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Dieses Buch ist ein rasanter Ritt durch vielerlei Menschenleben. Es ist ein wüstes Märchen in drastischen Bildern mit ungewohnten Protagonisten in einer uns eher unbekannten Welt, sprich Kultur. Es ist ein Roman voller Liebe und Leidenschaft, voller Gewalt und Tod.

Zum Glück sind die 500 Seiten von „Der Wal“ aus der Feder des südkoreanischen Autors Cheon Myeong-kwan auch mit Humor gefüllt, vor allem aber mit intensiver Spannung, die uns Leser*Innen von Anfang an gefangen nimmt. Fast zwanzig Jahre nach Erscheinen ist dieses monumentale Märchen nun auch auf Deutsch erschienen in der Übersetzung von Matthias Augustin und Kyunghee Park.

 

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Erzählt wird die abenteuerliche Geschichte zweier Frauen: Der eine Teil der Geschichte handelt von Kŭmbok, einem ehrgeizigen Mädchen vom Land, das aus ärmlichen Verhältnissen kommt. Sie verfügt über große Überzeugungskraft, Energie und einen außerordentlich anziehenden Duft. Mit diesen persönlichen Zutaten gelingt es ihr, zur erfolgreichen Unternehmerin, Fabrikbesitzerin und Kinobetreiberin aufzusteigen. Vor allem eines kommt ihr dabei zu Hilfe: dieser besondere Duft, der die Männer ihrer Umgebung schier um den Verstand bringt und so manch einen leider auch ums Leben.

 

Der Wal Cheon COVERMit ihrem ersten Mann, einem fahrenden Fischhändler, verlässt sie ihren Geburtsort. Die beiden bauen nach einer Idee von Kŭmbok und einen Trockenfischhandel auf, der den Grundstein für Kŭmboks weiteren Erfolg legt. Sie sieht zum ersten Mal das Meer und entdeckt einen Wal. Ein Anblick, den sie zeitlebens nicht vergessen wird. Eines Tages verlässt sie den Fischer und lebt von nun an mit dem bärenstarken, aber dümmlichen Hafenarbeiter Kŏkjŏng zusammen. Jahre später wird sie eine Tochter von ihm empfangen – zu einem Zeitpunkt, als Kŏkjŏng längst ums Leben gekommen ist. Dieses Mysterium gehört zum märchenhaften Teil des Buches, in dem viele erstaunliche Dinge geschehen, die allesamt jeglichen Rahmen von Realität sprengen. Zum realistischeren Teil gehört dieses: Als ein Krieg ausbricht, muss Kŭmbok sich allein durchkämpfen. Bis sich zwei Zwillingsschwestern der heruntergekommenen armen, aufgrund ihres besonderen Duftes aber immer noch anziehenden Frau annehmen. Später wird Kŭmbok die Kneipe der Schwestern sanieren und umfunktionieren zum Café, bevor sie dann nahe der Stadt P’yŏngdae eine Ziegelfabrik aus dem Boden stampft. Sie entdeckt das Kino für sich, verdreht den Männern weiter den Kopf und wird zur erfolgreichen Geschäftsfrau. Wie ihr Leben weiter verläuft und endet, sei hier nicht verraten.

 

Das also ist der eine Erzählstrang. Der andere umschreibt das Leben von Kŭmboks Tochter Ch’unhŭi, die zwar ein sanftmütiges Wesen hat, aber von geradezu furchteinflößender Gestalt ist. Schon bei ihrer Geburt wiegt sie „sieben Kilogramm, und noch vor ihrem dreizehnten Geburtstag brachte sie mehr als zwei Zentner auf die Waage.“ Sie ist von Geburt an stumm und hat keine Spielkameraden. Später wird ein Elefant zu ihrem Freund. Ein Elefant, der sprechen kann und mit dem sie sich unterhalten kann. Das jedoch ist eine Geschichte für sich und soll daher an dieser Stelle nur angerissen werden… Die stumme Ch’unhŭi trägt ungewollt Schuld an einem verheerenden Brand, der mehr als 800 Menschen das Leben kostet. Sie sitzt dafür jahrelang im Gefängnis und kehrt nach dem Gefängnisaufenthalt an den Ort ihrer Kindheit zurück, auf das Gelände der in der Zwischenzeit verfallenen Ziegelfabrik, deren „Ziegelsteinkönigin“ sie einst war.

 

Dies ist der Zeitpunkt, an dem wir Leser*Innen Ch’unhŭi kennenlernen. „An jenem Tag im Sommer, an dem die Sonne dem Erdball so nahe kam, dass man glaubte, sie könnte Gusseisen zum Schmelzen bringen, stand Ch’unhŭi in ihrer Sträflingskluft mitten im Hof der Ziegelfabrik.“ Sie ist jetzt 26 Jahre alt und wiegt trotz der vorausgegangenen Jahre im Gefängnis (immer noch) 120 Kilogramm und ist (inzwischen) ein Meter achtzig groß. Ihr Leib wird „von zwei Beinen getragen, die so rund und stark waren wie Eichenstämme. Ein wahrhaft grandioser Anblick.“ Wahrlich kein liebenswerter Typ, was das Äußerliche betrifft! Und leider hat auch ihre Sanftmut Grenzen, wie wir im Verlauf des Romans erfahren werden…

 

Die Zeit im Gefängnis hat die stumme Frau zu einem wilden Tier gemacht. Jahrelang wird sie fortan in ihrer Sträflingskluft auf dem ehemaligen Gelände der Ziegelfabrik, die ihre Mutter gegründet und betrieben hat, leben. Solange, bis ihr ein fremder Mann ein gelbes Kleid schenkt. Doch auch das ist ein Teil der Geschichte, dessen weiterer Verlauf hier nicht verraten werden soll. Gleich zu Beginn unserer Begegnung mit diesem fast unmenschlichen Wesen auf dem Gelände der einst so ertragreichen und nun verlassenen Ziegelfabrik erlegt Ch’unhŭi eine Schlange, „ein dickes, mit einer Länge von knapp einem Meter ziemlich großes Tier“ und reißt ihr mit den Zähnen die Haut unterhalb des Kopfes auf, zieht sie der Länge nach ab. Was sich im Magen der Schlange befindet, lassen wir hier an dieser Stelle einfach mal weg… Jedenfalls wickelt die junge Frau im Sträflingsanzug das Tier zu einer Rolle und beginnt es vom Kopfende her roh zu verspeisen.

 

Dies mag manchen Leser*Innen als Warnung dienen: Es handelt sich bei diesem Buch – wie gesagt - um eine märchenartige Lektüre, und bekanntlich geht es auch in Märchen manchmal recht gewaltvoll zu! Dennoch sollte sich der geneigte Leser nicht davon abhalten lassen, dieses großartige Buch zu lesen, das ungeahnte Bilder und Sehweisen, vielfältige Gesetze und Erkenntnisse bietet. Die zahlreichen Gesetze sind vom Autor scheinbar beiläufig eingestreut, treffen uns stets unerwartet und sind zumeist ans Ende einer Episode gesetzt. Dieses stilistische Verfahren gliedert auf pfiffige Weise die Handlung. Hier einige Beispiele: Das Gesetz der neuen Welt: „in die sie [Kŭmbok] nun gehörte“, das Gesetz der Fortpflanzung: „Kŭmboks junge, frische Gebärmutter verlangte jetzt nach den Samenzellen eines stärkeren Mannes“, das Gesetz der Erwerbstätigkeit: „Der Chef habe mit ihm [dem Fischhändler] gesprochen und erstaunlicherweise den dreifachen Lohn zugesagt“, das Gesetz der Beschleunigung: „Die riesigen Stämme kamen mit immer beängstigenderem Tempo herabgerollt und begruben Kŏkjŏng gnadenlos unter sich.“ Und kurz darauf das Gesetz der Dummheit: „Ich dachte, ich könnte das Holz auch diesmal aufhalten.“

 

Aufgeteilt ist der Roman in drei Parts: „Am Hafen“, „P’yŏngdae“, „Die Brandstifterin“. Die drei Teile wiederum sind eingeteilt in 14 bzw. 18 Kapitel. Das einzige, was fehlt, ist ein Personenregister. Ein solches wäre hilfreich bei der Lektüre. Zumal manche Figuren untertauchen und erst viele Seiten später wieder auftauchen. Der Autor weiß um dieses Problem. Hin und wieder spricht er deshalb auch den Leser, die Leserin direkt an, beispielsweise mit „Verehrte Leserschaft, bitte habt dafür Verständnis“, wirbt er, wenn er einen „Sprung zu einem anderen Ort“ macht. Oder: „Was das jetzt schon wieder für eine Geschichte ist? Das, oh wissbegierige Leserschaft, werdet ihr gleich erfahren.“

 

An einer Stelle des Buches heißt es: „Das Wesen von Geschichten ist es, dass Dinge hinzugefügt oder weggelassen werden, sie ihre Form verändern können, je nach dem Standpunkt, den der Übermittelnde einnimmt, sowie der Bequemlichkeit des Zuhörers und dem Können des Erzählers. Die geneigte Leserschaft mag einfach glauben, was sie glauben will. Das ist alles.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer diesem: Der Erzähler Cheon Myeong-kwan weiß, wie er seine Leserschaft fesselt.

 

Cheon web

Foto: © Paik Da huim


Cheon Myeong-kwan: Der Wal

Weissbooks Verlag

Aus dem Koreanischen von Matthias Augustin und Kyunghee Park
Roman. 508 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86337-197-5

Weitere Informationen (Verlagsseite)

 

 

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