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Was ist in unserer Zeit umstrittener als der Islam? Vielen gilt diese Religion als der Ursprung eines fanatischen und irrationalen Terrors, und der übergroßen Mehrheit auch der gebildeten Europäer ist bereits die arabische Schrift fremd und unzugänglich – und damit fehlt ihnen (fehlt mir…) jede Möglichkeit einer näheren Beschäftigung mit einer Kultur, die einen großen Teil der Welt und immer mehr auch Teile unserer Städte bestimmt.

Umso wichtiger müssen Bücher wie dieses hier sein, das dem Leser in der Gestalt von fünfzehn farbigen Städteporträts eine Geschichte der islamischen Kultur bietet.

 

Das vorrangige Interesse des Buches ist historisch, und so kann es gar nicht anders sein, als dass an seinem Anfang die Geschichte von Mekka steht; und mit der explosiven Ausbreitung des Islam im siebten und achten Jahrhundert folgen mit Damaskus und Bagdad dann die Märchenstädte des Orients. Und so weiter: es sind, von den letzten beiden Städten abgesehen, größtenteils Namen von Traumzielen, denn wer würde nicht einmal gern Isfahan, Fes in Marokko oder das usbekische Samarkand besuchen? Córdoba ist als einzige europäische Stadt dabei, es sei denn, dass man auch Istanbul – das in der Kapitelüberschrift nach seinem ersten Namen Konstantinopel genannt wird – zu Europa zählt. Am Ende folgen dann Städte, die einem nicht zuerst einfallen, wenn man über den Islam und seine Kultur nachdenkt; es sind Kabul, Beirut und schließlich Dubai und Doha.

 

Ausnahmslos alle diese Städteporträts sind außerordentlich interessant zu lesen. Zunächst liegt das an ihrer dramatischen Geschichte, an der Fülle der Kultur, der man dort begegnen kann – fantastische Moscheen und gewaltige Festungen, alte Bibliotheken, wunderbare Gärten oder sensationelle Plätze –, aber auch und vielleicht sogar vor allem an dem erzählerischen Talent des Autors.

 

Islamische Imperien CoverJustin Marozzi ist ein der arabischen Sprache mächtiger englischer Journalist, der in Beirut zur Welt gekommen ist. Viele Jahre hat er in verschiedenen Ecken der islamischen Welt gelebt und gearbeitet und versteht es, sein immenses, teils aus der Anschauung geborenes, teils im Studium der Fachliteratur erarbeitetes Wissen vorzustellen. Langweilig, soviel kann man versprechen, langweilig wird es an keiner Stelle. Das Buch ist, von allen anderen Qualitäten einmal abgesehen, außerordentlich unterhaltend – übrigens auch deshalb, weil Marozzi für jede Stadt eine andere Darstellung gewählt hat.

 

Was weiß der durchschnittliche Mitteleuropäer von der Geschichte des Islam? So ungefähr kennt man die Lebensdaten von Mohammed, und nach dem Tod des Propheten, so heißt es, hat sich der Islam geradezu explosionsartig ausgebreitet. Schließlich musste sogar ein Karl der Große, an dessen historische Existenz auch nicht mehr alle glauben, in Nordspanien gegen die Muslime kämpfen. Vielleicht die einzige kritische Frage, die ich an dieses Buch habe, betrifft die Treuherzigkeit, mit der Marozzi der offiziellen islamischen Geschichtsschreibung folgt, die heute von vielen Fachleuten angegriffen wird. Das gilt bereits (oder sogar besonders) für Mekka und dann für die Geschichte des Koran, aber auch für die Eroberung Spaniens.

 

In seinen späteren Kapiteln aber kann dieses Buch als Repertorium der islamischen Geschichte dienen, ergänzt mit zahllosen farbigen Einzelheiten. Dass man viele Namen wieder vergisst – geschenkt. Das kann wohl gar nicht anders sein, und es machte auch keinen Sinn, die Namen längst vergangener Gewaltherrscher und Städtegründer aufzuzählen. Manche sollte man natürlich kennen, wie zum Beispiel Tamerlan (Timur Lenk oder Timur der Schreckliche), einen der blutrünstigsten Eroberer aller Zeiten und doch verantwortlich für die Gründung einer der schönsten Städte der Welt, für das sagenhafte Samarkand.

 

Das Samarkand-Kapitel befindet sich in der Mitte des Buches. Während meist die Geschichte der Städte erzählt wird, handelt es sich hier allein um die Geschichte Tamerlans, um seine Liebe zu einem Ort, der vor und nach ihm keine Geschichte zu haben scheint, wenn man dem Erzähler trauen darf. Samarkand nach Tamerlan wird nur in wenigen Sätzen berührt. Noch etwas, das hier fehlt und das überhaupt ein wenig zu kurz kommt, ist die Geschichte der Wissenschaft – Samarkand war nämlich einmal ein Zentrum der Mathematik.

 

Marozzi hat zwar jedes Kapitel gleich angefangen – mit einem poetischen Satz, einer poetischen Zeile –, hat es aber doch jedes Mal anders strukturiert. Das auf Samarkand folgende Kapitel beschreibt ausufernd und sehr detailliert die Eroberung Konstantinopels, um es im letzten Viertel mit einigen Bemerkungen zur Renaissance des Islamismus zu belassen. Die allmähliche kulturelle Umwidmung des zweiten Rom in eine islamische Metropole wird nur ganz oberflächlich berührt, die erst kürzlich erfolgte Rückführung der Hagia Sophia aus einem Museum in eine Moschee allein in einer Endnote kurz angesprochen. Über das griechische Konstantinopel erfährt der Leser wesentlich mehr!

 

Anschließend wird Kabul besprochen, das uns allen als staubiger Trümmerhaufen vor Augen steht. Wer weiß denn, dass der erste islamische Eroberer dieser Stadt, der Timuride Barbur, ein großer Gartenliebhaber war (der „Gärtnerkönig“) und aus der 1.800 Meter hoch gelegenen Stadt ein blühendes Paradies an einem friedlich mäandernden Fluss machte? – Es ist ein wenig schade, dass sowohl indische als auch pakistanische Städte oder das indonesische Jakarta überhaupt nicht behandelt werden – das ist durchaus ein Manko.

Marozzi geht an keiner Stelle auf die Bedeutung der Schrift für Entwicklung und Ausdifferenzierung der arabischen Kultur ein. Stimmt es, dass sich die Schriften von Stadt zu Stadt unterscheiden? Ein generelles Bilderverbot scheint es ja nicht gegeben zu haben, aber als bedeutungsvoller Schmuck der Moscheen spielt die vielfach ineinander geschlungene arabische Schrift eine Rolle, für die es in der europäischen Kultur keine Entsprechung gibt. Und auch die vielen Richtungen des Islam werden nur am Rande erwähnt – so wird zum Beispiel der Islam Mittelasiens, der deutlich weniger puristisch und aggressiv zu sein scheint als der saudische Wahhabitismus, überhaupt nicht behandelt.

 

Anders, als der Titel es verspricht, geht es zwar um Politik, nicht aber um Imperien, sondern einzig und allein um Städte – um sehr große, berühmte und in die ganze Welt ausstrahlende Städte. Die letzten Kapitel behandeln das Piratennest Tripolis sowie die arabischen Metropolen Dubai und Doha, die Hauptstadt von Katar. Besonders im letzten Kapitel wird der Ton des Autors deutlich pessimistischer; hier ist es ihm darum zu tun, dem Leser das sich in einem erschreckenden Tempo vollzogene Wachstum dieser Städte, die noch vor wenigen Jahrzehnten unansehnliche Dörfer waren, zusammen mit dem Verlust der Traditionen oder ihrer Pervertierung vor Augen zu führen.

 

Und Tripolis und Beirut? In beiden Fällen muss man ganz im Gegenteil eine sich über viele Jahrhunderte hinziehende Kontinuität feststellen: Das gilt für die multiethnische und multinationale Metropole Beirut – die Grundlage für ihre Probleme wurde im 19. Jahrhundert gelegt –, aber auch für Tripolis. Denn schon vor einigen hundert Jahren wurden Sklaven aus Zentralafrika durch die Sahara nach Libyen verschleppt und dort verkauft; aber umgekehrt – in norddeutschen Hansestädten weiß man das noch – wurden auch Europäer gekidnappt und anschließend entweder als Sklaven verkauft oder für Erpressungsmanöver benutzt. Was also heute dort geschieht, ist nicht wirklich neu.

 

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Ganz am Ende seines Buches findet sich ein Loblied auf die erstaunliche kulturelle, ethnische und sprachliche Vielfalt jener Städte, die Marozzi uns zuvor in seinen großartigen Porträts vorstellte. Es war ihre Heterogenität, die sie groß und wunderbar gemacht hat, nicht ihre Homogenität – wie es auch heute bei den Metropolen unserer Zeit ist. Wir sprechen mit einem etwas albernen Ausdruck von „Multikulti“, aber es scheint klar, warum die Vielfalt für uns wichtig sein sollte und warum sie es für die hier so lebhaft geschilderten Städte waren. Es waren „ausgesprochen kosmopolitische Schmelztiegel von zwei bis drei abrahamitische Religionen und ein vielschichtiges Mosaik verschiedener Bevölkerungsgruppen“, fasst Marozzi am Ende seines Buches zusammen. Sie waren nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Heterogenität so groß und erfolgreich, denn ihre Energie bezogen sie „aus dieser bunt gemischten Bevölkerung, deren Vielfalt sie förderten.“ Früher waren sie ein buntes Gemisch, jetzt aber scheinen sie zunehmend ihre Freiheit und damit auch ihre Heterogenität und Farbigkeit und damit ihre kulturelle Bedeutung zu verlieren oder bereits verloren zu haben.


Justin Marozzi: Islamische Imperien. Die Geschichte einer Zivilisation in fünfzehn Städten

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Insel Verlag 2020

587 Seiten

ISBN 978-3458178699

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