Ist Hirnforschung das Nonplusultra der Wissenschaft? Leben wir in der Dekade des Gehirns? Sollte etwa im Hirn meine Personalität stecken? Kommt seine Erforschung also der Erforschung des Menschen überhaupt gleich?
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hat ein weit, ein sehr weitblickender Dichter die absurden Vorstellungen der heutigen Hirnforscher zu Ende gedacht und ein groteskes Bild für ihre heute in Presse, Funk und Fernsehen popularisierten Konzeptionen gefunden.
In seinem Erstlingsroman „Die unsichtbare Loge“ (1792) erzählt Jean Paul von seinem Helden Ottmar. Dieser, ein intellektueller Höfling, verbringt „fünf groteske Minuten“ damit, die Weltsicht eines materialistisch-naturalistischen Hirnforschers zweihundert Jahre nach seiner Zeit vorwegzunehmen. Weil „den eigentlichen Körper der Seele nur Gehirn und Rückenmark ausmachen“ – eben das ist das Credo des Neurophilosophen –, entscheidet sich Ottomar dafür, „den vernünftigsten Hofdamen und den schönsten Hofherrn“ in Gedanken die Haut abzuschinden, ihnen ferner die Knochen herauszuziehen und sich endlich das Fleisch und Gedärm wegzudenken, „bis nichts mehr auf der Ottomane saß als ein Mark-Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran.“
Das Bild ist wirklich treffend, so bizarr es auch sein mag – aber der Hirnforscher kennt wirklich keinen Leib; oder dieser ist nur Beiwerk, damit das Hirn irgendwie über die Runden kommt. In jedem Fall ist das Wesentliche am und im Menschen das Gehirn.
Ich zucke immer zusammen, wenn es heißt, ein Gehirn habe sich dieses oder jenes gemerkt; noch eigenartiger mutet es mich an, wenn davon gesprochen wird, ein Gehirn habe etwas entschieden; und schließlich kann ich es nicht fassen, wenn ich in einem Schulbuch für Philosophie auf ein Kapitel über moralische Gehirne stoße oder wenn ein Buch „Das narrative Gehirn“ betitelt ist: Entspricht diese Sprechweise unserem Erleben? Erfahren wir uns selbst oder unsere Menschen in dieser Weise: als Gehirne? Nein, sicherlich nicht. Vielmehr ist diese Sprechweise die Popularisierung eines strikten und ziemlich bornierten Materialismus. Eines Materialismus übrigens, der in einen Idealismus mündet – das ist schon eine ziemlich merkwürdige Wendung.
Das Gehirn auf der Ottomane
Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, Inhaber eines nach Karl Jaspers benannten Lehrstuhls in Heidelberg, ist der Verfasser von „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“, einem zuerst 2008 erschienenen, seitdem mehrfach überarbeiteten und erweiterten Lehrbuch, in dem derartige Ansichten dargestellt und argumentativ widerlegt werden. In sehr überzeugender Weise setzt er sich mit den Theorien Wolf Singers („Der Beobachter im Gehirn“), Thomas Metzingers („Der Ego-Tunnel“) und noch einigen anderen Neurophilosophen auseinander, und man sich nur wünschen, dass das Buch, das immerhin schon in sechster Auflage vorliegt, noch viele Leser findet.
So grotesk Jean Pauls Bild des auf einem Sofa sitzenden, nur aus Rückgrat und Gehirn bestehenden Menschen auch sein mag: Es gibt tatsächlich wieder, wie sich der Neurophilosoph Thomas Metzinger und mit ihm viele andere sich vorstellen, die sie in einem „Ego-Tunnel“ leben, einer von ihrem Gehirn produzierten Scheinwelt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Es ist, wenn wir Metzinger folgen, ein einziges Lügengewebe, mit dem das Gehirn – ihr, aber auch unser Gehirn – eine „geniale Strategie der Erschaffung eines einheitlichen und dynamischen inneren Porträts der Wirklichkeit verfolgt“. Noch viele andere Autoren vertreten diese Ansicht, die man als „Neuroidealismus“ bezeichnen könnte. „Tatsächlich“, schreiben zum Beispiel Werner Siefer und Christian Weber, „findet alles, was wir wahrnehmen und spüren, im Hirn statt.“ Um nur auf einen einzigen schwachen Punkt dieser eigenartigen Theorie zu sprechen zu kommen: Wie können wir unter diesen Umständen anderen Menschen begegnen und mit ihnen sprechen? Müssten diese nicht auch von uns phantasiert worden sein, so dass wir für immer und ewig auf uns selbst zurückgeworfen wären, also nur noch mit uns selbst oder mit den Ausgeburten unseres Hirns sprächen?
Es ließe sich hier noch manch anderer, von Fuchs nicht genannter Autor zitieren, aber hier wollen wir allein den Amerikaner Steven Pinker zu Wort kommen lassen, weil es ebenso sinnlos wie typisch ist, was er über das Platonische Höhlengleichnis schreibt: „Platon meinte, wir seien alle in einer Höhle gefangen und sähen die Außenwelt nur in Form der Schatten, die sie auf die Höhlenwand werfen. Unsere Höhle ist der Schädel, und die Schatten sind geistige Abbilder.“ Hätte es Pinker nicht zu denken geben sollen, dass im Gleichnis die Menschen die Höhle verlassen können, um später zurückzukehren und die zurückgebliebenen Höhlenbewohner über die wahre Natur der Schattenspiele aufzuklären? Heutzutage sind Hirne wohl selbstbewusst, aber gehen sie auch spazieren? Wie auch immer: Fuchs hat angesichts dieser Theorien zweifellos recht, wenn er die Neurophilosophie einen „Idealismus der Information“ nennt.
Den entscheidenden Gedanken von Thomas Fuchs – er gibt ja auch den Titel für sein Buch ab – hat bereits Henri Bergson in dem ersten seiner Hauptwerke formuliert, in „Materie und Gedächtnis“ (1896). Für den französischen Philosophen ist das Gehirn „eine Art Telephonzentrale“, und nach ihm sprechen alle „Tatsachen und alle Analogien […] zugunsten einer Theorie, welche im Gehirn nur einen Vermittler zwischen den Empfindungen und den Bewegungen sieht“. In seinem Buch gelingt Bergson der überzeugende Nachweis, dass es ganz sinnlos sein muss, Gedächtnisspuren an einzelnen Punkten des Gehirns zu suchen oder irgendwo sonst zu lokalisieren: eine Einsicht, an die Fuchs anknüpfen und die er viel besser unterfüttern kann, als dies einem Autor am Ende des 19. Jahrhunderts möglich war.
In „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“ finden wir eine genaue Beschreibung der Rolle, die das Gehirn innerhalb des Körpers spielt, und seinem Ansatz entsprechend beginnt der Autor mit dem Lebensgefühl (dem primären Bewusstsein), um dann zu den höheren Bewusstseinsformen aufzusteigen. Dabei betont Fuchs die Zirkelhaftigkeit der aufeinander bezogenen Prozesse und benutzt gern eine Art Elektrikerdeutsch, wenn er von „Schleifen“, „Rückkoppelungen“ und dergleichen spricht. Gelegentlich schlägt er auch über die Stränge, zum Beispiel, wenn er über die Anpassungsfähigkeit des Gehirns schreibt.
In diesen Fällen kommt Fuchs der empiristischen Vorstellung des Gehirns als einer „Tabula rasa“ (einer leeren Tafel) verdächtig nahe, wenn er die Plastizität des Gehirns ein wenig über Gebühr betont. Als ließe es sich in alle überhaupt nur möglichen Richtungen verformen… Es ist der „erfahrungsabhängige Selektionsprozess“, der in dieser Darstellung das erwachsene Hirn formt. Erst die „Interaktion mit der Umwelt“ schaffe die Bedingungen, „die zur Erfahrung dieser Umwelt erforderlich sind.“ Es ist ein Hohelied auf die Plastizität des Gehirns, das hier von Fuchs angestimmt wird, ohne dass er den rationalistischen Einwand eines Leibniz zu akzeptieren scheint. „Nihil est in intellectu, quod no prius fuerit in sensu“ lautet eine der Leitthesen des englischen Empirismus (nichts ist im Verstand als das, was zuvor in den Sinnen war, schrieb John Locke), woraufhin Leibniz trocken erwiderte: „nisi intellectus ipse“ (nichts als der Verstand selbst). Es gibt eben manches, was vor aller Erfahrung besteht, diese erst ermöglicht und strukturiert und deshalb als apriorisch angesehen werden muss.
Wer mag, kann sich in der „Transzendentalen Ästhetik“ (dem ersten Teil der „Kritik der reinen Vernunft“) anschauen, wie sich Kant eine solche Formung unserer Erfahrungen vorstellte. Das durch die Sinne gegebene Material wird bearbeitet, so dass Hinnahme (Rezeptivität) und Formung (Spontaneität) einander ergänzen. Kant hat diese Zusammenhänge – das ausbalancierte Widerspiel von Rezeptivität und Spontaneität, von empirischer Realität und transzendentaler Idealität – in der Vernunftkritik in einer bis heute prinzipiell gültigen Weise beschrieben, wogegen die Philosophen des Deutschen Idealismus in seiner unmittelbaren Nachfolge das spontane, empiristische Denker vor oder nach ihm das rezeptive Moment über Gebühr betont haben.
Es ist zu vermuten, dass „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“ aus einer Standardvorlesung des Autors entstanden ist. Dafür spricht zunächst der systematische Aufbau des Buches, zusätzlich noch seine didaktische Form mit Skizzen und Zusammenfassungen. Mit einer Polemik gegen die Neurophilosophie beginnt es. Fuchs denkt im Unterschied zu dieser Richtung, „dass das Gehirn zunächst das Organ eines Lebewesens und nicht primär das Organ des Geistes ist“. Im Anschluss stellt er die Ergebnisse der Naturphilosophie Jakob von Uexkülls, Helmuth Plessners, Hans Jonas‘ und anderer in souveräner Weise dar. Allerdings fällt in dieser Zusammenfassung besonders auf, dass sich die Insekten an keiner Stelle erwähnt finden. Man versteht, dass in einem Buch, das sich mit der Deutung des Gehirns beschäftigt, für Krabbeltiere kein Platz sein kann, aber trotzdem ist das ein Manko – nämlich deshalb, weil die Insekten ganz und gar von Instinkten bestimmt sind. Und der Blick auf den Instinkt (das ist ein Begriff, der in Fuchs‘ Buch nicht vorkommt) ist wichtig, wenn es um das Gedächtnis geht. Waren wir uns nicht darüber einig, es nicht an einer isolierten Stelle im Gehirn zu suchen?
Kerbtiere sind in einzelne, zumindest teilweise unabhängige Sektoren unterteilt, so dass die einzelnen Glieder – die Beine, die Fühler, sogar der Kopf – sich selbstständig bewegen können. Bei uns Menschen zeigt Fuchs an zahlreichen Beispielen, dass das Gedächtnis „inkorporiert“ ist, also nicht etwa von einzelnen Organen wie dem Gehirn, sondern vom ganzen Organismus getragen wird. Ein Pianist zum Beispiel hat ein „Fingergedächtnis“, und sein impliziertes Können liegt nach jahrelangem Üben besonders „in den Händen“, aber eben nicht nur dort. Könnte man sagen, dass er sich dank des Übens, mit dem sein Können buchstäblich in Fleisch und Blut überging, ein wenig wie ein Insekt verhält? Sollten seine Glieder jetzt nicht ebenfalls eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber dem übrigen Organismus besitzen, dürften wir das automatenhafte Tun und Treiben der Insekten also mit unserem unbewussten Verhalten vergleichen?
Wie aktuell die in diesem Buch vertretenen Einsichten sind, lässt sich an der Diskussion der deutschen Bildungspolitik in Zeiten von Corona erkennen. Von allen möglichen Seiten wird als die Lösung aller Probleme die Digitalisierung, also der Unterricht vor einem Bildschirm empfohlen, aber tatsächlich sollten Lernen, soziale Interaktion und körperliche Bewegung immer gekoppelt sein – und vor einem Bildschirm sind sie es ganz gewiss nicht. Viktor von Weizsäcker hat in seiner Theorie über den Gestaltkreis gezeigt, dass Wahrnehmung und Bewegung miteinander verknüpft sind, und ihre Trennung, die Verwandlung eines Lernenden in einen stillsitzenden Dulder kann nicht ohne Konsequenzen sehr weitgehender Art bleiben.
Eine für Fuchs‘ Argumentation zentrale Einsicht ist die Erkenntnis Helmuth Plessners aus seinen „Stufen des Organischen“ (1929), dass wir einen Leib und einen Körper haben. Plessner spricht vom „Doppelaspekt“, der den Menschen auszeichne, und es gelingt ihm, in seinem Werk das Paradoxe des menschlichen Verhältnisses zu seiner Umwelt zu beschreiben. Es zeichne den Menschen aus, dass er seine „Immanenz“ (also doch eigentlich sich selbst) auf dem Umweg über seine sinnliche Wahrnehmung entdecke. Er erlebt sich selbst als Leib, kann sich aber noch zusätzlich von außen betrachten und damit in ein Objekt verwandeln.
Den ersten und noch den zweiten Teil des Buches von Fuchs kann man als eine gute Einführung in die philosophische Anthropologie nehmen, also in eine der fruchtbarsten philosophischen Richtungen des 20. Jahrhunderts. Man muss nicht mit allem einverstanden sein – ich finde es zum Beispiel fragwürdig, dass Fuchs Kant als einen idealistischen Philosophen hinstellt –, aber in seiner Grundtendenz ist dem Autor unbedingt zuzustimmen. Dabei ist seine Perspektive immer eine doppelte; einerseits, weil er im Sinne von Plessner und anderen den Doppelaspekt von Leib und Körper thematisiert – die Innenperspektive des Erlebens wird durch den objektiven Blick von außen ergänzt –, zusätzlich, weil er als sowohl als Naturphilosoph wie auch als praktischer Arzt argumentiert. Im siebten und letzten Kapitel – „Konsequenzen für die psychologische Medizin“ – findet sich diese doppelte Perspektive noch einmal in konzentrierter Form aus der Sicht eines Psychiaters dargestellt.
Dem Buch sind viele Leser zu wünschen.
Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan.
Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. 6., erweiterte und aktualisierte Auflage
Kohlhammer 2021
371 Seiten
ISBN: 978-3170394643
Weitere Informationen und Leseprobe (Shop Kohlhammer)
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