernst gerade das Werkzeug, mit dem er seine späten Symphonien erarbeiten wird. Diese frühen Fingerübungen werden erst spät wahrgenommmen - die zweite erklingt erst 1877 vor Publikum. Reizvolle Musik aus einer Zeit, in der sich ein junges Genie seinen Weg sucht.
Schubert: Symphonies nos. 2 & 5
Antwerp Symphony Orchestra, Leitung: Philippe Herreweghe
1 CD Phi, LPH 028
Abbildungsnachweis:
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