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Was geht in einem Menschen vor, der zu etwas durchgestoßen ist, das alles ändert: seine politische Einstellung, seinen Glauben, seine große Liebe? Wie vollziehen sich solche „ruckweisen Horizont-Erweiterungen“?

Das sind die Fragen, mit denen sich Lenz Prütting beschäftigt, ein langgedienter Theatermann, Theoretiker des Lachens und nicht allein in der Literatur beschlagener Autor.

 

Wie stellen sich radikale Brüche im Leben eines Menschen dar? Wie kommt es zu einem plötzlich auftauchenden „Das isses!“, wie der Autor das Evidenzgefühl zusammenfasst? Insbesondere geht es in diesem mit Kurzbiographien gesättigten Buch um Bekehrungen – solche religiöser, aber auch politischer Natur. Um das Wesentliche solcher Kehrtwendungen herausfiltern zu können, greift Prütting auf die Lebensgeschichten sehr großer Menschen zurück (zum Beispiel Paulus, Augustinus, Martin Luther), manchmal auch auf die Autobiographien etwas weniger großer Menschen (André Gide, Erich Honecker, Arthur Koestler), gelegentlich sogar auf die Schicksale von Menschen, die vom Wahn erfasst wurden. Schließlich geht es in einer phänomenologischen Untersuchung nicht um die Wahrheit solcher Erlebnisse, sondern darum, in welcher Weise wir diese erleben. Mit der Hilfe von Beschreibungen von Brüchen, Bekehrungen und Entdeckungen sollen die konstitutiven Elemente von Gewissheitserlebnissen herausgefiltert werden.

 

Es lässt sich nicht umgehen, vorab auf die philosophischen Überzeugungen des Autors einzugehen, deren Erläuterung er in Teil I seiner Arbeit („Grundlegungen“) vorausschickt. Bereits sein großes Werk „Homo ridens“ – eine Untersuchung des Lachens – ist von diesen Überlegungen bestimmt, und auch im Eingang des mit „Das isses!“ eng verwandten, ebenfalls 2021 erschienenen Buches „Der kreative Impuls“ stellt er seinen grundsätzlichen Ansatz vor.

 

Dessen wichtigstes Element ist die „Widerfahrnis“, ein Wort, das man leicht mit „Schicksal“ übersetzen könnte, denn es meint ja das, was einem zustößt, ohne dass man dem selbst Vorschub geleistet hätte. Widerfahrnis ist eben das, was einem passiert, was uns widerfährt – eine Pandemie wäre ein Exempel. Alle natürlichen Vorgänge gehören dazu, angefangen mit dem Schlaf oder dem Tod über das Wetter bis hin zu Naturkatastrophen. Aber auch Sinn- oder grundlose Verliebtheit in eine möglicherweise sogar ganz reizlose Person kann einem widerfahren. Beispiele fand Prütting im Werk von Goethe und Gottfried Benn oder, für mich besonders interessant, Arno Schmidt, der als schlesischer Schuljunge in ein Mädchen namens Johanna Wolff verliebt war, ohne sie auch nur einmal anzusprechen („ich hatte michnich 1=einzijes Mal getraut sie auch nur anzureden!“). Immer wieder taucht sie in Erzählungen Schmidts auf, wobei sie sich, wie Prütting kommentiert, „mit dem zunehmenden Selbsthaß des Autors langsam vom Engel zur Schlampe wandelt“. Einen besonders üblen Auftritt hat sie schließlich in der grotesk-tumultuösen (und sehr lesenswerten!) Erzählung „Caliban über Setebos“. Man könnte hier tatsächlich von einer Besessenheit Schmidts sprechen – eine schülerhafte Verliebtheit, deren Spuren sich bis hinein in sein Spätwerk nachweisen lassen!

 

Den Gedanken der Widerfahrnis und ihrer Bedeutung hat Prütting von seinem Lehrer Wilhelm Kamlah (1905-1976) übernommen, der ihn in seiner „Philosophischen Anthropologie“ von 1972 vorgetragen hat. Für Kamlah ist der Mensch ebenso ein leidendes wie ein tätiges Wesen. Seinen Überlegungen zufolge sind wir zunächst antwortende Wesen, solche, die aufmerksam umherschauen, entsprechend reagieren und in wechselnden Situationen zurechtfinden und Gelegenheit ergreifen sollten. Man könnte von einer Ethik der gesteigerten Aufmerksamkeit und des unverstellten Blicks sprechen, die eine Konsequenz dieser Annahmen sein muss. Ein wenig erinnert das an José Ortega y Gassets, also eines Stubenhockers und Stadtmenschen, berühmten Essay über den Jäger („Meditation über die Jagd“), in dem der sich während seiner Pirschgänge aufmerksam umblickende, auf alles gefasste Jäger zum Symbol des Philosophen wird.

 

Lent Pruetting Buchcover

Buchcover. © Verlag Königshausen & Neumann

 

Prütting stellt aber nicht diese möglichen Konsequenzen in den Vordergrund, sondern wendet sich zunächst und vor allem gegen die „Ideologie des tatenfreudigen Aktivismus“, die er unter anderem im „Faust“ dargestellt findet, und kommt sodann auf Goethes Begriff des „Aperçu“ zu sprechen, das in unserem Sprachgebrauch ja meist nur eine geistvolle Bemerkung meint („ein uneigentlich gemeintes Gleichnis zur Verdeutlichung“ nennt es Viktor von Weizsäcker), aber von Goethe ganz anders gemeint war. Goethe verstand darunter nämlich ein „Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt“, und in seinen „Maximen und Reflexionen“ beschreibt er es als eine „sich entwickelnde Offenbarung“, als die „Betätigung eines originellen Wahrheitsgefühles, das […] unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt.“ Damit sind die beiden Momente angesprochen, auf die es Prütting ankommt: das Wahrheitsgefühl (die Evidenz) und die Plötzlichkeit, mit der die Gewissheit einen Menschen überfällt. Manchmal heißt es dann auch „Einfall“ – das ist ein Begriff, den Prütting wohl bevorzugt und auf den er vor allem in dem wenige Monate vor „Das isses!“ erschienenen „Der kreative Impuls“ immer wieder zurückgreift, um nicht in eine theologische Sprache zu geraten, wie es bei „Inspiration“ ja sehr leicht geschieht.

 

Das zuerst erschienene Buch ist einerseits dem Moment der künstlerischen Eingebung gewidmet, andererseits behandelt es das Problem der Werktreue. Entschieden wendet sich Prütting gegen die von Platon in seinem Dialog „Ion“ vertretene Inspirationstheorie, nach der es eine „magnetische Kette“ gibt; sie beginnt bei dem Gott, der dem Dichter wie auch später dem Rhapsoden das Gedicht eingibt, und endet beim Hörer, bei dem trotz mehrerer Zwischenstationen alles so ankommt – also ganz unverfälscht –, wie es der Gott dem Dichter eingab.

 

Werktreue ist in unseren Tagen, in denen es gelegentlich sehr freie, ganz oder fast ganz vom Text abgelöste Inszenierungen gibt, ein wichtiges Thema, mit dem man insbesondere konservative Theatergänger leicht provozieren kann. In diesem Buch wird die Problematik insofern geklärt, als der Autor die verschiedenen Phasen von Produktion, Bearbeitung und Aufnahme eines performativen Textes unterscheidet. Schon vorab zeigt er – unter anderem in der Analyse der Theatersprache –, worin die Kreativität bei der Inszenierung eines Stücks tatsächlich gründet. Hierbei greift er besonders auf Einsichten der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz und dessen Begriff der „Einleibung“ zurück und stellt außerdem Funktion und Notwendigkeit der Zusammenarbeit dar – und natürlich, damit verbunden, die Notwendigkeit einer Offenheit für Ideen, die nicht die eigenen sind.

 

Zurück zum Aperçu! Im Grunde – und das werden die Bewunderer Goethes vielleicht nicht gerne hören – deutet seine Beschreibung des Aperçus auf dessen Ähnlichkeit mit einem mystischen Erlebnis hin: Plötzlich weiß man Bescheid (und es kommt Prütting auf die Plötzlichkeit an), von einem Augenblick zum nächsten ist man sich seiner Sache ganz sicher. Und noch ein Zweites, und wiederum etwas, worüber Goethe erzürnt gewesen wäre, weil er sich selbst als Realisten sah und der Metaphysik kritisch bis ablehnend gegenüberstand: Wenn es einem (mit den Worten des Olympiers) um das zu tun ist, „was den Erscheinungen zum Grunde liegt“, treibt man dann nicht Metaphysik? Gerade dann?

 

Der ganzen kulturkritischen Argumentation Prüttings liegt eine ethische Haltung zugrunde, die vom Autor eher beiläufig thematisiert wird und vor allem in den Kommentaren zum Verhalten der behandelten Personen erscheint. Aus allen Überlegungen Prüttings sollte die Forderung resultieren, eine Gelegenheit zu erkennen und zu ergreifen. Diese Forderung ist implizit im Begriff des Aperçus enthalten: Man muss den Augenblick wahrnehmen, aber das ist bereits wegen der Plötzlichkeit der Erlebnisse selbstredend nicht immer leicht. Und wegen der eigenen Beschränktheiten…

 

Das Buch über den „Kreativen Impuls“ sollte insbesondere für jene Leser interessant sein, die sich – als Besucher oder als Fachleute – gedanklich mit der Inszenierung von Stücken beschäftigen, aber es bietet auch allerlei zur Geschichte der antiken Ästhetik, also dem Begriff der „Poiesis“, in dem sich Hand und Kopf verbunden sahen, oder zur kritischen Behandlung des „Ion“-Dialoges. In diesem Buch griff Prütting auch auf ältere Texte zurück, so dass es einen weniger geschlossenen Eindruck hinterlässt als das systematisch argumentierende „Das isses!“, das eine beeindruckende Kasuistik von Gewissheitserlebnissen bietet und obendrein, weil es ja immer wieder auf Biographien zurückgreift, eine Fülle von Lektüreanregungen bietet.

Beide Bücher genügen allen akademischen Standards, aber sie bieten zugleich etwas mehr: Sie helfen uns, unser Leben zu verstehen, insbesondere das Verhältnis von Leib und Geist zu überdenken


Lenz Prütting: Das isses! Studien zur Phänomenologie von Gewißheits-Erlebnissen

Königshausen & Neumann 2021

496 Seiten

ISBN 978-3826073656

Weitere Informationen

 

Lenz Prütting: Der kreative Impuls. Studien zur Phänomenologie der Kreativität

Königshausen & Neumann 2021.

428 Seiten

ISBN 978-3826070013

Weitere Informationen

 

Auch bei KulturPort.De zu lesen: Lenz Prütting: Homo ridens. Geschrieben von Stefan Diebitz

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