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Mit seinem Roman „Das verlorene Paradies“ (Originaltitel: „Paradise“, 1994, Übersetzung: Inge Leipold) gelang Abdulrazak Gurnah aus Sansibar der Durchbruch auf dem Internationalen Buchmarkt.

Es ist daher zu Recht auch das erste Buch, das nach der Nobelpreisverleihung an den Schriftsteller in deutscher Sprache wieder aufgelegt wurde. Inzwischen hat der Penguin Verlag mit „Ferne Gestade“ (Originaltitel: „By The Sea“, Übersetzung: Thomas Brückner) ein weiteres Buch des Literaturnobelpreisträgers von 2021 in deutscher Sprache veröffentlicht.

Im zweiten Fall erleben wir Leser die verschlungene Lebens- und Fluchtgeschichte zweier Menschen aus Sansibar. Auch sie haben wie der zwölfjährige Yusuf das Paradies verloren. Was die Protagonisten beider Bücher vereint, ist die vielleicht vergebliche Hoffnung, das verlorene Paradies irgendwann irgendwo wiederzufinden.

 

Unter Einfluss der Eindrücke brutaler deutscher Kolonialherrschaft und des Ersten Weltkrieges in Deutsch-Ostafrika erzählt Gurnah in seinen Büchern von der Geschichte seiner alten Heimat Sansibar, von der neuen Heimat England, von einfachen Menschen. Im Roman „Das verlorene Paradies“ begleiten wir den zwölfjährigen Yusuf, der zu Beginn des Romans Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner Familie ein einfaches Leben auf dem Lande führt. Es ist die Zeit der Dürre, „in der ein Tag war wie der andere. Unvermutete Blumen blühten auf und welkten. Seltsame Insekten flüchteten aus ihrem Versteck unter Felsbrocken und wanden und krümmten sich in dem glühend heißen Licht, bis sie starben.“ So schön, so anschaulich und bedrohlich werden Natur, Umgebung und kleine Geschehnisse des Tages beschrieben. Und so ahnen wir, was an diesem Tag geschehen wird: Das einfache, dennoch schöne Leben im Schoß der Familie wird jäh und kompromisslos ein Ende haben. Wir können auch ahnen: Kompromisslosigkeit ist das, was das Gesamtwerk dieses Autors ausmacht, wofür er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.

 

Gurnah Das verlorene Paradies COVER„Kompromisslos und mit großem Mitgefühl durchdringt er in seinen Werken die Auswirkungen des Kolonialismus in Ostafrika und seine Auswirkungen auf das Leben entwurzelter und migrierender Menschen“, so Anders Olsson, Vorsitzender des Nobelkomitees anlässlich der Preisverleihung an Abdulrazak Gurnah. Dieser sei einer der herausragendsten postkolonialen Schriftsteller der Welt, dessen großes Thema die Vertreibung ist. Ein Thema, das der Autor selbst erleben musste. 1964 sah er sich nach einer Revolution auf Sansibar (heute zu Tansania gehörig) gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Seitdem lebt der 1948 geborene Gurnah in Großbritannien. Mit 21 Jahren begann er zu schreiben, die erste Erzählung „Memory of Departure“ veröffentlichte er 1987. Inzwischen sind zehn Romane erschienen, fünf seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Die meisten sind leider vergriffen und noch nicht wieder aufgelegt worden. Anders „Das verlorene Paradies“, das nun wieder auf Deutsch zu haben ist. Vorweggesagt: Es ist kein leicht zu lesendes Buch, aber ein höchst lesenswertes. Auch deshalb, weil es unseren Horizont erweitert, wir uns mit Hilfe des Buches Themen, Zuständen und Situationen nähern, die nicht zu unserem Umfeld, geschweige denn zu unserem Alltag gehören.

 

Zu Beginn erfahren wir, Yusufs Vater hat sich mit seinem kleinen Hotel, „ein Speisehaus mit vier sauberen Betten in einem Raum im Obergeschoss“ verschuldet. Weil das so ist, wird Yusuf als Pfand (rehani) in die Hände von Onkel Aziz gegeben. „Onkel Aziz verströmte einen ungewöhnlichen Geruch, ein Gemisch aus dem Duft nach Fellen und Parfum und Harzen und Gewürzen und einem anderen, nicht so einfach zu bestimmenden Geruch, der in Yusuf ein Gefühl von Gefahr aufkommen ließ.“ Da ist sie wieder, die drohende Gefahr… Kurzum: Onkel Aziz nimmt Yusuf mit. Yusuf landet im lebhaften Treiben der Stadt, zwischen afrikanischen Muslimen, christlichen Missionaren und indischen Geldverleihern. Eine Gemeinschaft wie diese ist alles andere als selbstverständlich und wird von subtilen Hierarchien bestimmt.

Yusuf hilft zunächst in Aziz‘ Laden sowie bei der Pflege dessen paradiesisch anmutenden Gartens. Doch als der Kaufmann ihn auf eine Karawanenreise ins Landesinnere mitnimmt, endet Yusufs Jugend jäh. Eine gefährliche Unternehmung, die Krankheit und Tod mit sich bringt und schmerzhaft beweist, dass die traditionelle Art des Handels keine Zukunft mehr hat. Der große Boss, das ist jetzt der Deutsche. So jedenfalls erklärt Sultan Chatu Kaufmann Aziz die Lage, als dieser vergeblich versucht, Handel mit ihm zu treiben. „Man sagt, der Deutsche hat einen Kopf aus Eisen. Ist das wahr? Und er hat Waffen, die mit einem Schlag eine ganze Stadt zerstören können.“ Mit einem solchen Boss will sich wahrlich niemand - auch ein Sultan nicht, Schwierigkeiten einhandeln.

 

Was Yusuf alles auf seiner noch jungen (Lebens-)Reise erlebt, lässt ihn erwachsen werden. Menschliche und tierische Feinde lauern zwar überall, überall aber gewinnt „der wunderschöne junge Mann“ auch Freunde. So gleich zu Beginn des Buches den Bettler Mohammed, „ein ausgezehrter Mann mit schriller Stimme, der nach verdorbenem Fleisch stank“, wenig später den 17jährigen Khalil, der im Laden von Onkel Aziz Yusufs neuer Lehrer wird und „sehr mager und sehr zappelig“ ist. Er lernt den Gärtner Hamdani kennen, dessen Helfer Yusuf – wenn auch ungefragt –nur allzu gerne wird. Auf diese Weise kommt er seinem Paradies, das rund um das Haus seines Onkels Aziz angelegt und gelegen ist, nahe. Später lernen wir auch Ladenbesitzer Hamid kennen, dessen Garten allerdings alles andere als ein Paradiesgarten ist und aus dem sich trotz aller Bemühungen auch kein solcher herstellen lässt. „Du wirst dich an das Gestrüpp und die Schlangen gewöhnen und einfach weiter von deinem Paradiesgarten träumen“, sagt Hamids Frau Maimuna unter „höhnischem Triumphgeheul“. Wir erfahren von der Mistress, die in Aziz Haus lebt, die unsichtbar und unnahbar zu sein scheint, nach der Yusuf nicht fragen darf und die er dennoch kennenlernt.

 

Nach ersten zaghaften Liebesgesuchen und Erfahrungen verliebt sich der junge Mann nach seiner Heimkehr erstmals stürmisch. Aber er wird ebenso wie alle um ihn herum brutal mit der neuen Realität der deutschen Kolonialherrschaft konfrontiert. Hier kommen zu schlechter Letzt wieder die Europäer ins Spiel, insbesondere die Deutschen. Angekündigt wurden sie schon mehrfach. Und immer negativ. So heißt es gleich zu Beginn des Romans, „Yusuf hatte gehört, die Deutschen erhängten die Leute, wenn sie nicht hart genug arbeiteten. Wenn sie zu jung waren, um sie zu hängen, schnitt man ihnen die Hoden ab.“ Und von den Europäern steht dort geschrieben: „Diese Europäer sind wild entschlossen, und bei ihrem Streit um die Reichtümer der Erde werden sie uns alle zermalmen. Ein Narr, der glaubt, sie seien hier, um irgendwie etwas Gutes zu tun.“

Die Kaufleute sind rasch eingeschüchtert von der Wildheit und Rücksichtslosigkeit der Europäer, von denen es im Roman heißt, „Sie nehmen sich das beste Land, ohne auch nur eine Glasperle dafür zu bezahlen […]Als Erstes bauen sie ein Gefängnis, dann eine Kirche, dann einen Verschlag auf dem Markt, um den Kauf und Verkauf im Auge behalten und dann besteuern zu können. Und das noch bevor sie ein Haus für sich selbst bauen […].“ Ihre Spucke soll sogar so giftig sein, dass sie das Fleisch des Bespuckten verbrenne. Wahrlich keine schöne Vorstellung, kein schönes Bild. Schön hingegen sind Träume wie diese: „Ist der Gedanke nicht wohltuend, dass es im Paradies so sein wird?“, fragt Hamid, während er es sich mit Yusuf und Kalasinga auf einem Plätzchen bequem macht, „von wo aus er den Himmel sehen konnte“. Hier bereiten sie sich gemeinsam auf das Schlafen unter freiem Himmel vor. „Wasserfälle, die schöner sind als alles, was wir uns ausmalen können. Schöner sogar als dieser, kannst du dir das vorstellen?“ fragt Hamid. Ja, auch wir Leser sind dazu in der Lage. Trotz allem.


Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies

Roman. Aus dem Englischen von Inge Leipold

Originaltitel: Paradise

Penguin Verlag

Hardcover mit Schutzumschlag, 336 Seiten

ISBN: 978-3-328-60258-3

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